Nekane Txapartegi: Blutergüsse? Das ist nur Dreck
Schon im Jahr 2000 hat die Uno festgelegt, wie Foltervorwürfe untersucht werden sollen. Doch die Schweiz ignoriert das Istanbul-Protokoll – und will die gefolterte Baskin Nekane Txapartegi an Spanien ausliefern.
Önder Özkalipci wundert sich über die Schweiz. Der türkische Forensiker ist einer von 75 ExpertInnen, die das Istanbul-Protokoll ausgearbeitet haben: das Instrument der Uno zur Untersuchung von Foltervorwürfen. Letztes Jahr untersuchte er zusammen mit dem österreichischen Psychiater Thomas Wenzel die Baskin Nekane Txapartegi auf Anfrage ihrer AnwältInnen nach den Kriterien des Istanbul-Protokolls. Ihr Fazit ist klar: Txapartegi wurde gefoltert. Doch die Schweiz kümmert sich nicht um den Bericht, den Wenzel und Özkalipci verfassten. Letzte Woche hat das Bundesamt für Justiz (BJ) entschieden, eine Auslieferung Txapartegis nach Spanien sei zulässig. Und nur wenige Tage später hat nun das Staatssekretariat für Migration (SEM) Txapartegis Asylgesuch abgelehnt.
Die heute 44-jährige Nekane Txapartegi wurde 1999 verhaftet. Sie sagt, sie sei gefoltert und zu einem Geständnis gezwungen worden. Spanien wirft ihr die Unterstützung der bewaffneten baskischen Separatistenorganisation Eta vor. 2007 wurde Txapartegi zu elf Jahren Haft verurteilt. Sie tauchte unter, gründete eine Familie und lebte jahrelang unter falschem Namen in der Schweiz. Hier wurde sie vor einem Jahr verhaftet.
Psychiater Thomas Wenzel sagt: «Bei einer erzwungenen Rückkehr droht eine erhebliche psychologische Belastung bis hin zur Retraumatisierung. Es ist sogar – besonders bei Straflosigkeit der Täter oder unzulänglicher Untersuchung – mit dem Risiko erneuter Folter zu rechnen.»
Fragwürdige Schlussfolgerungen
2000 wurde das Istanbul-Protokoll von der Uno-Generalversammlung und der Menschenrechtskommission (heute Menschenrechtsrat) in Form einer Resolution angenommen. Trotzdem fehle bis heute eine Anerkennung durch die Schweiz, schreiben die Demokratischen JuristInnen (DJ). Rolf Zopfi von der Menschenrechtsgruppe Augenauf sagt: «Als Uno-Mitglied hat die Schweiz die Verpflichtung, das Istanbul-Protokoll zu beachten. Wenn sie es ernst nähme, müsste sie in jedem Asylverfahren, in dem ein umstrittener Foltervorwurf im Raum steht, von sich aus ein Gutachten auf der Basis des Protokolls veranlassen. Doch die Schweiz ignoriert das Protokoll nicht nur im Fall Nekane, sondern generell.»
Bei einer Untersuchung nach dem Istanbul-Protokoll, erklärt Önder Özkalipci, arbeite man mit vielen Elementen: Psychologische und medizinische Untersuchungen seien genauso wichtig wie das gründliche Studieren der medizinischen Akten. «Entscheidend ist, dass Mediziner und Psychiater zusammenarbeiten, denn manchmal wird ein psychisches Problem als körperliches missverstanden oder umgekehrt.» Ein gutes Beispiel dafür seien Kopfschmerzen, die von einem Trauma oder psychischem Stress herrühren, aber auch körperliche Ursachen haben könnten.
Im Fall von Nekane Txapartegi hätten die medizinischen Akten eine entscheidende Rolle gespielt: «Sie wurde nach der Folter von zwei Ärzten mehrmals untersucht: zuerst von einem Forensiker, dann von einem Gefängnisarzt. Beide Ärzte dokumentierten Spuren von Gewalt an ihrem ganzen Körper. Die Befunde stimmen mit Txapartegis Foltervorwürfen überein.» Allerdings seien die Schlussfolgerungen im Bericht des Forensikers fragwürdig: «Er sah zum Beispiel eine Verfärbung an einem ihrer Beine und folgerte, das sei möglicherweise Schmutz. Der Gefängnisarzt sah die Verfärbung auch, diagnostizierte aber Blutergüsse.» Die spanischen Gerichte und nun auch die Schweiz hätten sich ganz auf die qualitativ mangelhaften Berichte des spanischen Forensikers gestützt, bemängelt Özkalipci. «Es ist klar, dass das keine unabhängige Untersuchung war. Warum lässt die Schweiz den Fall nicht von einem unabhängigen Forensiker beurteilen? Es gibt an Schweizer Universitäten international anerkannte Forensikexperten, die Erfahrung haben beim Untersuchen von Menschenrechtsverletzungen.»
Was tut der Bundesrat?
Der spanische Staat folterte noch lange nach dem Ende der Franco-Diktatur in den siebziger Jahren – das bezeugen Amnesty International und viele andere Menschenrechtsorganisationen. Ob sich die Situation seit 1999 verbessert habe, spiele im Fall Nekane gar keine Rolle, sagt Rolf Zopfi von Augenauf: «Wenn das Urteil auf unter Folter gemachten Aussagen basiert, ist es gemäss Uno-Antifolterkonvention ungültig. Dann ist auch kein Auslieferungsverfahren möglich – egal was im betreffenden Staat in der Zwischenzeit passiert ist.»
Der grüne Zürcher Nationalrat Balthasar Glättli hat Mitte März eine Interpellation eingereicht. Er fragt den Bundesrat, ob er den Beweiswert von Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll anerkenne, ob es bei den Bundesbehörden entsprechende Weisungen gebe oder der Bundesrat bereit sei, solche zu geben.
Haben das BJ und das SEM den Bericht von Önder Özkalipci und Thomas Wenzel bei ihren Entscheidungen berücksichtigt? Das SEM schreibt: «Grundsätzlich werden alle Beweismittel, die im Einzelfall eingereicht werden, gewürdigt.» Zum konkreten Fall dürfe man «aufgrund unserer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht» keine Auskunft erteilen. Das BJ hält offensichtlich nicht viel von Özkalipcis und Wenzels Arbeit: «Alle diese Berichte und Aussagen von Drittpersonen, die keine Zeugen waren, sind allgemeine Einschätzungen und persönliche Meinungsäusserungen und können Txapartegis Foltervorwürfe nicht erhärten.»
Nachtrag vom 13. April 2017: Doppelte Ignoranz im Fall Txapartegi
«Die Schweiz ist Komplizin in diesem System der Folter und Vergewaltigung», lässt Nekane Txapartegi durch ihre Anwältin ausrichten. Indem sie nicht als Folteropfer anerkannt werde, würden auch die Taten negiert – als hätten Folter und Vergewaltigung in Spanien nie stattgefunden. Die baskische Aktivistin fühlt sich erniedrigt und gedemütigt durch den Entscheid der Schweizer Behörden, sie an Spanien auszuliefern: Einmal mehr hätten sexistische Machtstrukturen dazu geführt, dass sie als Folteropfer nicht anerkannt werde.
Seit einem Jahr sitzt Txapartegi in Zürich in Auslieferungshaft. In Spanien drohen ihr fast sieben Jahre Gefängnis, da sie die baskische Separatistenorganisation Eta unterstützt haben soll. Das Urteil beruhe auf einem Geständnis unter Folter, sagt die 44-Jährige. Die Weltorganisation gegen Folter, international renommierte medizinische und psychiatrische Gutachter sowie Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Terre des femmes und humanrights.ch stützen ihre Aussage. Nichtsdestotrotz glauben ihr die Schweizer Behörden nicht: Ende März hat das Bundesamt für Justiz das spanische Auslieferungsgesuch bewilligt, wenige Tage später lehnte das Sekretariat für Migration (SEM) Txapartegis Asylgesuch ab.
Die Schilderungen der baskischen Aktivistin seien «unvorstellbar», schreibt das SEM im Entscheid, der der WOZ vorliegt. Deshalb soll die Verurteilung in Spanien «rechtsstaatlich legitim» gewesen sein. Auch sei «rätselhaft», weshalb Txapartegi nicht bereits im Gefängnis der Guardia Civil im März 1999 Foltervorwürfe geäussert habe. Damit macht das SEM der damals 26-Jährigen zum Vorwurf, dass sie es versäumt habe, ihre Peiniger direkt mit deren Taten zu konfrontieren. Dies obwohl Txapartegi sogar unmittelbar nach ihrer Freilassung im Juni 1999 Anzeige wegen Folter erstattet hatte.
Das Bundesamt für Migration wie auch das Bundesamt für Justiz verhalten sich vollkommen ignorant – indem sie den Fall zu wenig gründlich untersucht und internationale Gutachter ignoriert haben und weil sie geschlechtsspezifische Fluchtgründe ausser Acht lassen und sexualisierte Polizeigewalt sowie systematische Folter als per se «unvorstellbar» abtun.
Merièm Strupler