Christian Haller: Schattenseiten des Wirtschaftswunders

Nr. 43 –

Der dritte Teil seiner grossen Trilogie beschreibt den sozialen Abstieg einer Familie in den 1950er Jahren und den Verlust von Erinnerungen in der Nachkriegszeit.

Die Trilogie von Christian Haller umfasst mehr als ein halbes Jahrhundert, über 800 Seiten und ist innerhalb von fünf Jahren erschienen: «Die verschluckte Musik» (2001), «Das schwarze Eisen» (2004), und als dritter Roman nun «Die besseren Zeiten». Wie im Titel angedeutet, ist dieser letzte Teil von Nostalgie geprägt, und zwar - was zuerst einmal befremden mag - von einer Sehnsucht nach den vierziger Jahren. Der Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit macht die vierköpfige Familie, von Haller aus der Sicht des jüngeren Sohnes beschrieben, immer mehr zur ökonomischen und gesellschaftlichen Verliererin. Mit dem Vater werden die Mutter und die zwei Söhne von der Stadt in die Provinz geschickt, ein Dorf im Jura, dann wird der Vater aus der Firma des Grossvaters entlassen. Den Aufstieg dieses Grossvaters aus ärmlichsten Verhältnissen zum Chef eines Stahlunternehmens und stahlharten patriarchalischen Oberhaupt der Familie H. hat Haller in «Das schwarze Eisen» beschrieben. Der Vater rappelt sich zwar wieder auf und gründet eine eigene Firma, doch bald wird er von seinem Teilhaber Hackler übervorteilt. Dieser ist denn auch der typische Gewinner des Wirtschaftswunders, ein skrupelloser Geschäftsmann, der gerne mit seinem neureichen Besitz protzt. Ein Mann ohne Erinnerung, der nur vorwärts schaut. Und ein Vorgänger der gewissenlosen Manager, die unsere Zeitgenossen sind, wenn auch harmlos im Vergleich zu diesen, ist sein Machtgebiet doch relativ bescheiden.

Wie die beiden andern Trilogie-Teile ist «Die besseren Zeiten» ein bedächtiges Buch, sprachlich präzise, ja geradezu ziseliert geschrieben. Christian Haller, 1943 in Brugg geboren und heute wohnhaft in Laufenburg, gelingt es, in seinen Sätzen die hoffnungsvolle und zugleich bedrohliche Atmosphäre der Nachkriegsjahre mit ihren tief greifenden sozialen und ökonomischen Umwälzungen einzufangen. Die politische, die soziale und die zwischenmenschlich-sozialen Ebenen verwebt er unaufdringlich miteinander und zeigt so die Auswirkungen der Umwälzungen bis ins Privateste hinein, in freundschaftliche und familiäre Beziehungen. Nichts ist privat, und das Privateste erweist sich als das Allgemeinste.

Rebellion mit Kaugummi

Der jugendliche Ich-Erzähler beobachtet (mit den Augen des mittlerweile erwachsenen Mannes), wie der Vater Ansehen und Selbstbewusstsein verliert. Die Mutter stammt aus gutbürgerlichem Hause in Bukarest (mit ihrer Familiengeschichte und den Erinnerungen an die rumänische Hauptstadt Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich «Die verschluckte Musik») und hängt sich immer verzweifelter an die vergangenen «besseren Zeiten». Sie «verblasst» in der ländlichen Umgebung, während im kleinen Haus sich Möbel aus Massenanfertigung breitmachen: «Dieses neue, billige Zeug, das in dem Fabrikwürfel am Ausgang des Dorfes angeboten wurde: Möchtegern-Möbel für Leute ohne Geschmack.» Der ältere Bruder rebelliert mit Rockmusik und Kaugummi gegen die trauernden und erstarrenden Eltern, während sich der Jüngste, ganz anachronistisch, in archäologische Grabungen flüchtet, die er in seiner Freizeit betreibt. So driftet die Kernzelle der modernen westlichen Gesellschaft, die Kleinfamilie, immer mehr auseinander.

Christian Haller pflegt das bedeutsame Detail. An den neuen Produkten des wirtschaftlichen Fortschritts - Beton, Leica, Fahrradgangschaltung, Dauerwelle, Perlon, Nyltex, Plastiktischtüchern - ist der Verlust von Einzigartigkeit und alter Geborgenheit ablesbar. Dabei kann es passieren, dass der aus einer rückblickenden Perspektive geschriebene Roman ins Behäbige kippt. Doch die Nostalgie wird zunehmend konterkariert, insbesondere mit der Figur des Bruders kommen die faszinierenden kulturellen Neuheiten aus Amerika ins Spiel, die Riffs von Chuck Berry zum Beispiel.

Hallers Trilogie erzählt von der Geschichte der Schweiz, den Patriarchen und dem Verlust von Erinnerung nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land, vom Schock des Wirtschaftsbooms und den grossflächigen Zerstörungen der sechziger Jahre. Ob der Autor nach Abschluss der Trilogie auch die Unterströmungen und folgenden Jahre aufspüren wird? Gespannt darauf dürfte man sein.

Christian Haller: Die besseren Zeiten. Luchterhand Literaturverlag. München 2006. 283 Seiten. 35 Franken