Das Geburtsverhör
Geschichte berichtet über gemeine Dinge, die der Mensch sich ausdenken kann. Zum Beispiel das Geburtsverhör, das vor zweihundert Jahren in der Schweiz noch Brauch war. Die Basler Journalistin Linda Stibler stiess per Zufall auf das Geburtsverhör und wollte es genauer wissen. Sie durchforstete Archive und grub ein Stück Historie aus, von dem wohl kaum jemand wusste. Entstanden ist ein schmales Buch, das elegant Fiktion und Fakten miteinander verschränkt - ein Roman, der mehr ist als ein Roman.
Anfang des 19. Jahrhunderts hatten es schwangere Ledige schwer, vor allem wenn sie armen Verhältnissen entstammten. Stibler zeichnet die Geschichte der lebenslustigen Anna nach, die sich von Heinrich, einem Jungen aus besserem Hause, verführen lässt. Anna wird schwanger, Heinrich streitet die Vaterschaft ab. Die Gerichtsbarkeit wollte es zu jener Zeit, dass Frauen wie Anna einem Geburtsverhör unterzogen wurden. Man glaubte, unter den Geburtsschmerzen würden die Frauen nicht mehr lügen und den richtigen Namen des Kindsvaters nennen. Ein entwürdigendes Ritual. Zwei Männer setzten sich in die Kammer und fragten Anna, während sie unter den Wehen vor Schmerzen schrie, immer und immer wieder nach dem Namen des Vaters. Anna liess sich nicht beirren und blieb bei der Aussage, es sei der Heinrich gewesen. Das kostete sie fast das Leben, weil ihr während des Verhörs niemand beistand. Der Junge, den sie gebar, kam tot zur Welt.
Linda Stibler hält in ihrem Roman Fiktion und Fakten sauber auseinander: Annas Geschichte ist nachempfunden und schafft Nähe - dazwischen stehen die historischen Fakten, die Tiefe liefern und erst nachvollziehbar machen, welche politischen Umbrüche damals das Land umtrieben.
«Das Geburtsverhör» ist das Werk einer erfahrenen Journalistin. Vierzig Jahre lang hat Stibler für verschiedene Medien - unter anderem «Basler AZ», aber auch schon für die WOZ - gearbeitet. Sie weiss nicht nur, wie man Geschichten recherchiert, sie kann auch gekonnt Geschichte erzählen.
Linda Stibler: Das Geburtsverhör. eFeF-Verlag. Bern 2006. 176 Seiten. 29 Franken