Durch den Monat mit Payal Parekh (Teil 4): Lassen sich Kastensystem und Kapitalismus vereinbaren?

Nr. 43 –

Die Aktivistin Payal Parekh erzählt, wieso sie der Arbeit als Wissenschaftlerin den Rücken gekehrt hat und wie sie über die Regierung ihrer Heimat Indien denkt.

«Premier Narendra Modi macht eine Politik für die Reichen und ­Korrupten»: Payal Parekh.

WOZ: Payal Parekh, während mehr als zehn Jahren haben Sie sich parallel zu Ihrer Arbeit als Klimawissenschaftlerin in sozialen Bewegungen engagiert. Wie kam es zur Entscheidung, die Forschung an den Nagel zu hängen?
Payal Parekh: Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich nicht genügend Energie für beides habe, denn sowohl die Forschung als auch der Aktivismus verlangen einem viel ab.

Und Sie entschieden sich für den Aktivismus.
Genau, denn das ist meine Leidenschaft. Und ich hatte das Gefühl, mich entscheiden zu müssen: Damals, also vor etwas mehr als zehn Jahren, sagten mir Kolleg:innen immer wieder, ich sei viel zu politisch für die Forschung. Heute erscheinen viele von ihnen selber in den Medien und stellen politische Forderungen. 2005 gab es einen zentralen Moment, der mich darin bestärkte, mich ganz dem Aktivismus und dem Campaigning zu widmen.

Was geschah damals?
Ich lebte gerade in Indien. Es regnete in jenem Jahr unglaublich viel, ähnlich wie in Deutschland in diesem Sommer. Mumbai war drei Tage lang lahmgelegt, niemand konnte sein Haus verlassen. Es war ein so einschneidendes Erlebnis, dass dir noch heute jede:r in der Stadt genau sagen kann, wo er oder sie damals war. Über tausend Menschen sind gestorben, viele sind tagelang irgendwo festgesessen. Die Schwester einer Freundin etwa war während zwei Tagen in ihrem Auto auf einer Brücke gefangen. Mir wurde damals klar, dass dieses extreme Wetter mit dem Klimawandel zusammenhängen muss. Und so entschied ich, mich darauf zu konzentrieren, die herrschenden Bedingungen zu verändern, statt deren Auswirkungen zu erforschen.

Wie wichtig ist Umwelt- und Klimapolitik in Indien?
Nach der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 und insbesondere unter der aktuellen Regierung von Premier Narendra Modi hat Indien stark in den Ausbau von Solarenergie investiert. Mit Erfolg: Die Solarkapazität wurde in den letzten paar Jahren vervielfacht. Aber gleichzeitig verursacht das Land – das ja auch eines der bevölkerungsreichsten ist – nach China und den USA weltweit am meisten CO2-Emissionen. Trotz der Förderung von erneuerbaren Energien ist ein Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen kein Thema. In Zentral- und Ostindien gibt es grosse Kohlevorkommen, und die Regierung will zusätzliche Kohlekraftwerke bauen.

Was halten Sie von Premier Modi? Er steht ja einerseits wegen seines nationalistischen Kurses in der Kritik, andererseits wird er von den USA gerade stark umworben, weil diese in ihm einen Verbündeten gegen China sehen.
Nach Modis Vorstellung soll Indien ein Land für Hindus sein. Angehörigen anderer Religionen, insbesondere Muslim:innen, macht er das Leben schwer; sie werden systematisch diskriminiert. Allgemein werden Menschenrechte in Indien immer öfter mit Füssen getreten, Aktivist:innen werden unter fadenscheinigen Gründen verhaftet, die Pressefreiheit wird immer weiter beschnitten, unabhängige Journalist:innen werden eingeschüchtert. Es ist traurig, denn das Land wurde mit dem Ziel gegründet, der Vielfalt von Völkern, Religionen und Sprachen Rechnung zu tragen. Modi macht eine Politik für die Reichen und Korrupten.

Sie selbst kommen auch aus einer reichen Familie.
Ja, das stimmt. Obwohl wir nicht zu den Reichsten gehören, ich würde eher sagen, obere Mittelklasse.

Abgesehen von Vermögens- und Klassenunterschieden ist Indiens Gesellschaft durch das Kastensystem geprägt. Gehören reiche Familien in der Regel einer höheren Kaste an?
Es ist nicht ganz synchron: Die oberste Kaste der Brahmanen etwa ist die der Gelehrten und Priester, das sind nicht die reichsten Menschen in Indien. Aber in der Regel sind Angehörige höherer Kasten finanziell sicher besser gestellt.

Wie wichtig ist dieses System heute noch?
Es spielt nach wie vor eine grosse Rolle für die Gesellschaftsordnung. Wer beispielsweise beim Militär arbeitet, gehört in vielen Fällen zur Kaste der Krieger. Und wer die Häuser anderer Leute putzt, wahrscheinlich zu den «Unberührbaren» oder Dalit, wie sie sich selbst nennen. Diskriminierung ist in Indien offiziell verboten, gehört aber trotzdem zum Alltag. Obwohl es hier auch positive Entwicklungen gab: So gibt es heute an Hochschulen oder auch bei Beamtenberufen Quoten für Benachteiligte. Gleichzeitig ist die Schulbildung vielerorts so schlecht, dass es sowieso nur wenige bis zur Hochschulreife schaffen. Von einem chancengleichen Zugang zu Bildung kann also keine Rede sein.

Wie gut lassen sich Kastensystem und Kapitalismus vereinbaren?
Das Kastensystem ist da, um die Mehrheit zu unterdrücken und die Macht in den Händen von ein paar wenigen zu konsolidieren. Ich glaube, Kapitalismus und das Kastensystem sind eigentlich relativ einfach zu vereinbaren, da beide auf Ungleichheiten basieren und diese reproduzieren.

Payal Parekh (48) empfiehlt indische Medien, um sich über das Land zu informieren, etwa die unabhängige englischsprachige Newsplattform «The Wire».