Iran: Alles muss islamisch sein

Nr. 5 –

Er ist eine Ausnahme. Der Ökonom Mohammad Maljoo forscht über die Arbeiterbewegung im Iran. Und er spricht trotz des repressiven Klimas klare Worte.

WOZ: Sie arbeiten als Ökonom zu klassischen linken Themen. Schafft Ihnen das keine Probleme?

Mohammad Maljoo: Ich unterrichte an der Alame-Tabatabei-Universität in Teheran. Doch es gibt dort keine feste Stelle für mich, ich arbeite nur temporär. Das ist aber nicht nur mein Problem: Seit Mahmud Ahmadinedschad Präsident ist, haben viele junge Akademiker Probleme.

Ich interessiere mich für Arbeiterproteste und die Arbeiterbewegung. Aber das ist wie ein Ozean. Ich kann gar nicht alles abdecken. Ich bin noch kein Spezialist. Ich weiss bloss ein wenig Bescheid darüber.

Gibt es denn im Iran Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich wirklich darin auskennen, wenn nicht einmal Sie sich als wirklich kompetent sehen?

Linkes Gedankengut ganz allgemein - also nicht nur marxistisches - ist im Iran kaum vorhanden. Es gibt an den Unis keinen Platz für Linke. Es gibt viele Probleme im Iran, die sich aus einer linken Perspektive heute nur schwer thematisieren lassen. Zu Arbeiterprotesten und Arbeiterbewegungen müssten aber Linke forschen.

Einzelne Zeitschriften konzentrieren sich auf Arbeiterthemen. Aber es gibt keine wirklich wichtige Zeitung dazu.

Weil eine solche Zeitung verboten würde?

Vor allem, weil es im Iran nicht genügend Wissen gibt. Die theoretische Basis für eine Forschung zur Arbeiterbewegung fehlt. Das liegt nicht nur an der Regierung. Daran sind auch die Intellektuellen selber schuld, die sich Themen wie armen Menschen, Arbeiterinnen und Arbeiter, Produktionsweisen nicht widmen.

Warum ist das so? In der Philosophie oder der Gender-Diskussion sind iranische Universitäten doch auf höchstem Niveau.

Da muss ich weit zurückgehen. Unmittelbar nach der Islamischen Revolution 1979 wurden die meisten linken Studierenden, Dozenten und Professoren von der Uni geschmissen. Danach hatten die Wirtschaftsfakultäten kaum Zugang zu linken Theorien. Stattdessen tauchten viele islamische Professoren auf, die vor oder kurz nach der Revolution in den USA studiert hatten. Sie waren sehr konservativ und rechtsgerichtet. Sie versuchten, jede Arbeit, die in eine andere Richtung ging, zu zerstören, zu unterdrücken, auszusparen - bei Dissertationen, Unterlagen, Lehrplänen, Vorlesungen. Sie formulierten die Wirtschaftsfragen nur aus ihrer Sicht. So entstanden viele Hindernisse, erkenntnistheoretische wie soziologische, die es schwer machen, iranische Wirtschaftsthemen aus einer linken Perspektive anzugehen.

Was sind die rechtlichen und faktischen Bedingungen für Arbeiter und Arbeiterinnen? Wie können sie sich organisieren, wie können sie sich wehren?

Das Recht auf Organisierung in Fabriken und Industrien etwa ist im Arbeitsrecht festgelegt: Die Arbeiter können sich nur in Islamischen Räten organisieren. Ich sehe diese Räte als Instrument der Regierung, um die Arbeiter zu kontrollieren. Mitglieder der Islamischen Räte haben zum Beispiel versucht, die Proteste und Streiks der Teheraner Busfahrer im vorletzten Jahr zu verhindern. Die Islamischen Arbeiterräte sind eines der grössten Hindernisse für die Arbeiter, wenn es darum geht, sich unabhängig zu organisieren. Deshalb gibt es keine einzige unabhängige Arbeiterorganisation.

Was ist denn offiziell die Aufgabe der Islamischen Arbeiterräte? Stellen sie tatsächlich eine Art Gewerkschaft dar?

Nur in islamischem Sinn engagierte Leute können in die Räte gelangen. Das ist die Basis der Islamischen Arbeiterräte. Ich kann die Geschichte dieser Räte in groben Zügen wiedergeben. Direkt nach der Revolution bis etwa 1982/1983 wurde die Arbeiterpolitik von linken Persönlichkeiten und Parteien wie der kommunistischen Tudeh-Partei und der «Mehrheitspartei» (Aksariat) bestimmt. Danach verschwanden diese fast alle. Ihre Leute mussten fliehen, oder sie wurden verhaftet oder gar exekutiert. Weil es die Linke nicht mehr gab, brauchte die iranische Regierung eine Art Pro-Arbeiter-Organisation. Die Arbeiterräte sollten diese Lücke füllen und zeigen, dass die Arbeiterbewegung islamisiert ist. Eine andere Arbeiterbewegung darf es nicht geben - alles muss islamisch sein. Der Islam vertritt die Arbeiter. Das gilt auch für alle anderen Bewegungen, auch für die Frauen und die Studenten.

In der Ära des reformistischen Präsidenten Mohammed Chatami protestierten die Lehrer und Lehrerinnen. Gab es unter Chatami mehr Raum für Proteste?

Die Bewegung der Lehrer und Lehrerinnen entstand ab Januar 2001. Vor allem in Teheran gingen zuerst Tausende, dann Zehntausende Lehrer auf die Strasse. Viermal demonstrierten sie für höhere Löhne. Zweimal wurde das durch eine Lehrerorganisation organisiert. Die beiden anderen Male gingen die Lehrer und Lehrerinnen spontan auf die Strasse. Auch 2003 und 2004 protestierten die Lehrer noch einmal. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für diese Demonstrationen war der Raum, der sich durch den Machtkampf in der herrschenden Klasse öffnete. Auf der einen Seite standen die Reformisten, auf der anderen die Konservativen. Das ermöglichte erst die Proteste der Lehrer. Die Mächtigen waren damit beschäftigt, gegeneinander zu kämpfen.

Nach der Wahl des Parlamentes und des Wächterrates und schliesslich der Übernahme der Macht durch den heutigen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad im Jahr 2005 verschwand dieses Vakuum. Heute ist die politische Macht - im ideologischen Sinn - homogen.

Das überrascht mich. Es gibt im Iran doch ganz verschiedene Machtzentren. Es gibt Ahmadinedschad, dann den Revolutionsführer Ali Chamenei, den Wächterrat, die wirtschaftliche Macht, weiter den Bürgermeister von Teheran, der nicht auf einer Linie mit Ahmadinedschad liegt - da wird doch innerhalb des Systems an ganz verschiedenen Orten um die Macht gerungen.

Einverstanden. Doch das widerspricht meiner Aussage nicht. Es gibt tatsächlich viele politische Zentren, und es gibt heftige Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Gleichzeitig gibt es seit Ahmadinedschad im konservativen Flügel der herrschenden Klasse keine ideologische Spaltung mehr. Nehmen wir Ahmadinedschad und den Bürgermeister von Teheran, Mohammed Ghalibaf. Beide denken im gleichen ideologischen Rahmen. Sie sind nur im Kampf um die Macht Konkurrenten. Doch wenn es um Arbeiterproteste geht oder um das Kopftuch der Frauen, dann sind sie sich einig. Trotz ihres Wettbewerbs sind sie loyal zum ganzen System.

Die Reformisten um Chatami unterscheiden sich tatsächlich davon?

Ja. Ich kann dem nichts anfügen.

Es war nur dieser Machtkampf, der die anhaltenden Proteste ermöglicht hat?

Zwei Faktoren waren wichtig: Zum einen das Machtvakuum, das die Lehrer für ihre Anliegen ausnützen konnten. Gleichzeitig versuchten konservative Gruppen, die Lehrer auszunützen und sie gegen die Chatami-Regierung zu mobilisieren. Das ist eine Hypothese, aber ich bin sicher, dass sie zutrifft.

Gab es vor der Chatami-Ära Arbeiterproteste? Wilde Streiks zum Beispiel?

Ja. Vor Chatami und nach Chatami. Es gab und gibt in den Fabriken viele einzelne Proteste. Doch die Öffentlichkeit, die Medien, erfahren nichts davon. Aber das ist kein umfassender Protest. Während der Ära von Präsident Haschemi Rafsandschani gab es 1995 Krawalle im Teheraner Vorort Islamschahr, aber auch in Städten wie Maschhad, Täbris und Isfahan. Doch das waren nicht Proteste von Arbeitern, sondern von Armen. Natürlich waren viele Arbeiter und Arbeiterinnen dabei. Aber es ging nicht um Löhne oder Ähnliches, sondern beispielsweise um eine Wasser- oder Stromversorgung für ihre Quartiere. Das sind unorganisierte Proteste. Sie sind nicht von langer Dauer.

Sind die Reformisten offener für die Forderungen der Arbeiter?

Sie waren schlicht unfähig, die Proteste zu verhindern. Unter den Arbeitern gibt es ja auch einen konservativen Flügel. Die Regierung Chatami betonte die Freiheit - im Sinne von zivilen Freiheiten, von politischer Freiheit für die Mittelklasse. Aber nicht für die Arbeiter. In der Chatami-Zeit gab es ausser jenem der Lehrerinnen und Lehrer kaum organisierte und hörbare Proteste.

Warum hat Chatami die Forderungen der Beschäftigten nicht unterstützt?

Ich sehe die Politik der Regierung Chatami als ganz und gar neoliberal. Sie ist auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet und nicht auf Umverteilung oder Arbeiterrechte. Seine Berater dachten nicht daran, Wachstum auf der Basis der sozialen Rechte der Menschen zu erreichen. Sie vertrauten kaum auf die Armen oder die Arbeiter. Chatami war politisch sehr liberal, doch ökonomisch ...

Chatami und die Reformisten unterscheiden sich also in der Wirtschaftspolitik nicht von Ahmadinedschad?

Doch. Es gibt viele Unterschiede zwischen den beiden. Die Regierung von Chatami forcierte die Privatisierungen. Der Reichtum der Nation sollte in die Hände der Reichen übergehen. Der Staat sollte schrumpfen. Viele der niedrigeren Beamten wurden pensioniert. Rohstoffe wie Erdöl sollten nicht mehr subventioniert und ihr Preis durch den Markt bestimmt werden. Chatami - und zuvor schon Rafsandschani - versuchte, die Wirtschaft von der Gesellschaft zu trennen. Die wichtigste Triebkraft für die Produktion und die Verteilung von Waren und Reichtum sahen sie im Profit. Sie wollten eine unabhängige Sphäre für die Wirtschaft in der Gesellschaft.

Und Ahmadinedschad?

Der macht eine ganz andere Politik. Er versucht, diese unabhängige Sphäre zu zerstören. Er will die Wirtschaft wieder in die Gesellschaft eingliedern. Er verfolgt dabei die ideologischen und politischen Interessen seiner Leute und Unterstützer.

Was heisst das in der Praxis?

An Schulen und Universitäten sieht man das zum Beispiel. Ahmadinedschad will die Bildung dem Markt wieder entziehen, indem er die Gebühren senkt. Auch das Gesundheitswesen will er nicht mehr dem Markt überlassen. Darüber hinaus schafft er eine Krankenversicherung für Arme und Bauern. Die Banken in der Ära Ahmadinedschad geben jungen Leuten, die heiraten wollen, sowie ärmeren Menschen, die eine Wohnung kaufen wollen, Kredite.

Ahmadinedschad ist kein Linker. Aber er vertritt einige linke Anliegen - genau wie er rechte Positionen vertritt. Zum Beispiel ist der Entwurf zur Revision des Arbeitsrechts absolut rechtsgerichtet. Bei der Neuorientierung in der Privatisierungspolitik oder der Öffnung des Landes für Importe - da übernimmt er Positionen von beiden Seiten. Die traditionellen Begriffe rechts und links können Ahmadinedschads Wirtschaftspolitik nicht erfassen.

In der Zeit Ahmadinedschads streikten die Teheraner Buschauffeure. Dieser grosse Streik wurde zerschlagen und war praktisch erfolglos.

Der Streik war eine Erfahrung für die Arbeiter. So weit ich weiss, gab es seit der Revolution keine vergleichbare Erfahrung. Die Arbeiter haben mit diesem Streik gelernt, wie sie sich ohne Hilfe einer politischen Partei mobilisieren können. Es spielt keine Rolle, wie viel die Buschauffeure wirklich erreicht haben.

Für die Chauffeure selbst spielt das sicher eine Rolle.

Ja klar. Aber diese Lektion kann zu mächtigeren Protesten führen. Wie viel die Chauffeure wirklich erreicht haben, ist übrigens noch unklar. Die Buslinien in Teheran werden gegenwärtig neu organisiert. Es gibt heute Busse mit höheren Fahrpreisen - vielleicht werden auch die Löhne der Busfahrer erhöht. Das müssen wir abwarten.

Glauben Sie, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen stark genug sind, um unabhängige Organisationen zu schaffen?

Das kann ich nicht vorhersehen. Einige Faktoren ermöglichen aber Vermutungen. Dazu gehört die Reform des Arbeitsgesetzes - ob sich der Entwurf, der das Recht auf Organisierung vollständig ausser Acht lässt, durchsetzt. Dazu gehört auch, ob in der herrschenden Klasse ein neuer Bruch entsteht, zwischen den Rechten und den sogenannt Linken, den Reformisten. Das hängt davon ab, wie weit sich die Reformisten wieder an der Macht festsetzen können. Ein dritter Faktor ist der politische Wille, verschiedene Formen des Protests zu unterdrücken. Ich bin nicht pessimistisch.

Wie können Sie in einer solchen akademischen Umgebung, in dieser Ambiance, überhaupt forschen?

Ich kann rausgehen und mit Arbeitern zusammensitzen. Ich kann auch in den Fabriken forschen. In den letzten vier, fünf Jahren habe ich viele Lehrerinnen und Lehrer zu ihren Protesten interviewt. Und ich verfasste einen Standardfragebogen, aber der ging natürlich nur an eine relativ kleine Auswahl von Lehrern, denn ich habe kaum Geld zur Verfügung. Das sind meine wichtigsten Quellen. Es gibt also keine physischen Hindernisse für meine Arbeit. Das Problem liegt bei der Haltung der Politologen und Ökonomen. Es liegt an den Akademikern selber.


Der 35-jährige Mohammad Maljoo (sprich: Maldschu) lehrt in Teheran.

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