Invalidenversicherung: «So kann ich nicht raus»
Menschen mit Behinderung können Personal anstellen, das sie unterstützt – auch für die Kinderbetreuung. Der Beitrag dafür ist allerdings viel zu tief, hat nun auch das Bundesgericht entschieden. Zwei Mütter erzählen.
Ursulina Hermann sitzt in der geräumigen Küche. Ihr Mann kniet vor ihr und hilft ihr, die Kompressionsstrümpfe anzuziehen. Er muss bald los, seine Schicht beginnt. Er arbeitet als Zugbegleiter auf der Gotthardlinie.
Ursulina Hermann beginnt zu erzählen. Als Säugling hatte sie eine Infektion, seither ist sie körperlich stark handicapiert. Wenn sie so sitzt und über ihr Leben berichtet, nimmt man ihre Einschränkung kaum wahr. Eine junge, selbstbewusste, kluge Frau, die weiss, was sie will.
Ihre rechte Körperseite sei sehr schwach, sagt sie. Die linke ist kräftiger, aber wegen einer Spastik nicht sehr beweglich. Als Kind war sie immer zu Fuss unterwegs, das wurde aber immer beschwerlicher. Heute schafft sie es gerade noch, hundert Meter zu gehen. Das Problem ist, dass sie beim feinsten Schubser hinfällt, weil sie sich nicht auffangen kann. Inzwischen hat sie einen Elektrorollstuhl, der ihr Bewegungsfreiheit gibt. Sie ist oft mit dem Zug in der ganzen Schweiz unterwegs, weil sie für die Organisation Procap auswärts Schulungen gibt.
Maximal neunzig Minuten für die Kinderbetreuung
Ihre zwei Kinder sind heute fünf und acht Jahre alt und an diesem Morgen im Kindergarten respektive in der Schule. Seit gut zehn Jahren zahlt die Invalidenversicherung (IV) Menschen mit Behinderung einen sogenannten Assistenzbeitrag. Damit können sie Personal anheuern, das ihnen hilft, ihr Leben autonom zu gestalten.
Das Berechnungssystem ist unermesslich kompliziert. Jede Tätigkeit wird einzeln eingestuft. Zusätzlich wird einberechnet, wie stark eine Person aufgrund ihrer Behinderung bei der jeweiligen Tätigkeit eingeschränkt ist. Stufe 0 bedeutet, dass eine Person eine Tätigkeit selbstständig ausführen kann, Stufe 4, dass sie umfassend auf Hilfe angewiesen ist.
Beeinträchtigte Eltern erhalten für die Hilfe, die sie bei der Betreuung von Kindern brauchen, pro Tag maximal neunzig Minuten angerechnet – wenn die Person auf Stufe 4 ist und nichts selber machen kann. Dabei spielt es keine Rolle, wie viele Kinder sie hat. Ursulina Hermann hatte Stufe 4, als die Kinder klein waren. Real hätte sie ständig zwei Assistenzpersonen benötigt: eine, die ihr bei der Bewältigung des Alltags beisteht, und eine, die ihr hilft, gleichzeitig die Kinder zu betreuen. Mit dem Geld der Invalidenversicherung war das nicht möglich. Nur wenn das private Umfeld unentgeltlich mithilft, können Menschen wie Hermann Kinder haben.
Aktuell werden Ursulina Hermann pro Monat insgesamt 130 Assistenzstunden vergütet (davon 40 Stunden für die Kinderbetreuung). Vor kurzem waren es noch 168 Stunden. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Kinder grösser geworden sind. Mit sechs Jahren gelte ein Kind gemäss IV als selbstständig, sagt Hermann. Danach gibt es für die Kinderbetreuung keinen Assistenzbeitrag mehr. Ein Kindergärtler sei aber noch nicht in der Lage, alles selber zu machen, sagt Hermann.
Sie liefert noch diverse weitere Beispiele. Ein illustratives Müsterchen: Vor zwei Jahren zogen sie in eine neue Wohnung. Die Frau, die für die IV die Abklärungen machte, kam vorbei und fragte, was sich in der Küche verändert habe. Hermann erzählte, die neue Spülmaschine habe oben eine Besteckschublade, die könne sie nun selber einfüllen – mit dem Besteckkorb ging das nicht. «Im Bericht wurde dann festgehalten, dass ich in der Küche mehr Eigenleistung erbringen könne. Die Zeit, für die ich jemanden anstellen kann, wurde mir deshalb gekürzt. Nur weil ich wegen der Besteckschublade ehrlich war.»
Elena Thut ist die Frau, die es geschafft hat, das starre System aufzubrechen. Thut ist Gymnasiallehrerin, Mutter von zwei Kindern und wohnt in Zürich. Ihre Tochter sitzt am Fenster und malt. Die Sonne scheint hell in die Wohnung. Ihr kleiner Bruder zeigt stolz seinen Pokémon-Gürtel. Er hat ihn vor kurzem zu seinem sechsten Geburtstag erhalten.
Thut manövriert in ihrem Rollstuhl geübt durch die Wohnung. Sie bringt Wasser, Kaffee und einen Ordner. Da drin sind die ausführlich begründeten Entscheide, die das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) zwingen, die Elternassistenz zu revidieren. Thut hat durch alle Instanzen geklagt und im letzten September vor Bundesgericht recht erhalten.
Thut ist Ende vierzig. Als sie zwanzig Jahre alt war, hatte ihre Familie einen schweren Autounfall. Elena Thut überlebte querschnittgelähmt. Sie liess sich aber nicht unterkriegen und studierte Geschichte. Schon während des Studiums hatte sie eine Assistenzperson, die ihr half, den Alltag zu meistern. Damals bezahlte die IV noch keine Assistenzbeiträge, ihre Eltern kamen privat dafür auf.
Ein entscheidendes Bundesgerichtsurteil
Nach dem Studium begann Thut, an einem Gymnasium zu unterrichten. Sie heiratete, 2014 kam ihre Tochter zur Welt, drei Jahre später ihr Sohn. Als der Kleine drei Monate alt war, trennte sich Thut von ihrem Mann. Seither ist sie alleinerziehend. Etwas, was im bisherigen System nicht vorgesehen ist: eine alleinerziehende Mutter, die im Rollstuhl sitzt. Sie konnte zwar ihren Alltag über weite Strecken selber organisieren, nicht aber den schreienden Säugling nachts aus dem Bettchen heben, um ihn zu stillen. Auch ihrer Tochter auf dem Spielplatz konnte sie nicht beistehen, wenn diese vom Klettergerüst stürzte. Mit zwei kleinen Kindern waren all die Dinge, die sie vorher als Rollstuhlfahrerin locker bewältigt hatte, plötzlich nicht mehr möglich.
Das Bundesamt für Sozialversicherung wollte ursprünglich ein faires Assistenzsystem bauen und entwickelte das Abklärungsinstrument «Fakt2». Die vielen alltäglichen Tätigkeiten wie «Haarewaschen», «Kämmen», «Ankleiden» oder «Einkaufen» sind darin minutiös aufgeführt. Die IV errechnet auf Basis dieses Tools, wie viele Stunden Assistenzhilfe eine behinderte Person zugute hat. Das System sei ursprünglich gut gedacht gewesen, sagt Thut – einfach nicht für Menschen mit Kindern. Sie erläutert das am Beispiel «Einkaufen»: Das konnte sie alleine. Mit dem Rollstuhl fuhr sie zum Auto, zerlegte ihn, hievte die Räder auf den Rücksitz und das Chassis auf den Beifahrersitz. Mit den beiden Kindern ging das nicht mehr. Sie konnte die Kinder nicht auf dem Rücksitz festschnallen. Zudem sitzen die Kleinen dort, wo sie vorher die Räder des Rollstuhls verstaute. Kurz: Alleine einkaufen war mit zwei Kleinkindern unmöglich. Das IV-Abklärungssystem stellt aber lediglich fest: Sie kann Auto fahren, sie kann einkaufen – braucht also keine Assistenz. Dass das mit zwei Kleinkindern nicht geht, berücksichtigt das Erfassungstool nicht.
Thut führt viele Beispiele an, bei denen das Berechnungstool «Fakt2» ignoriert, dass das Leben mit Kleinkindern nicht gleich funktioniert wie ohne. Um jeden einzelnen Posten hat sie mit der Versicherung gerungen. Sie nennt es «stüfele» – weil es darum geht, ob sie in Stufe 0 («Braucht keine Hilfe», bekommt also keine Unterstützung) oder in einer höheren Stufe («Braucht etwas Hilfe» bis hin zu «Ist vollumfänglich auf Hilfe angewiesen») eingeordnet wird. Je tiefer jemand eingestuft wird, desto weniger muss die IV bezahlen. Ein irres System, das man als beeinträchtigte Person als sehr feindlich wahrnimmt.
Thuts Bundesgerichtsbeschwerde ist komplex. Sie bekam auch nicht in allen Punkten Recht. In einem Punkt jedoch pflichtet ihr das oberste Gericht unmissverständlich bei: Das Berechnungstool ist bezüglich Kinderbetreuung realitätsfremd. Thut und ihr Anwalt hatten dem Gericht die Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake) unterbreitet. Diese Daten zeigen unter anderem, wie viel Zeit die Schweizer Bevölkerung in die Hausarbeit steckt. Ein reales Sake-Beispiel: Eine Mutter mit zwei Kindern – das jüngere ist noch nicht sechs Jahre alt, sie ist nicht erwerbstätig – wendet im Schnitt pro Monat über 210 Stunden für Haus- und Familienarbeit auf – über 90 Stunden allein für die direkte Betreuung wie Essen geben, Kinder waschen oder ins Bett bringen.
Wie aber schätzt «Fakt2» den Arbeitsaufwand ein? Ein Beispiel: Eine Mutter, die höchst hilfsbedürftig ist, praktisch nichts selber erledigen kann und zwei Kleinkinder hat, die beide noch keine sechs Jahre alt sind, erhält pro Monat maximal 45 Stunden zugesprochen, damit ihr jemand bei der Kinderbetreuung beistehen kann. Wäre diese Mutter voll im ersten Arbeitsmarkt tätig respektive gemeinnützig aktiv oder würde eine Weiterbildung absolvieren, könnte sie auf 60 Assistenzstunden kommen. Dass die Kinderbetreuung so mit anderen Faktoren vermengt wird, ist absurd. Vor allem, weil eine Person, die fast nichts selber machen kann, kaum vollzeit erwerbstätig ist und noch eine Weiterbildung macht oder gemeinnützig aktiv ist. Abgesehen davon ist es offensichtlich, dass die 45 respektive 60 Stunden niemals ausreichen, um Kleinkinder rund um die Uhr zu versorgen.
Das Bundesgericht kommt deshalb trocken zum Schluss, die Berechnung sei nicht «bundesrechtskonform» – auch weil sie «weder die Anzahl der Kinder noch die Anwesenheit eines anderen Elternteils» berücksichtige. Elena Thut war finanziell zum Glück so aufgestellt, dass sie die benötigten Assistenzkräfte in den letzten acht Jahren selber bezahlen konnte. Die Kinder sind inzwischen selbstständiger. Thut kann kleinere Einkäufe wieder alleine erledigen, weil ihre Tochter beim Einladen des Rollstuhls hilft.
Nach dem Bundesgerichtsentscheid muss das Bundesamt für Sozialversicherung jetzt über die Bücher. Beeinträchtigte Eltern haben nun also Anspruch auf mehr Geld. Wie viel das sein wird, ist noch nicht bekannt. Thut hat gefordert, man solle ihr – als Kompromiss – rückwirkend mindestens die monatlich 60 Stunden Assistenzhilfe gewähren, die im heutigen System das Maximum darstellen. Die Sozialversicherungsanstalt Zürich konnte ihr das aber noch nicht zusprechen, weil man auf die Vorgaben des BSV wartet und keinen Präzedenzfall schaffen möchte. Das BSV wiederum teilt mit, «Fakt2» werde revidiert und bundesrechtskonform ausgestaltet (vgl. «Aussicht auf mehr Freiheit»). Anfang Juli soll die Neuregelung in Kraft treten. Gemäss dem BSV erhielten Ende vergangenen Jahres 630 Eltern einen Assistenzbeitrag für «Erziehung und Kinderbetreuung»; wie viele von der neuen Regelung profitieren werden, kann das BSV nicht sagen.
Elena Thut wird sich das überarbeitete «Fakt2» anschauen. Falls es sie nicht überzeugt, ist sie gewillt, ihren Fall bis nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen.
Assistenz ist wie ein KMU
Ursulina Hermanns jüngerer Sohn kommt nach Hause. Er verschwindet in seinem Zimmer und kommt mit einem Flugzeug aus Legosteinen zurück in die Küche. Neugierig hört er uns zu. Hermann sagt, sie habe von der zuständigen IV-Stelle noch keine Bestätigung bekommen, dass man wegen des Bundesgerichtsurteils den Assistenzbeitrag neu bewerten müsse. Sie wartet nun einmal ab.
Im Normalfall hat sie drei bis fünf Personen unter Vertrag, die ihr helfen, den Haushalt zu erledigen. Der Kleine setzt sich auf ihren Schoss. «Sag mal, wie ist es für dich, dass immer so viele verschiedene Leute bei uns sind?», fragt sie ihn. Er schaut sie an, sagt nichts. Sie sagt, er sei es halt gewohnt, man müsse es aber schon aushalten, dass ständig Fremde in der Wohnung seien. Für sie sei es leichter, damit umzugehen, weil sie von klein auf mit ihrer Behinderung gelebt habe. «Aber für Eltern, die erst später, durch eine Krankheit oder einen Unfall, hilfsbedürftig werden, muss die Umstellung gewaltig sein.»
Gab es Momente, wo sie sich mit zwei Kindern überfordert fühlte? «Ja, die gab es. Einmal war die Assistenz ausgefallen. Ich wollte aber trotzdem mit den Kindern raus. Der Grössere war vier, der Kleinere zwei. Der Grosse wollte sich nicht anziehen, der Kleine lag auf dem Boden und schrie. Da wusste ich, so kann ich nicht raus. Am Ende habe ich beide vor den Fernseher gesetzt – und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Später habe ich realisiert, dass andere Eltern das auch tun. Aber ich stehe schon unter einer besonderen Beobachtung. Wenn bei mir was falsch läuft, wird das ganz anders wahrgenommen.»
Es ist kurz vor Mittag. Wir wollen an die frische Luft. Der Junge spielt inzwischen mit dem Nintendo und will ihn nicht weglegen. Hermann sagt zweimal, er solle sich anziehen und mit dem Spielen aufhören. Er reagiert nicht. Doch sie weiss, dass ihm klar ist, dass sie auf seine Kooperation angewiesen ist. Ruhig sagt sie: «Ich stelle jetzt den Timer. Wenn er klingelt, musst du den Nintendo weggelegt haben, sonst gibts danach Nintendo-Entzug.»
Kurz bevor der Timer klingelt, richtet er sich auf, legt das Gerät weg und zieht sich an. Ursulina Hermann setzt sich in den Elektrorollstuhl und fährt aus der Wohnung. Danach bittet sie den Jungen, die Türe zuzuziehen und abzuschliessen. Er schaut sie an, dann schaut er verschmitzt mich an und fragt: «Warum kann sie das nicht machen? Ich muss das sonst immer machen.» Sie lacht. Ich schliesse ab. Er hüpft vergnügt die Treppe runter, und sie nimmt den Lift.