«Meier contre Suisse»: In Haft gibt es keinen Ruhestand
Gefangene können nicht in Rente gehen. Beat Meier hat deswegen am Europäischen Gerichtshof gegen die Schweiz geklagt. Er bekam nicht recht. Eine hochkarätige Zürcher ExpertInnengruppe findet aber auch, man müsste mit den betagten Gefangenen anders umgehen.
Er sieht aus wie ein Schiffbrüchiger und hat die verzweifelte Hoffnung eines Schiffbrüchigen. Nur dass seine Insel keine Insel, sondern die Strafanstalt Pöschwies ist. Seit Jahren lebt Beat Meier da, am Rand von Regensdorf, zwischen Flughafen Kloten und Baden. Eine hübsche Gegend, aber davon sieht er nichts.
Er steht krumm auf seinen Stock gestützt im Besucherraum. Ein alter, gebrechlicher Mann, der viel raucht. Das riecht man. Aber das ist nicht aussergewöhnlich. Viele rauchen viel im Knast.
Sein Bart und die Haare sind weiss und lang. Er will sie erst schneiden, wenn er rauskommt. Er sagt, dass die Medien fast nur schlecht über ihn berichteten. Der «Blick» nennt ihn immer nur den «Bubenschänder» und publiziert seinen vollen Namen. Er hat nicht mehr viel zu verlieren und steht deshalb mit seinem Namen hin. Meier ist 72 Jahre alt und seit 25 Jahren in Haft. Er wurde wegen sexueller Handlungen mit Kindern und mehrfacher sexueller Nötigung zu vier Jahren und vier Monaten verurteilt. Weil er nicht geständig war, wurde er verwahrt. Denn wer nicht gesteht, gilt als untherapierbar, und das führt zur Verwahrung, die immer wieder verlängert werden kann.
Wenn man den Leuten von Beat Meier erzählt, kommen stets dieselben Fragen: Was hat er genau getan? Wird er es wieder tun? Ist er gefährlich? Keine Ahnung. Es spielt in dieser Geschichte auch gar keine Rolle. Meier hat gegen die Schweiz geklagt, weil er einfordert, was für alle in Freiheit selbstverständlich ist: pensioniert zu werden.
Am 4. März 2011 wurde Meier 65. Einige Monate später stellte er den Antrag, man solle ihn von der Arbeitspflicht befreien. Das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich lehnte den Antrag ab. Meier blitzte auch bei der Justizdirektion und dem Zürcher Verwaltungsgericht ab. Er wollte aber nicht aufgeben und zog den Entscheid ans Bundesgericht weiter.
Wochenlange Sanktionen
Irgendwann hat Meier beschlossen, sich selber zu pensionieren. Es sei ihm psychisch schlecht gegangen, er sei bei der Arbeit gemobbt worden, das sei mit ein Grund gewesen, weshalb er entschieden habe, die Arbeit niederzulegen, sagt er und schaut den Pappbecher mit dem Kaffee an, der vor ihm auf dem Tisch steht. Der Kaffee ist gut. Er kommt aus dem Automaten in der Ecke und kostet nur fünfzig Rappen. Der Raum hat den Charme eines Kirchgemeindehauses. Es gibt noch einen Automaten mit Snacks und Sprudelwasser. Nebenan am Tisch spricht eine ältere Frau mit einem Gefangenen. In der Ecke sitzt ein junges Paar, die Hände ineinander verschlungen. In einem Glaskabäuschen überwacht ein Wärter die Gefangenen und die Gäste. Im Besucherraum ist an diesem Morgen nicht viel los.
Meier ist in der Abteilung Alter und Gesundheit (AGE) untergebracht, eine Spezialabteilung für Häftlinge, die einen gewissen Schonraum benötigten, wie das Amt für Strafvollzug schreibt. In der AGE werden Häftlinge platziert, die psychische Probleme haben, krank oder einfach nur alt sind. Die Abteilung besteht aus zwei Stockwerken und bietet Platz für je fünfzehn Insassen. Aktuell sind dort elf Insassen untergebracht, die über sechzig sind.
Die Mehrheit ist also noch relativ jung. Einige hätten ein Drogenproblem, sagt Meier. Es gebe aber auch Leute, die auf einer anderen Abteilung jemanden verpfiffen hätten und deshalb geschützt werden müssten. Er sei im Moment der Älteste. Auf jeden Fall geht es in der AGE ruhiger zu und her, weniger testosterongeladen als im normalen Strafvollzug.
Meier arbeitet aus gesundheitlichen Gründen nur fünfzig Prozent. In der AGE-Werkstätte bastelt er aus Tannzapfen Tierchen oder schleift Figuren, die aus altem Palettenholz gefräst wurden. Langweilige Arbeit, sagt er.
Die Gefängnisleitung fand es damals überhaupt nicht lustig, als Meier sich selber in den Ruhestand versetzte und nicht mehr zur Arbeit ging. Sie erliess eine Disziplinarverfügung. Darin stand, dass er in seine Zelle eingeschlossen werde, wenn er nicht arbeite. Die Zellentür wurde nur einmal pro Tag für eine Stunde geöffnet. Fernseher und Computer nahmen sie ihm weg. Auch durfte er nur noch beschränkt mit Mithäftlingen reden.
Die Sanktionen dauerten mehrere Wochen. Dann erlaubte man ihm, bis zum Entscheid des Bundesgerichts der Arbeit fernzubleiben. Im Sommer 2013 hat das Bundesgericht seine Beschwerde abgewiesen. Seither arbeitet Meier wieder.
«Haftschäden» vermeiden
In seinem Urteil schreibt das oberste Schweizer Gericht, die Arbeitspflicht diene dazu, «die Personen zu beschäftigen, deren Alltag zu strukturieren sowie den geordneten Anstaltsbetrieb zu gewährleisten». Bei älteren Gefangenen diene die Arbeit auch dazu, «Haftschäden wie Vereinsamung sowie physische und psychische Degeneration zu vermeiden».
Meier lacht, wenn er davon hört. Ihm werde sicher nicht langweilig. Er könne seinen Alltag gut selber strukturieren. Er sagt, er schreibe an einem autobiografischen Buch und arbeite für den Selbsthilfeverein Fair-wahrt?, den er vor einigen Jahren gegründet hat (siehe WOZ Nr. 7/2017 ).
Meier zieht den Entscheid des Bundesgerichts an den Europäischen Gerichtshof nach Strassburg weiter, weil er seiner Meinung nach Zwangsarbeit leisten muss und das gegen die Menschenrechtskonvention (EMRK) verstosse.
Der Zürcher Rechtsanwalt Bernard Rambert schreibt für Meier die Beschwerde. Detailliert legt er darin dar, warum auch Häftlinge einen Anspruch auf den Ruhstand haben (vgl. «Verbot der Zwangsarbeit» im Anschluss an diesen Text).
In Europa ist die Arbeitspflicht in den Gefängnissen sehr unterschiedlich geregelt. In Frankreich gibt es zum Beispiel grundsätzlich keine Arbeitspflicht. Vielmehr gilt das umgekehrte Prinzip: Will ein Häftling arbeiten, hat er Anspruch auf eine Beschäftigungsmöglichkeit. In Deutschland kennt man die Arbeitspflicht, aber nur für Gefangene, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben. In der Schweiz ist diese Frage nicht explizit geregelt, was dazu führt, dass in den Gefängnissen alle arbeiten müssen, bis sie entlassen werden, der Gefängnisarzt ihnen Arbeitsunfähigkeit attestiert oder sie tot umfallen.
Der Europäische Gerichtshof hat Anfang 2014 die Abweisung der Klage beschlossen. Die Richter zweifelten zwar nicht daran, dass Meier Zwangs- respektive Pflichtarbeit leisten muss – weil «er sich für die Arbeit nicht freiwillig zur Verfügung gestellt» hat und weil er «unter Androhung irgendeiner Strafe» genötigt wird, sie zu erledigen. Das Gericht ist aber auch der Meinung, dass die Arbeit ihm angepasst sei, da er nur drei Stunden pro Tag arbeiten muss.
Im Urteil wird eine aufschlussreiche Studie zitiert: In sechzehn Europaratsmitgliedstaaten, die die EMRK ratifiziert haben, werden Häftlinge im Rentenalter nicht gezwungen zu arbeiten. In zwölf Staaten ist die Frage – so wie in der Schweiz – nicht klar geregelt. Aus diesem Grund verurteilt der Europäische Gerichtshof die Schweiz nicht, da er sich nicht verpflichtet fühle, diese Frage endgültig zu beantworten.
Klagen ist teuer
Beat Meier arbeitet nun also weiterhin in der Werkstätte. Er verdient 23 Franken pro Tag. Sie haben ihm den Lohn kürzlich um einen Franken gekürzt. Warum, wisse er nicht, sagt er. Daneben erhält er noch die AHV von 865 Franken im Monat. Das reiche, um im Gefängniskiosk einzukaufen sowie die Telefonkosten und seine private Psychotherapeutin zu bezahlen.
Meiers Brille ist mit Araldit zusammengeklebt. Er könnte einen Antrag für eine neue Brille stellen, doch das will er nicht. Er fürchtet, er müsste dann die Brille selber bezahlen. Meier verfügt nämlich über ein kleines Vermögen.
Als ehemaliges Verdingkind hat er kürzlich vom Bund – wie alle Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – eine Entschädigung von 25 000 Franken erhalten. Damit werde er seine Schulden bezahlen, sagt er. Denn der Gang nach Strassburg ist teuer, selbst wenn ein Anwalt den tiefsten Sozialtarif ansetzt. Meier hatte sich das Geld von verschiedenen Leuten geborgt. Das will er jetzt zurückzahlen. Zudem möchte er, dass seine Verwahrung aufgehoben wird. Vor dem Zürcher Obergericht ist er kürzlich mit einem entsprechenden Revisionsgesuch gescheitert. Falls er dieses Verfahren bis nach Strassburg durchzieht, dürfte es um die 50 000 Franken kosten.
Beat Meier offeriert noch einen Kaffee aus dem Automaten und schildert, wie sein Alltag aussieht. Um 7 Uhr müssen sie aufstehen, die Zellentür wird geöffnet, das Frühstück kommt. Um 8 beginnt die Arbeit in der AGE-Werkstätte. Er arbeitet am Morgen dreieinhalb Stunden, inklusive Pause. Kurz vor 17 Uhr kommt das Nachtessen, an den Wochenenden früher. Über Mittag gibt es eine gute Stunde Hofgangzeit.
Um 19.30 Uhr werden die Häftlinge dann in die Zellen gesperrt. Das sei für ihn immer der schlimmste Moment, wenn die Zellentür geschlossen werde. Er müsse immer gegen ein obskures unterschwelliges Gefühl ankämpfen, es könnte ihm in dieser Lage etwas passieren, dem er nicht entrinnen könne. Er leide unter einer diagnostizierten Klaustrophobie, sagt er, und wünscht sich eine Zellentür, die er von innen ver- und entriegeln kann, was in der Pöschwies nie möglich sein wird.
Je älter man werde, desto mehr fürchte man sich im Gefängnis vor dem Verlust der geistigen Fähigkeiten. «Das ist ja die einzige Freiheit, die einem als Gefangenem noch bleibt.» Er hat sich deshalb Anfang Jahr vorgenommen, die Matura nachzuholen. Bei der Privatschule Akad ist das möglich. Die Akad bemüht sich auch immer wieder, Gefangenen dabei zu helfen, die Matura zu absolvieren.
Am Anfang sah es so aus, als ob Beat Meier aus der Pöschwies heraus alles organisieren könnte. Er hatte das Geld beieinander und von der Akad eine schriftliche Zusage. Am Ende scheiterte es aber daran, dass er keinen Zugang zum Internet hat. Meier hatte zwar draussen einen Bekannten, der das Material für ihn ausgedruckt und ins Gefängnis geschickt hätte. Aus Sicht der Akad war das Prozedere dann aber doch zu kompliziert, weshalb der Rektor Meier wieder absagte. Für ihn eine grosse Enttäuschung. Die Gefängnisleitung sah sich auch nicht verpflichtet, ihm seinen Bildungswunsch zu erfüllen. Juristisch lief alles korrekt ab, doch fair ist es nicht.
Unfaires Haftregime
Das harte Strafregime, dem Beat Meier unterworfen ist, hat er eigentlich nicht verdient. Seine Strafe hat er real bereits mehrfach verbüsst. Als Verwahrter ist er nur noch im Gefängnis, weil man die Bevölkerung präventiv vor ihm schützen will. Er sollte dann aber die Möglichkeit erhalten, hinter Gitter ein annähernd normales Leben zu führen. Dem ist nicht so. Wie alle Strafgefangenen darf er pro Monat nur während sieben Stunden Besuch empfangen und während 160 Minuten telefonieren.
Im Normalvollzug habe man mehr Freiraum als auf seiner Abteilung. Da gebe es ein breiteres Freizeitangebot und mehr Möglichkeiten, Sport zu treiben, sagt er.
Meier zieht ein Papier aus einer grünen Mappe, die er in den Besucherraum mitgebracht hat. Das Papier trägt den Titel «Alt werden im Justizvollzug». Es ist ein Bericht, der vor vier Jahren im Auftrag des Zürcher Amts für Justizvollzug verfasst wurde. Unter den AutorInnen sind zwei ehemalige Gefängnisdirektoren, ein Seelsorger, ein Arzt, ein Jurist, eine Psychologin, eine Sozialarbeiterin – alle haben Gefängniserfahrung. Im Bericht finden sich erstaunliche Sätze: «Aufgrund der öffentlichen Forderung nach hundertprozentiger Sicherheit sehen sich die Vollzugsbehörden seit einigen Jahren veranlasst, Sexual- und Gewaltstraftäter, die ihre Delikte vor zehn, zwanzig oder mehr Jahren begangen haben und unterdessen, physisch und psychisch gebrochen, alt geworden sind, generell im geschlossenen Vollzug zurückzubehalten.» Und weiter: «Die Projektgruppe vertritt die Auffassung, dass ein grösserer Teil dieser vollzugsbedingt vorgealterten Menschen ein Vollzugsregime benötigt, welches weniger durch umfassende Aufsicht als durch altersgerechte Betreuung und Pflege geprägt ist.»
Meier weiss genau, dass sie über Leute wie ihn schreiben. Der Bericht geht sogar explizit auf den Bundesgerichtsentscheid ein, den er erwirkt hat. Auch die Furcht vor der abgesperrten Zelle wird thematisiert. «Je länger die Einschlusszeiten angesetzt sind, je grösser ist die Strafempfindlichkeit der Gefangenen», steht im Papier. «Die Strafempfindlichkeit äussert sich unter anderem in psychischen und physischen Krankheitssymptomen, die mit Medikamenten reguliert werden müssen.»
Mehr Platz, weniger Einschluss
Die Projektgruppe fordert, dass die Senioren die Tagesstruktur mitbestimmen können: «Gemeinsam werden Lösungen für anstehende Probleme gesucht. Der Senior soll möglichst keine negativen Erfahrungen machen, so dass sein Selbstkonzept positiv verändert werden kann.»
Meier hat den Bericht genau gelesen. Alles, was er wichtig und richtig findet, ist gelb angestrichen. Alles, was in seiner Abteilung schon umgesetzt wurde, grün. Das Papier leuchtet auf den meisten Seiten gelb. Grün gibt es kaum.
Er darf seine Kopie nicht mitgeben. Und die Besuchszeit reicht nicht, um alles durchzugehen. «Lesen Sie es selbst, Sie werden verstehen, was ich meine», sagt Meier. Es gebe alle zwei Wochen Tiertherapie. Da komme jemand mit einem Hund. Das sei toll, reiche aber nicht, weil nur wenige dabei sein könnten.
Fragen, wie weit man denn das Papier der Arbeitsgruppe umgesetzt habe, werden vom Amt für Justizvollzug per Mail beantwortet: «Unsere Gefangenen auf der AGE profitieren schon heute von verschiedenen Empfehlungen aus dem erwähnten Bericht ‹Alt werden im Justizvollzug›.» Das Konzept der AGE sei speziell darauf ausgerichtet, dem physischen und psychischen Gesundheitszustand Rechnung zu tragen: «Die Mitarbeitenden achten darauf, den teilweise zunehmend vereinsamten Gefangenen ein menschliches Umfeld und eine ‹Heimat› zu bieten und der eingeschränkten Mobilität wird mit Handläufen, Griffen und einem Lift entgegengewirkt.» Die Zellenöffnungszeiten seien grosszügiger als im Normalvollzug.
Der Bericht fordert aber weit mehr: grössere Zellen, gemeinsames Kochen und nachts keinen Einschluss mehr. «Nicht das Strafende und das Abschreckende, sondern das Bewahrende und das Beschützende sollen die Leitelemente der Konzeption sein», verlangt die Projektgruppe.
In der Pöschwies wird das nie machbar sein. Weil die Anlage als Strafanstalt gebaut wurde. Sie lässt sich nicht in ein sicheres Heim für alte Menschen umbauen, die man weghaben will, weil sich die Gesellschaft vor ihnen fürchtet, obwohl sie körperlich gar nicht mehr in der Lage sind, gefährlich zu sein.
Artikel 4 EMRK : «Verbot der Zwangsarbeit»
Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht für das «Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit». Doch schon bevor es die EMRK gab, hatte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 1930 ein Übereinkommen verabschiedet, das Zwangsarbeitet verbietet. Allerdings ist darin – wie auch in Artikel 4 der EMRK – Zwangs- und Pflichtarbeit im Rahmen einer Gefängnisstrafe ausgenommen. Der Zürcher Rechtsanwalt Bernard Rambert, der den Häftling Meier (vgl. Haupttext oben) vor Bundesgericht wie in Strassburg juristisch vertreten hat, weist aber in seiner Beschwerde darauf hin, dass aus den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen eindeutig hervorgehe, «dass die Arbeitspflicht nur Gefangene treffen soll, die das gesetzliche Alter noch nicht erreicht haben». Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hielt dann aber in seinem Urteil vom 26. Januar 2014 fest, dass die Arbeitspflicht für Gefangene im Pensionsalter das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit nicht verletze. Die RichterInnen zweifelten nicht daran, dass der Kläger Zwangs- respektive Pflichtarbeit unterworfen sei. Sie betonten aber – wie das vorher schon das Bundesgericht getan hatte – die Wichtigkeit der besonderen «Fürsorgepflicht bei älteren Insassen» wie auch das «Entgegenwirkungsprinzip», also die Vermeidung schädlicher Folgen für den Gefangenen. Anders ausgedrückt: Die Arbeit im Gefängnis soll die Haftschäden kompensieren.
Zentral für das Urteil war aber ein anderer Punkt: Die Mitgliedstaaten, die die EMRK ratifiziert haben, pflegen keine einheitliche Praxis. Viele entbinden Häftlinge, die das Rentenalter erreicht haben, explizit von der Arbeitspflicht. Ein Grossteil hat die Frage jedoch einfach nicht geregelt – was dazu führt, dass die Gefangenen übers Rentenalter hinaus weiterarbeiten müssen.
«Im vorliegenden Fall erachtet der Gerichtshof sich nicht für verpflichtet, diese Frage endgültig zu beantworten», steht in der Urteilsbegründung.
Der Entscheid betrifft in der Schweiz immer mehr Häftlinge. Laut Bundesamt für Statistik waren 2016 in den Schweizer Gefängnissen 109 Menschen älter als 65. Vor zwanzig Jahren waren es nur 28 Personen respektive 0,8 Prozent aller Häftlinge. Heute sind es bereits über 2 Prozent der Gefangenen. Die Zahl wird in den nächsten Jahren deutlich steigen, weil die Zahl der Verwahrten kontinuierlich zunimmt. Viele von ihnen dürften bis zum Tod weggesperrt bleiben.
Susan Boos