Hungerstreik: Ausgezehrte Hoffnung

Nr. 13 –

Seit acht Wochen verweigert der kurdische Flüchtling Mehmet Esiyok alle Nahrung. Er soll in die Türkei ausgeliefert werden - mit einer Garantie für eine «menschenrechtskonforme» Behandlung. Ein Präzedenzfall?

Am Donnerstag befindet sich der kurdische Flüchtling Mehmet Esiyok seit 57 Tagen im Hungerstreik. Das hochrangige Mitglied der kurdischen Separatistenorganisation PKK protestiert damit gegen seine geplante Auslieferung an die Türkei. Esiyok befindet sich in einer akut lebensbedrohlichen Situation. So starb beispielsweise der IRA-Aktivist Bobby Sands nach einem 66-tägigen Hungerstreik. Kurz vor Redaktionsschluss ist Esiyok ansprechbar und im Gespräch konzentriert - noch. «Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit kündigen eine Verschlechterung seines Zustandes an», sagt Rolf Zopfi von Augenauf.

Momentan wird Esiyok in der Gefangenenabteilung des Inselspitals in Bern betreut. Letzte Woche unterschrieb er eine schriftliche Verfügung, die den behandelnden ÄrztInnen untersagt, ihm bei Bewusstlosigkeit Nahrung zuzuführen. Das Inselspital hält sich beim Umgang mit Inhaftierten im Hungerstreik an die entsprechenden Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Das heisst, der Wille des Patienten wird respektiert, es gibt keine Zwangsernährung. Ansonsten unternehmen die ÄrztInnen alles, um Esiyok am Leben zu erhalten. «Zur lebensrettenden Begleitung des Patienten gehören intensive Gespräche, das Anbieten von Essen und gesüsstem Tee oder die Aufklärung über das Risiko bleibender körperlicher Schäden», beschreibt Markus Hächler vom Inselspital die begrenzten Möglichkeiten. Esiyok wäre der erste Mensch, der in der Schweiz an den Folgen eines Hungerstreiks sterben würde.

Seit Ende 2005 in Haft

Wer ist Mehmet Esiyok, und was brachte ihn dazu, einen unbefristeten Hungerstreik zu führen? Der Kurde schloss sich 1989 im Alter von 23 Jahren der PKK an. 1994 wurde er ins Zentralkomitee gewählt, 2003 in den Vorstand des Kongra-Gel, einer Nachfolgeorganisation der PKK. Naturgemäss gibt es unterschiedliche Schilderungen dieser Zeitspanne. Esiyok sagt, dass er vor allem für administrative und diplomatische Aufgaben zuständig gewesen sei und zudem journalistisch gearbeitet habe. Er habe sich seit Ende der neunziger Jahre für einen Waffenstillstand und eine politische Lösung der Kurdenfrage eingesetzt. Der türkische Staat hingegen wirft Esiyok terroristische Aktivitäten vor, darunter auch mehrere Tötungsdelikte.

Fest steht, dass Esiyok am 15. Dezember 2005 unter falscher Identität in die Schweiz geflüchtet ist. Am Flughafen Zürich-Kloten stellte er ein Asylgesuch. Fünf Tage später wurde er dort verhaftet, auf Ersuchen von Interpol Ankara. Seitdem sitzt Esiyok in Haft. Am 30. Januar 2006 ersuchte die Türkei formell um die Auslieferung von Esiyok, aufgelistet wurden 31 angebliche Straftaten. Daraufhin verlangte das Bundesamt für Justiz (BJ) von der türkischen Botschaft Garantien für eine menschenrechtskonforme Behandlung von Esiyok bei einer allfälligen Auslieferung.

Dieser Punkt ist aus zwei Gründen interessant: Erstens geht man beim BJ offensichtlich davon aus, dass sich die Türkei nicht an die Menschenrechte hält. Zweitens hat die Schweiz selber bis vor kurzem offiziell die Position vertreten, dass diese sogenannten «diplomatischen Zusicherungen gegen Folter» - die seit einigen Jahren im Zuge des «Kriegs gegen Terror» international vermehrt angewandt werden - kein adäquates Mittel zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen sind. Auch das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte, der Uno-Sonderberichterstatter für Folter und der Hochkommissar für Menschenrechte des Europarates lehnen sie ab. Und schliesslich sind diese «Zusicherungen» nichts weiter als ein juristischer Kniff, um Gesetze zu umgehen und Menschen an Folterstaaten auszuliefern.

Rechtshilfe abgelehnt

Das Bundesamt für Justiz will von all dem nichts wissen: «Den schweizerischen Behörden ist kein Auslieferungsfall bekannt, wo solche Garantien für ein menschenrechtskonformes Verfahren nicht eingehalten worden sind», so Folco Galli vom BJ. Nicht bekannt ist ihnen demnach der Fall Ahmed Agiza: Der Asylbewerber wurde von Schweden im Jahr 2001 an Ägypten ausgeliefert, wo er trotz «Zusicherungen gegen Folter» geschlagen und mit Elektroschocks misshandelt wurde. Der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sind weitere Fälle bekannt.

Zurück zu Mehmet Esiyok: Nach einigem diplomatischem Hin und Her übermittelte die türkische Botschaft die verlangten Zusicherungen: Zugang zu einem Anwalt, erlaubte Besuche von der Familie und Bekannten, Wahrung der physischen und psychischen Integrität und das Verbot der Verfolgung wegen allfälliger politischer Hintergründe. Die involvierten Bundesämter werteten positiv, dass die türkische Botschaft - im dritten Anlauf - eine befriedigende diplomatische Zusicherung gegeben hatte. Dies zeige den «ernsthaften Willen zur Einhaltung» der Garantien. Eine etwas eigenwillige Argumentation. Am 26. August 2006 entschied das BJ, dass Esiyok ausgeliefert werden kann - und soll. Allerdings lehnte das Bundesamt die Rechtshilfe bei dreissig Anklagepunkten wegen zu dünner Beweislage ab, zum Schluss blieb eine einzige Anklage übrig: Esiyok soll als Gruppenführer der PKK im Jahr 1994 die Ermordung eines sogenannten «Dorfhüters» befohlen haben. Gegen den Auslieferungsentscheid des BJ legte Esiyok beim Bundesgericht Beschwerde ein. Wenig später stellte Bundesrat Christoph Blocher bei seinem umstrittenen Besuch in der Türkei im Oktober des vergangenen Jahres seinen Gastgebern die Auslieferung von Esiyok in Aussicht (nebst drei anderen türkischen Staatsangehörigen, unter anderem Erdogan Elmas) - Blocher ignorierte damit die für einen Rechtsstaat fundamentale Gewaltentrennung.

Am 14. November 2006 folgte der nächste Schlag. Das Bundesamt für Migration (BFM) lehnte das Asylgesuch von Esiyok ab. Die Begründung: Gemäss Genfer Flüchtlingskonvention erhalten Personen kein Asyl, bei denen «die Annahme gerechtfertigt ist, dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen ausserhalb des Aufnahmelandes begangen haben (...)». Gegen den negativen Asylentscheid wurde bei der Asylrekurskommission Beschwerde eingelegt.

Umstrittenes «Monitoring»

Am 23. Januar dieses Jahres lehnte das Bundesgericht die Beschwerde gegen den Auslieferungsentscheid des BJ ab, da die gegen Esiyok erhobenen Vorwürfe «nicht als rein politisch oder rassistisch motiviert eingestuft» wurden. Dem Bundesgericht gingen allerdings die vom BJ ausgehandelten Garantien für eine menschenrechtskonforme Behandlung zu wenig weit, es verlangte ein umfassendes sogenanntes «Monitoring»: VertreterInnen der Schweizer Botschaft sollen die Möglichkeit haben, Esiyok in der Haft jederzeit ohne Aufsicht zu besuchen und an den Gerichtsverhandlungen teilzunehmen. Werden die Zusicherungen nicht eingehalten, soll Esiyok das gegenüber dem BJ oder der schweizerischen Vertretung vor Ort beanstanden können. Menschenrechtsorganisationen stehen diesem Monitoring skeptisch gegenüber. Rolf Zopfi von Augenauf sieht einen Interessenkonflikt: «Wenn festgestellt wird, dass Esiyok gefoltert wurde, hat sich die Schweiz der Missachtung von internationalen Konventionen schuldig gemacht. Sie hat kein Interesse, dies öffentlich zu machen.»

Unter grossem Druck

Als Esiyok den Auslieferungsentscheid des Bundesgerichtes erfuhr, begann er seinen unbefristeten Hungerstreik. Kurz darauf willigte die Türkei in die vom Bundesgericht verlangten neuen Auflagen ein. Damit verhindert momentan nur noch der hängige Rekurs gegen den negativen Asylentscheid eine sofortige Auslieferung Esiyoks an die Türkei.

Rolf Zopfi kritisiert die Schweizer Behörden scharf: «Die bisherigen Entscheide des BJ und des BFM lassen nur eine Interpretation zu: Es wurde der politische Entscheid gefällt, versuchsweise Auslieferungen von Mitgliedern der in der Türkei verbotenen Organisationen durchzuführen.» Offensichtlich stehe die Schweizer Regierung unter grossem Druck, ihre Politik gegenüber der kurdischen Befreiungsbewegung in der Türkei zu ändern. «Diesem Druck wird Esiyok geopfert.»

Zopfi begleitet Esiyok auch während dessen Hungerstreiks, «eine äusserst belastende Situation». «Manchmal frage ich mich, ob ich bei einer politischen Kampagne tätig bin oder eine Sterbebegleitung mache.» Augenauf unterstützt den Kampf Esiyoks gegen seine Auslieferung zwar uneingeschränkt, findet jedoch den unbefristeten Hungerstreik in der aktuellen Situation falsch. Denn nach wie vor gibt es eine reelle Chance, dass das Bundesverwaltungsgericht (als Nachfolgeorganisation der Asylrekurskommission) Esiyok erlaubt, in der Schweiz zu bleiben. Zudem wird momentan eine Beschwerde an das Uno-Komitee gegen Folter in Genf und an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg vorbereitet. Stirbt Esiyok, werden diese Verfahren umgehend eingestellt. Das hiesse auch, dass der Entscheid des Bundesgerichts zum Präzedenzfall würde.