«Diese Geschichte ist nicht abgeschlossen und wird es nie sein» Nadine Olonetzky und Özlem Çimen setzen sich in ihren Büchern mit ihren Familien auseinander und zeigen auf, wie sich Kriege und Massaker in Menschen einschreiben und Traumata weitergegeben werden.

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WOZ: Nadine Olonetzky, in Ihrem Buch recherchieren Sie die Geschichte Ihres Vaters, der als junger jüdischer Mann in die Schweiz geflüchtet ist und so den Holocaust überlebt hat. Sie, Özlem Çimen, entdecken in Ihrem Buch, dass Ihre Familiengeschichte mit dem Genozid an den Armenier:innen sowie dem Massaker an den Zaza-Kurd:innen in Dersim in den dreissiger Jahren verbunden ist. Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Familiengeschichte auch für andere Menschen relevant sein könnte, und sich entschieden, ein Buch darüber zu schreiben?

Özlem Çimen: Ursprünglich habe ich die Geschichte für meine Kinder aufgeschrieben. Ich hatte mich für einen Schreibkurs bei der Autorin Gabrielle Alioth angemeldet, doch der fand wegen zu wenig Anmeldungen nicht statt. Sie sagte, ich solle ihr trotzdem mal schicken, was ich geschrieben hätte. Als sie den Text gelesen hatte, wollte sie mehr davon, und sie meinte, sie kenne Leute, die sich für diese Geschichte interessieren würden. Sie hat mein Manuskript dann dem Limmat-Verlag geschickt. Ich habe bis zuletzt nicht richtig begriffen, was passiert. Erst als ich den Vertrag unterschrieben habe, habe ich realisiert: Es gibt tatsächlich Leute, die sich für diese, für meine Geschichte interessieren.

Nadine Olonetzky: Ich hatte schon länger gespürt, dass ein grösserer Text wartet – vielleicht nicht gerade so ein dickes Buch. Vor etwa sechs Jahren habe ich bereits angefangen, einzelne Abschnitte zu schreiben. Es war eine Art Suche nach der Sprache: Wie erzähle ich das? Ende 2019 habe ich dann – endlich! – beschlossen, für meine in der Nazidiktatur ermordeten Familienmitglieder Stolpersteine in Stuttgart zu setzen. In diesem Zusammenhang machte ich nochmals biografische Recherchen und forderte in fünf unterschiedlichen Archiven Material an. Als mir das digitalisiert zugeschickt wurde, gab es zwei Überraschungen: Die erste war, wie viel Material ich erhielt. Da sind JPEGs und PDFs reingerattert – das hat mich umgehauen.

Portraitfoto von Nadine Olonetzky
«Ich habe manchmal die Fantasie, dass mein Vater ­auftaucht und sagt: ‹Das war gar nicht so›, und dann kommt noch mal eine Version der Geschichte»: Nadine Olonetzky. 

Und die zweite Überraschung?

Olonetzky: Dass ich über meinen Grossvater Moritz und meine Tante Anna, die beide von den Nazis ermordet worden waren, in den Dokumenten kaum etwas fand. Dafür unglaublich viel über meinen Vater. Mein Vater hat während fast sechs Jahren Zwangsarbeit in Deutschland geleistet. Er ist dann unter unvorstellbar schwierigen Umständen in die Schweiz geflüchtet. Der Moment, in dem ich merkte, ich muss diese Geschichte unbedingt erzählen, kam bei der Lektüre dieser Dokumente.

Wann genau?

Olonetzky: Ein Auslöser für dieses Buch war: Mein Grossvater musste, als die Nazis an die Macht kamen, immer wieder umziehen, schliesslich wurde er deportiert und ermordet. Alles, was die Familie je besessen hatte, wurde konfisziert und gestohlen. Bis auf dieses Bild hier (zeigt auf den Buchumschlag, auf dem ein Kinderfoto ihres Vaters abgebildet ist). Mein Vater hat später über Jahre Korrespondenz mit dem «Landesamt für die Wiedergutmachung» geführt, was alles in den Dokumenten festgehalten ist. Die Sprache dieser Dokumente ist ungeheuerlich. Da kamen mir Ausdrücke entgegen, die ich so noch nie gehört hatte: unter anderem «das Imstichlassen des Hausrats». Als ich das las, dachte ich: «Wie bitte?» Zuerst wird man bestohlen, dann wird man ermordet, und dann heisst es, man habe seinen Hausrat «im Stich gelassen». Das ist so grotesk. Da merkte ich: Das muss ich erzählen. Ich dachte: Diese Geschichte bleibt nicht in mir stecken. Die muss wieder raus. Die muss zu einer Form werden, die ohne mich stehen kann. Und bereits während des Lesens habe ich die Sprache gefunden, in der ich die Geschichte erzählen will.

Es war sehr schwierig, diese Dokumente zu lesen, und wirklich wichtig, gut und schön, das alles aufzuschreiben.

Portraitfoto von Özlem Çimen
«Ich muss meinen Eltern das Buch noch schicken. Aber ich glaube, selbst wenn sie es einen Schmarren finden würden, würden sie sagen, dass alles gut sei»: Özlem Çimen.

Wie lief das Schreiben bei Ihnen, Özlem Çimen?

Çimen: Es hat mir tatsächlich grossen Spass gemacht. Freunde haben mich gefragt, ob es nicht streng gewesen sei. Aber nein, das war es nicht. Diese Geschichten waren ja immer in mir drin. Ich habe sie mit mir herumgetragen, und nun konnte ich sie endlich aufschreiben. Es war für mich wie ein Rendezvous mit mir selbst. Natürlich hatte ich auch Gefühlswallungen, ich war wütend, aufgewühlt – und ab und zu musste ich schmunzeln. Ich musste dann verschiedene Sprachen und Erzählformen finden, denn ich erzähle ja auf drei unterschiedlichen Zeitebenen: einmal, als ich ein Kind war, dann als erwachsene Frau und schliesslich noch aus dem «Jetzt».

Eine Erzählebene spielt im Jahr 1990, als Sie Ihre Sommerferien bei Ihren Grosseltern in deren kleinem Dorf in der Türkei verbrachten. Sie gingen früher jedes Jahr dorthin. Warum haben Sie ausgerechnet dieses Jahr gewählt?

Çimen: Da war ich neun und somit alt genug, um gewisse Dinge zu realisieren, aber zu jung, um sie richtig fassen zu können. Da waren diese traurigen Lieder, die gesungen wurden, und Geschichten, die man sich erzählte, aber die ich nicht wirklich verstand – und von denen ich auch nicht wusste, ob sie wirklich stimmten. Ich spürte: Etwas ist in der Luft, etwas ist passiert, aber niemand redet darüber.

Ihr Buch ist stark aus Kindheitserinnerungen heraus geschrieben. Gab es bei Ihnen auch Dokumente, Briefe oder Fotos, die Sie für das Buch studierten?

Çimen: Nein, familienintern existieren gar keine Dokumente. Und während es zum Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern mittlerweile etwas Literatur gibt, findet man zum Massaker in Dersim kaum etwas. Denn das ist ja das Krasse: Noch heute will man diese Geschichten lieber nicht an die Oberfläche bringen.

Ich wurde übrigens gefragt, warum ich mit meinem richtigen Namen im Buch stünde, da ich bei anderen Protagonist:innen die Namen geändert habe.

Und warum haben Sie das so gemacht?

Çimen: Weil ich zur Wahrhaftigkeit dieser Geschichte stehen will und mich nicht hinter einem falschen Namen verstecken möchte. Und ja, es gibt eine unschöne Seite: Mein Urgrossvater war beteiligt am Völkermord an den Armenier:innen. Von dieser Geschichte möchte ich eigentlich nicht Teil sein. Wenn ich zurückgehen könnte, würde ich diesen Part ausradieren. Kann ich nicht. Gehört dazu. Unschön. Und warum hat er da mitgemacht? Weil er Soldat einer Macht war, der er nicht ausweichen konnte.

Dann gibt es die andere Geschichte, in der unsere Familie Opfer war: Meine Grosseltern, die zur kurdischen Minderheit der Zaza gehörten, wurden 1937 vom türkischen Militär deportiert. Das ist auch unschön. Aber auch diese Geschichte müssen wir anschauen und erzählen. Ich wollte endlich dieses Schweigen brechen.

Olonetzky: Auch ich breche ein Schweigen – und das braucht schon Mut. Es gibt eine Art Familiengebot, nur im kleinen Kreis über die Familiengeschichte zu reden. Und ich gehe jetzt damit an die Öffentlichkeit. Natürlich, im Unterschied zu Ihrer Geschichte, Özlem Çimen, gibt es schon viele Bücher über den Holocaust. Da kann man sagen: Jetzt kommt nochmals eines. Aber mein Buch erzählt eine Geschichte, von der viele noch nie gehört haben: von der sogenannten Wiedergutmachung.

Als Leserin Ihres Buchs ist man mit dabei, wenn Sie die über 2000 Seiten Dokumente durchforschen und Dinge erfahren, die Ihr Vater Ihnen verschwiegen hat, oder auf Widersprüche stossen zwischen den Erzählungen Ihres Vaters und den Akteneinträgen.

Olonetzky: Die Widersprüche stecken zum Teil schon in den Akten selber drin: Für «Wiedergutmachung» konnte man beim deutschen Staat Geld anfordern für ganz bestimmte Schäden, die man durch den Krieg erlitten hatte: «Schaden an Freiheit», «Schaden an Eigentum» oder «Schaden an Körper und Gesundheit». Jeden Aspekt musste man einzeln verfolgen. Das bedeutet, du kommst und sagst, du willst wegen «Schaden an Eigentum» eine Entschädigung. Und dann heisst es: «Ha, wer bist du denn überhaupt? Wer beweist, dass du das tatsächlich besessen hast? Dass du nicht lügst?» Du musst also zuerst beweisen, wer du bist, was du besessen hast und woher du kommst. Du musst Zeugen holen, die unter Eid aussagen müssen – wie du selbst übrigens auch. Und da gibt es Widersprüche in den Akten: Mein Vater sagt, er sei im Arbeitslager in Bielefeld gewesen. Der Polizeikommandant von Bielefeld sagt, das sei ein «Gemeinschaftswohnlager» gewesen. Ich bin dem nachgegangen. Und am Schluss fand ich heraus, dass mein Vater recht hatte: Es war ein Arbeitslager, der Polizeikommandant hatte gelogen.

Das ist krass.

Olonetzky: Ein anderer Widerspruch: Mein Vater hat mir, als ich noch ein Kind war, erzählt, er sei bei seiner Flucht bei Basel über den Rhein geschwommen. Viele sind über den Rhein geschwommen, was total gefährlich war. Und auch er ist auf sehr gefährliche Weise in die Schweiz geflüchtet. Aber heute weiss ich aus den Dokumenten: Er ist nicht über den Rhein geschwommen. Und ich frage mich mittlerweile, ob ich mich falsch erinnere oder ob er gelogen hat. Aber warum sollte er das tun? Was er erlebte, war ja schon so schlimm, das musste er nicht noch dramatisieren – was er übrigens bis auf diesen einen Moment auch nie gemacht hatte. Aber wie gesagt, vielleicht erinnere auch ich mich einfach falsch. Er hat mir das ja erzählt, als ich fünfzehn war, das ist auch schon 47 Jahre her.

Filmszene aus Super-8-Film abfotografiert: Vater und Tochter beim Spielen
Das Foto stammt aus einem Bildessay der WOZ-Fotografin Ursula Häne: Sie hat Filmszenen aus Super-8-Filmen abfotografiert, die ihr Vater in den siebziger Jahren aufgenommen hat.

Auch bei Ihrem Vater, Özlem Çimen, gibt es Zweifel an seiner Version der Geschichte, und auch er verschweigt einiges. Wie gehen Sie als Autorin mit solchen Lücken oder möglichen Unwahrheiten um?

Çimen: Natürlich, es ist so, dass mein Vater nicht über alles spricht. Es wäre ja auch seltsam, wenn er jetzt plötzlich alles auf den Tisch legen würde. Und ja, ich kann ihm auch nicht alles abkaufen. Aber das ist jetzt mein Job, dass ich lerne, damit klarzukommen, dass ich nicht alles weiss. Ich verstehe auch immer noch nicht alles. Es gab Phasen, in denen ich dachte, zu verstehen, was passiert ist – und dann erfuhr ich etwas, das alles wieder über den Haufen geworfen hat. Das muss man aushalten. Auch wir erzählen die Geschichte lückenhaft, das muss die nächste Generation dann auch ertragen.

Olonetzky: Das sehe ich auch so. Ich habe in meinem Buch eine Art Trick angewendet: Einerseits stelle ich die Fragen, die ich meinem Vater nie stellen konnte. Aber ich erzähle auch vieles mittels Fragen. Ich frage mich: Könnte es so gewesen sein? Wie hat er sich gefühlt? Wie muss es damals gewesen sein? Wie ist es heute? Ich verbinde die Geschichte ja mit der Gegenwart – das ist mir wichtig, mein Buch ist ein Buch, das auch von der Gegenwart erzählt. Und dadurch, dass ich Fragen stelle, erzähle ich viel, ohne zu behaupten, es sei wirklich so gewesen. Diese Leerstellen lasse ich einfach stehen.

Und so löse ich in den Leser:innen die unterschiedlichsten Vorstellungen aus. Das gefällt mir. Eine deutsche Kollegin hat mir gesagt, als sie mein Buch gelesen habe, habe sie sich plötzlich gefragt: «Woher kommt eigentlich der Schreibtisch bei uns zu Hause?» Und ich dachte: «Ja, vielleicht war es mal unser Schreibtisch, und ihr habt ihn unserem Grossvater zu einem Schleuderpreis abgekauft.» Aber wahrscheinlich nicht. Doch diese Verbindungen sind spannend. Über Fragen, Leerstellen und Lücken passiert etwas bei den Leser:innen, das wichtig ist.

Ihr Vater, Özlem Çimen, lebt noch. Wie hat die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte Ihre Beziehung zu ihm verändert?

Çimen: Alles in allem hat es uns näher zusammengebracht, wir teilen jetzt eine gemeinsame Geschichte, die wir zwar nicht zusammen erlebt haben, aber die unser Leben entscheidend prägt. Er und auch meine Mutter haben sich sehr gefreut, dass ich mich damit auseinandersetze – es ist für sie eine Würdigung ihrer Lebensgeschichte. Allerdings können sie beide immer noch nicht so richtig zu ihren Zaza-Wurzeln stehen. Ich lerne jetzt die Zaza-Sprache in einem Onlinekurs. Mein Vater schrieb mir eines Tages ein SMS: «Du lernst Zaza. Bist du jetzt Kurdin?» Ich habe ihm zurückgeschrieben: «Ja, und du bist der Oberkurde.» Dann schickte er ein «Daumen hoch»-Zeichen zurück. Einerseits macht er sich lustig über mich, andererseits freut es ihn auch. Die Kolleg:innen aus dem Sprachkurs freuen sich alle wahnsinnig über das Buch, weil sie sich endlich gesehen fühlen.

Haben Ihre Eltern Ihr Buch gelesen?

Çimen: Noch nicht. Meine Eltern leben in der Türkei, und ich muss es ihnen noch schicken. Aber ich glaube, selbst wenn sie das Buch einen Schmarren finden würden, würden sie sagen, dass alles gut sei.

Olonetzky: Das ist lustig, dass Sie das so sagen. Ich habe manchmal die Fantasie, dass mein verstorbener Vater auftaucht und sagt: «Das war gar nicht so», und dann kommt noch mal eine neue Version der Geschichte.

Was hat diese biografische Recherche mit Ihrer eigenen Identität gemacht?

Çimen: Dass ich Zaza lerne, ist eine Folge dieser Recherche. Zu erfahren, eigentlich hätte ich diese Sprache in die Wiege gelegt bekommen sollen, eigentlich hätte ich eine andere Identität haben sollen, das hat schon etwas mit mir gemacht. Jahrelang hiess es, wir seien Türken, aber ich konnte mich nie mit anderen Türk:innen identifizieren, weil ich merkte, sie haben eine andere Religion als wir, irgendetwas stimmt einfach nicht. Und jetzt denke ich, wow, hätte ich schon früher gewusst, woher ich komme, wäre ich vielleicht ein bisschen selbstbewusster gewesen.

Meine zehnjährige Tochter sagte vor kurzem: «Mami, ich komme überhaupt nicht mehr draus. Zuerst hiess es, ich sei halb Türkin. Ich habe das akzeptiert. Dann hiess es, ich sei Kurdin, und jetzt bin ich plötzlich Zaza. Ich verstehe nichts mehr.» Im Moment möchte sie das am liebsten alles weit von sich wegweisen und sagen können: «Ich bin Schweizerin und Punkt.» Ich muss das akzeptieren. Aber sie weiss, wo sie sich all die Infos holen kann, wenn sie möchte.

Olonetzky: Auch ich habe nie richtig dazugehört: Zwar bin ich Schweizerin – mein Vater wurde eingebürgert –, aber mit unserem «komischen» Namen fielen wir in den sechziger Jahren noch wahnsinnig auf. Für die strenggläubigen Juden bin ich auch keine Jüdin, da ich eine christliche Mutter habe – wobei das heutzutage nicht mehr so eine Rolle spielt. Dieses «Dazwischensein» hat immer zu mir gehört und hat meine Identität ausgemacht. Ich habe übrigens auch herausgefunden, dass ich getauft wurde. Das finde ich einerseits komisch, andererseits hatte mein Vater ganz offensichtlich Angst um mich. Und seit der Messerattacke auf einen jüdischen Mann Anfang März hier in Zürich muss man tatsächlich wieder Angst haben, wenn man jüdisch ist – was wirklich schlimm ist. Ich bin nicht religiös, aber ich bin kulturell mit der Geschichte verbunden. Und die war einfach schon da, als ich zur Welt kam.

Ein Freund von mir hat vor kurzem zu mir gesagt, der Holocaust interessiere ihn schon lange nicht mehr. Aber mein Buch werde er lesen, weil es um Fotografie gehe. Da dachte ich, okay, ich kann diesen Satz «Der Holocaust interessiert mich nicht mehr» nicht sagen. Ich habe diese Wahl einfach nicht.

Und um auf die Frage zurückzukommen: Die ganze Recherche hat eher eine Verdichtung meiner Identität als eine Erneuerung oder eine Ausweitung ergeben.

Filmszene aus Super-8-Film abfotografiert: Kinder reiten auf zwei Pferden
Das Foto stammt aus einem Bildessay der WOZ-Fotografin Ursula Häne: Sie hat Filmszenen aus Super-8-Filmen abfotografiert, die ihr Vater in den siebziger Jahren aufgenommen hat.

Sie haben vorhin diesen Satz gesagt: «Die Geschichte war schon da, als ich zur Welt kam», Sie sind ja beide Nachgeborene aus der Generation, die die Katastrophe nicht mehr selber erlebt hat …

Olonetzky: … und es gibt immer wieder die Leute, die sagen: «Das ist doch schon so lange her, vergiss es doch endlich.» Das kennen Sie sicher auch, Özlem Çimen.

Çimen: Oh ja. Oder jene, die sagen: «Das war früher halt einfach üblich, dass man getötet hat.» Oder: «Völkermorde hat es schon immer gegeben, das gehört einfach dazu.» Aber das ist einfach nicht richtig. Und wenn ich meine Grosseltern vor Augen habe und mir vorstelle, wie viel Blut und wie viele tote Menschen sie gesehen haben, dann frage ich mich: Wie konnten sie normal weiterleben? Wie geht das?

Ich arbeite mit Kindern aus der Ukraine und aus Syrien, die zum Teil hochtraumatisiert sind. Wir versuchen, ihnen hier eine Therapie anzubieten, was sicher gut ist, aber es funktioniert oft nicht. Denn in erster Linie wollen diese Kinder sich schützen, und sie können nicht über das reden, was sie erlebt haben. Und das ist auch in Ordnung. So ging es meinen Grosseltern: Es war ein Schutz, den sie sich aufbauten, indem sie nicht darüber sprachen und einfach weitermachten. Sie wollten einfach ein möglichst normales Leben führen.

Olonetzky: Was Sie sagen, ist wichtig: Es gibt immer Folgen. Und es gibt Wiederholungen. Klar, die Shoah wurde mit einer bestialischen, kalten Systematik durchgeführt, die schon beispiellos ist. Aber trotzdem, wir sehen es heute: Wieder müssen Leute flüchten. Wieder verlieren sie alles. Wieder müssen sie neu anfangen. Wieder träumen sie schlecht. Wieder verliert eine Familie alle Dinge, die sie an ihre Vergangenheit erinnern, und es bleibt ihnen nichts ausser ein Foto. Übrigens zurzeit auch in Israel und Palästina, was mich sehr erschüttert. Wie viele wünsche ich mir einfach nur Frieden – auch wenn er weiter entfernt ist denn je. Doch es gibt nichts anderes, als miteinander zu reden. Was am 7. Oktober passiert ist, ist die erneute Traumatisierung: Meine Verwandten hockten wieder im Luftschutzkeller. Aber was jetzt im Gazastreifen angerichtet wird, ist auch ganz schrecklich. Ich weiss, es klingt komplett naiv. Aber ich weiss keinen anderen Weg als jenen, den Friedensinitiativen wie Standing Together und Parents Circle gehen: miteinander reden, reden, reden.

Und ich schaue in meinem Buch zurück, aber ich erzähle auch von heute. Denn diese Geschichte ist ja nicht abgeschlossen – und wird es nie sein.

In beiden Büchern sind die Motive des Gartens und der Erde wichtig. Sie, Nadine Olonetzky, machen Einschübe, die jeweils von Ihrem Garten im Lauf eines Jahres erzählen. Und Sie, Özlem Çimen, drucken in der Mitte Ihres Buchs den Text eines Volkslieds ab, das von der «schwarzen Erde» erzählt. Warum sind diese Motive so wichtig?

Olonetzky: Bei mir ist zum einen das Motiv der Trümmerberge wichtig. Am Schluss des Zweiten Weltkriegs hat man die Trümmer zu Bergen aufgeschüttet. Und dann ist da im buchstäblichen Sinn Gras darüber gewachsen, und man tut so, als ob nichts darunter wäre. Dieses Motiv, das auch mit Reden, Schweigen und dem Wiederaufbau eines neuen Lebens zu tun hat, hat mich sehr beschäftigt.

Dann versuche ich, im Garten eine Art Gegenzeit zu schaffen zu den in der Zeit hüpfenden Erzählungen im Buch: Im Garten herrscht eine zyklische Zeit, in der etwas wächst, gross wird, blüht, stirbt – und wieder blüht. Das hat auch sehr viel Tröstliches, Heilendes, aber auch Normales. Der Garten blüht halt, weil er blüht. Ausserdem sind diese Stellen eine Art Atempause: Man kann sich beim Lesen kurz ausruhen. Und zu guter Letzt kann man im Garten das Grosse im Kleinen sehen: Im Kleinen zeigen sich die grossen Lebenszyklen.

Çimen: Bei mir ist die Natur allgemein ganz zentral. Meine Grosseltern hatten diesen Aprikosengarten. Die Aprikosenbäume waren sehr, sehr wichtig. Dank ihnen haben meine Grosseltern überlebt: Sie haben die Aprikosen getrocknet und verkauft. Dazu kommt, dass wir eine Naturreligion haben. Man sieht Gott immer in der Natur: im Fluss, in der Quelle, in den Bergen, im Baum, in den Blättern, in den Aprikosen und so weiter. Das wollte ich auch rüberbringen: dass die Natur für uns so wichtig ist.

Doch diese Natur wurde zerstört durch den Völkermord. Als die türkische Armee mit den Deportationen begann, brannte sie alles nieder. Später, als meine Grosseltern in ihr Dorf zurückkehrten, war nichts mehr da, sie mussten von vorn anfangen. Mein Vater sagt, diese Erde sei einmal rot gewesen, sie habe nur aus Blut und Tränen bestanden. Darum kommt auch dieses Lied von Âşık Veysel im Buch vor: Diese schwarze Erde ist für uns so wichtig, sie ist unser Boden. Diese Erde hat uns zu essen gegeben. Und am Ende, das singt Veysel so schön, wird diese Erde ihn umarmen, und schliesslich werden wir alle von der Erde umarmt. Das ist der Weg. Und in Liedern wie diesem werden unsere Geschichten weitererzählt. Diese Lieder sind unsere Bücher, unsere Literatur.

Familie und das Grauen

Als sie fünfzehn ist, erzählt der Vater im Botanischen Garten in Zürich zum ersten und einzigen Mal seiner Tochter Nadine Olonetzky von seiner Flucht vor den Nazis in die Schweiz und dass sein Vater und eine Schwester im KZ ermordet wurden. Es ist ein Schock für sie, auch wenn sie seit früher Kindheit spürte, dass ihr etwas Schlimmes verheimlicht wird. Jahrzehnte später macht sich Nadine Olonetzky auf Spurensuche: Sie reist den Orten ihrer Familien nach – Israel, Olonez in Russland, Izbica in Polen und Stuttgart –, sie studiert die unzähligen Fotos, die ihr Vater gemacht hat, und sie liest Tausende von Seiten Archivdokumente. In «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist» erzählt sie in schlichter und poetischer Sprache von dieser Suche – und zeigt auf, wie die grossen menschlichen Verwerfungen bis heute im Kleinen nachwirken.

Davon erzählt auch Özlem Çimens Buch «Babas Schweigen», und auch bei ihr steht die eigene Familie im Zentrum: Jedes Jahr reiste die in Luzern aufgewachsene Autorin als Kind in die Türkei zu ihren Verwandten. Im Dorf bei den Grosseltern geniesst sie viele Freiheiten, klettert mit ihren Cousinen und Cousins auf Aprikosenbäume und badet unbeaufsichtigt im Bach. Doch sie spürt, dass ihr etwas verschwiegen wird. Nur ansatzweise wird im Buch angedeutet, wie das Dorf und Çimens Familie mit dem Genozid an den Armenier:innen und dem Dersim-Massaker von 1937 verbunden sind – und warum bis heute niemand darüber redet. Vieles bleibt unausgesprochen in dieser zu grossen Teilen aus der Perspektive der Neunjährigen erzählten Geschichte – und doch dringt durch jede Zeile dieser vordergründig leicht daherkommenden Erzählung das dahinterliegende Grauen.  

Özlem Çimen: «Babas Schweigen». Limmat Verlag. Zürich 2024. 120 Seiten. 30 Franken.

Nadine Olonetzky: «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist». S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2024. 448 Seiten. 38 Franken.

Vernissage «wobei» in Solothurn am Freitag, 10. Mai 2024, um 17.30 Uhr, mit Özlem Çimen und Nadine Olonetzky. Moderation: Silvia Süess.

Özlem Çimen liest in Solothurn am Sonntag, 12. Mai 2024, um 14.30 Uhr. Nadine Olonetzky liest in Solothurn am Freitag, 10. Mai 2024, um 15 Uhr, Samstag, 11. Mai 2024, um 19 Uhr, Sonntag, 12. Mai 2024, um 16 Uhr.