Selber leben: Endlich Pizza statt Kartoffeln

Nr. 37 –

Das Assistenzbudget ermöglicht Behinderten mit IV-Hilflosenentschädigung ein selbstbestimmtes Leben. Die St. Gallerin Brigitt Müller hat sich als eine der Ersten zum Pilotversuch gemeldet.

Den Kampfgeist hat sie von zu Hause mitbekommen. Wer sich bei Müllers etwas vornimmt, will mit dem Kopf durch die Wand. «Das ist das Appenzeller Temperament», sagt Brigitt Müller. Ihre Familie führte in Urnäsch einen Bauernhof. Im Unterschied zu ihren zwei Geschwistern half die älteste Tochter gern im Betrieb mit. Auch als sich erste Zeichen ihrer Krankheit bemerkbar machten. In der dritten Klasse erhielt sie die Diagnose: Brigitt Müller leidet an Kleinhirnataxie, einer Krankheit, die sich schleichend fortentwickelt und mehr und mehr die Kontrolle über den Körper entzieht. Fast zur selben Zeit hatte sich das Rückenleiden des Vaters derart verschlechtert, dass er nicht mehr auf dem Hof arbeiten konnte. Alle Kräfte wurden nun im Betrieb gebraucht. Brigitt zog in ein privates Kinderheim in Lustmühle AR. Im streng katholischen Haus fühlte sie sich nicht wohl. Mädchen durften nur Röcke tragen, die Kinder beteten vor jedem Essen und durften nur leise miteinander reden. Trotzdem, sagt Brigitt Müller, habe sie in dieser Zeit vieles gelernt, das ihr heute zugutekomme: «Ich wurde früh selbstständig. Ich konnte gar nicht anders.»

Barriere weg!

Letzten April hat die 30-Jährige ihre erste eigene Wohnung bezogen: drei Zimmer in einem modernen Mehrfamilienhaus mitten in St.Gallen. Als sie die Türe öffnet, strahlt Brigitt Müller übers ganze Gesicht. Es ist kurz vor acht Uhr morgens. «Könnten Sie mir die Schuhe binden?», fragt sie. «Aber bitte keinen Doppelknopf, sonst kann ich sie nicht mehr ausziehen.» Später kommt Bettina Portmann dazu, Brigitt Müllers Assistentin. Bettina Portmann macht Frühstück, Ovomaltine im Becher mit Strohhalm und Honigschnitten, die sie ihr eine nach der andern in den Mund schiebt. «Für Brigitt zu arbeiten, ist ein Schoggijob», sagt sie. Die beiden Frauen haben sich bereits vor sechs Jahren kennengelernt. Bettina arbeitete damals als medizinische Betreuerin im St. Galler Quimby-Huus, wo Brigitt wohnte. Obwohl Freundschaften zwischen Personal und BewohnerInnen nicht erlaubt waren, gingen sie gemeinsam aus, besuchten heimlich das Kino oder trafen sich in Cafés. Als sich Brigitt schliesslich entschied, ein Assistenzbudget zu beantragen und eine eigene Wohnung zu suchen, wollte Bettina Portmann sofort für sie arbeiten: «Mit ihrem Charme wickelt Brigitt alle um den Finger.»

Brigitt Müller schüttelt den Kopf: So einfach war es nicht immer. Bisher hatte sie im Fünfjahresrhythmus ihre Wohnorte gewechselt. Als Teenager zog sie von Lustmühle nach St. Gallen ins Schulheim Kronbühl, wo es ihr besser gefiel als im Kinderheim: Durchs Fenster konnte sie den Hof ihres Onkels sehen. Nach Abschluss der Schule lebte sie im Beschäftigungswohnheim Schwarzenbach. Hier hatte sie kaum freundschaftliche Kontakte, ausser zu ihrem besten Freund Roger, den sie in Kronbühl kennengelernt hatte. Von Anfang an wäre sie lieber ins St. Galler Quimby-Huus gezogen. «Du bist doch unser Sonnenschein», antwortete die Heimleitung immer, wenn Brigitt Müller ihren Wunsch äusserte. Schliesslich wurde sie 25 Jahre alt, bis sie ihn erfüllen konnte. «Das Quimby-Huus war mein Sprungbrett in die Freiheit», sagt Brigitt Müller. Mit neuen FreundInnen gründete sie die Gruppe «Barriere weg!», die sich gegen die Diskriminierung Behinderter einsetzt. Sie kämpften für mehr Rampen und Behinderten-WCs in öffentlichen Gebäuden sowie für behindertenfreundliche Verkehrsmittel. Einmal hat Brigitt Müller am St. Galler Marktplatz für Aufsehen gesorgt, als sie im über hundert Kilogramm schweren Elektrorollstuhl PassantInnen ansprach, ob sie ihr in den Bus helfen könnten. Heute fährt immerhin auf der Linie 1 ein Niederflurbus. Und ab 2007 wird die gesamte St. Galler Flotte durch behindertenfreundliche Fahrzeuge ersetzt. Dank der politischen Arbeit war Brigitt Müller besser über ihre Rechte informiert. Sie erfuhr früh vom «Pilotprojekt Assistenzbudget» und gehörte zu den Ersten, die sich um eine Teilnahme bewarben.

Blick über die Stadt

Brigitt Müller hat viele Ideen, was sie ausprobieren würde, wenn sie nicht auf den Rollstuhl angewiesen wäre: Bungeejumping, Fallschirmspringen, Surfen, Snowboarden und Skateboarden. Sie wäre gern Kung-Fu-Kämpferin, Rock-’n’-Roll-Tänzerin oder Töfffahrerin. Das Was-wäre-wenn-Spiel macht ihr Spass. Ob in der Vorstellung oder im wahren Leben: Brigitt Müller ist neugierig, liebt die Freiheit und schöpft ihre Möglichkeiten aus. Als sie sich auf die Suche nach einer geeigneten Wohnung machte, bat sie zuerst einen Freund, sie zu begleiten. Bald verstand sie aber, dass es nun darum ging, alleine zu entscheiden, was gut ist. Wie eine Sportlerin auf den Wettkampf bereitete sie sich auf die eigene Wohnung vor. Sie übte fleissig einzukaufen, Geld abzuheben oder den Briefkasten zu öffnen. Und am Tag, als die Zusage des Vermieters kam - es war der 3. Januar 2006 -, legte sich Brigitt Müller voller Vorfreude ins Bett und sagte zu sich selber: «Gewonnen! Heute war ein besonders schöner Tag.» Bevor die Assistentin Bettina Portmann nach Hause geht, schneidet sie Zwetschgen und Aprikosen auf. Mittags wird sie zurückkommen, um zu kochen. Brigitt ist gern allein zu Hause. Sie schaut oft fern, spielt «Spider Solitaire», ein Kartenspiel am Computer, oder sie surft im Internet. Manchmal geht sie ebenfalls aus dem Haus, wenn Bettina Portmann weg ist. Seit sie allein wohne, habe sie so viele Leute kennengelernt, sie komme kaum mehr zum Geldautomaten, ohne unterwegs Bekannte zu treffen. Gern fährt sie auch zu den «Drei Weieren», von wo aus sie über die Stadt blicken kann. Dann wundert sie sich manchmal, wie stark sich ihr Leben im letzten halben Jahr verändert hat. Sie sei aufgeblüht, sagt sie, die Krankheit habe sich seit ihrem Umzug stabilisiert, und dank der Bewegung habe sie sogar wieder ihr Idealgewicht. Sie geniesst es, niemandem mitteilen zu müssen, wohin sie geht und wann sie heimkommt. Und besonders freut sie sich, dass sie nicht mehr immer Kartoffeln essen muss. Das Menü kann sie nun täglich aussuchen: Pizza, Chäshörnli, Knöpfli, Risotto, Chnoblibrot oder Tomaten-Mozzarella-Salat sind ihr am liebsten. Ihre FreundInnen aus dem Quimby-Huus hat sie noch nicht zum Essen eingeladen. «Zuerst muss ich die Wohnung fertig einrichten.» Zwei Tage pro Woche arbeitet Brigitt Müller aber weiterhin im Büro des Wohnheims. So bleibt sie mit ihnen in Kontakt. Manchmal fragt sie sich, wieso die andern nicht ebenfalls die Chance des Pilotprojekts genutzt haben. Gleichzeitig weiss sie, dass sie besonderes Glück hatte: Ihre Eltern, Geschwister und FreundInnen haben sie in ihrem Entschluss immer bestärkt und unterstützt. Auf Anfrage von Katharina Kanka, der Präsidentin der Fachstelle Assistenz Schweiz, hat Brigitt Müller kürzlich eine junge Frau bei ihrem Auszug beraten. Sie hat ihr vor allem geraten, sich bei der aufwendigen Büroarbeit von Anfang an helfen zu lassen.

Aquarium gegen Bier

Am Donnerstagmorgen gehen Bettina und Brigitt normalerweise ins Hallenbad. Brigitt Müller liebt es, sich im Wasser zu bewegen. Bettina hat sich aber erkältet. «Geh ruhig heim und kurier dich gut aus! Du hilfst mir krank ja nichts», sagt sie und lächelt. Das Assis-tenzbudget macht Brigitt Müller zur Arbeitgeberin. Die Invalidenversicherung hat ihre Bedürfnisse abgeklärt und überweist nun monatlich einen Geldbetrag, mit dem sie die selber ausgesuchten Assistentinnen bezahlt. Bettina Portmann wechselt sich in Haushalt und Pflege mit einer zweiten Assistentin ab. Die dritte hilft bei der Buchhaltung.

Wasser ist ihr Element. Seit der Kindheit träumt Brigitt Müller von einem Aquarium in der Stube. Weil beim Zahnarzt eines im Wartezimmer stand, freute sie sich als Kind sogar aufs Zähnebohren. Ein Bekannter von Bettina Portmann will ihr für einen Kasten Bier nun ein Aquarium überlassen. Zufrieden schaut Brigitt in den leeren Raum. Sie werde hier nicht mehr ausziehen, sagt sie, bis sie ins Altersheim müsse. In einem Dokumentarfilm sah Brigitt Müller die Geschichte eines behinderten Mädchens, das in Florida eine Delphintherapie besuchte. Seither hat sie ein neues Ziel.


Pilotversuch Assistenzbudget

Seit Januar 2006 führt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) zusammen mit der von der Fachstelle Assis-tenz Schweiz (FAssiS) gegründeten Stiftung und den IV-Stellen den Pilotversuch Assistenzbudget durch. Schwerpunktmässig in den Kantonen Basel-Stadt, St. Gallen und Wallis dürfen 400 Behinderte mit Hilflosenentschädigung (HE) der IV teilnehmen; bis heute beziehen rund 190 Personen ein Assistenzbudget. Ausgangspunkt für das Modell ist eine detaillierte Bedarfsabklärung. Dabei soll festgestellt werden, wie viel persönliche Hilfe die behinderte Person benötigt. Aufgrund der ermittelten Zeit wird ein monatlicher Geldbetrag festgelegt: das «Assis-tenzbudget». Dieses wird der behinderten Person direkt ausbezahlt. Mit dem Assistenzbudget können Behinderte selbst ausgesuchte Personen anstellen, die ihnen im Alltag die notwendige Hilfe leisten. Sie werden «persönliche AssistentInnen» genannt. Laut Katharina Kanka, der Präsidentin von FAssiS, wurden bisher lediglich Personen abgelehnt, die keinen Anspruch auf Hilflosenentschädigung der IV haben. Eine allfällige «zu schwerwiegende» Behinderunkann kein Grund für eine Absage sein. Die Fachstelle setzt sich dafür ein, dass HE-BezügerInnen und ihre Angehörigen selber entscheiden, ob sie sich die Selbstständigkeit, eventuell mit einer grösseren Anzahl an AssistentInnen, zutrauen können. Der Pilotversuch läuft bis Ende 2008 - mit der Option einer vierjährigen Verlängerung. Er wird laufend wissenschaftlich begleitet. Gemessen an vergleichbaren Assistenzprojekten in England und den Niederlanden kann damit gerechnet werden, dass die Sozialzweige mit dem Assistenzmodell bis zu 30 Prozent an Kosten einsparen können. Weitere Infos: www.assistenzbudget.ch