Christian Haller: Schweigender Chrampfer

Mit einem Glas eingemachter Zwetschgen als Proviant ist H. losmarschiert. Das war alles, was die Mutter ihm auf seine lange Reise mitgeben konnte. In Burgdorf muss sich der Jüngling als Kommis in einer Schreibstube verdingen, ein Fehltritt treibt ihn schliesslich in die französische Fremdenlegion. Jahre später sitzt der alte H. in seinem Garten, der Zwetschgenbaum trägt junges Laub. «Ihr könnt das alle nicht mehr wissen, was das heisst, nichts zu haben, nicht mal genug, um zu essen», denkt er. Laut sagen wird er dies niemandem, auch seinem Enkel, dem Ich-Erzähler, nicht: Grossvater erzählt keine Geschichten. Was dem Enkel bleibt: ein Bild von dem Menschen, der sein Grossvater gewesen ist – und der unausgesprochene Wunsch, «einen Teil seiner Vergangenheit mit meinem Dasein» zu erlösen. Indem er ihm eine Geschichte gibt?

Christian Haller geht in seinem Roman «Das schwarze Eisen» dem Bild des Grossvaters nach. Vor dem Hintergrund des «Elektrischen Saeculum», zu Beginn des letzten Jahrhunderts, erzählt er die Biografie dieses Mannes, der es als Armeleutekind zum Direktor der Maschinen- und Stahlwerke in A. schafft. Es ist eine gesellschaftliche Aufsteigergeschichte, es ist aber auch die private Geschichte einer Verdrängung. Denn zwischen dem Gestern und dem Heute liegen Abgründe, von denen freilich niemand etwas ahnt. Lebenslang holen den Grossvater die qualvollen Bilder seiner Legionärszeit ein, «diese feinstofflichen Überreste aus Gelebtem … längst Vergangenes und dennoch … so aufdringlich gegenwärtig». Sie überschatten sein Dasein, bestimmen es, lassen ihn einsam werden. Unzugänglich ist dieser Mann, ein «Chrampfer», der an den Willen, die Disziplin, die Schweiz und ihren künftigen Wohlstand glaubt; eine Autoritätsperson, die das Leben seiner Söhne bis zuletzt bestimmt, keinen Widerspruch duldet und das Lachen nicht kennt.

Aus der Distanz eines Jahrhunderts sucht der Enkel die Fragmente dieses Lebens zusammen. Mit seiner sinnlichen Sprache reist Haller durch die Zeit, verbindet historische Dokumente mit persönlichen Erinnerungen, stellt sich vor, was den Grossvater bedrängte, was er verdrängte, und beschreibt dies mit eindringlichen Bildern. Vergangenheit und Gegenwart gehen zuweilen ineinander über. Äusserst anschaulich entsteht wie nebenbei das Bild jener Epoche, in der der Glaube an den Kapitalismus ökonomischen Aufschwung verhiess und ein besseres Leben versprach. Verknüpft mit Grossvaters Familiengeschichte erzählt Haller auch ein Stück Schweizer Wirtschaftsgeschichte, die ohne Männer wie H. nicht denkbar wäre. Vorsichtig nähert sich der Enkel diesem herrischen Grossvater, spürt die innere Gebrochenheit, findet Worte für sein Schweigen und gibt ihm eine Geschichte; eine, wie sie vielleicht war – oder hätte sein können.

Christian Haller: Das schwarze Eisen. Luchterhand Literaturverlag. München 2004. 312 Seiten. Fr. 39.50