Chemikalien: Die guten alten Gifte

Nr. 29 –

Industriell hergestellte Substanzen sind überall, und manche von ihnen gefährden Mensch und Umwelt. Welche? Wie stark? Von einer Vielzahl der Chemikalien ist darüber kaum etwas bekannt. Deshalb gibt es in der EU jetzt ein neues Gesetzeswerk. Wird mit «Reach» alles besser?

Im Nachbargarten ist eine Bombe eingeschlagen, und hier schlafen alle ruhig weiter. Noch. Die ersten, die aufgewacht sind, reiben sich die Augen und besuchen Seminare. Gleich mehrere davon stehen in der Schweiz derzeit auf der Agenda. Die BesucherInnen reisen sogar aus Deutschland an, denn dort, sagt die Managerin einer Schweizer Firma, die Beschichtungen für Wassertanks herstellt, wären Veranstaltungen zum neuen Chemikalienrecht der EU innert kürzester Zeit ausgebucht: «Mittlerweile braucht es fast schon Fussballstadien, um all die Leute fassen zu können, die sich über Reach kundig machen wollen.»

Was Reach will

Die Frau hatte Glück: An dem Seminar, das diesen Juni in Olten stattfand, fand sie noch Platz. 24 TeilnehmerInnen aus der ganzen Schweiz und Deutschland reisten an, Expertinnen und Berater aus Industrie und Gewerbe und BehördenvertreterInnen sprachen. Es ging an diesem Tag um die Umsetzung der neuen EU-Verordnung Reach (Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals), die ein einfach zu formulierendes Ziel verfolgt: besseren Schutz der Menschen und der Umwelt vor den Tausenden von Chemikalien, mit denen wir permanent in Kontakt kommen. Und die bisher nie auf ihre Gefährlichkeit hin untersucht worden sind. Denn weder in der EU noch in der Schweiz gab es bis anhin Gesetze, die solche Untersuchungen vorgeschrieben hätten. Zumindest nicht für Substanzen, die vor 1981 auf den Markt gekommen sind. Neuere Chemikalien müssen sehr wohl geprüft werden - nicht zuletzt deshalb machen sie gegenüber den «alten» Chemikalien nur einen kleinen Anteil am Markt aus.

Die Zahlen sind deutlich: Rund 100 000 alten stehen gerade mal 3000 neuere Substanzen gegenüber. «Alt» und «neu» bezieht sich letztlich auf den verheerenden Chemieunfall 1976 in Seveso. Nach diesem Unglück wurden die Vorschriften verschärft, alle Chemikalien, die seither neu in den Verkehr kommen, müssen registriert werden. Zur Registrierung gehören auch gesundheits- und umweltrelevante Untersuchungen. Für die alten Chemikalien indessen fehlen diese weitestgehend. Eva Reinhard, beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) zuständig für Chemikalien, sagt den SeminarteilnehmerInnen, für die Reach mehrheitlich ein lästiges und darum unerwünschtes Gesetzeswerk ist: «Es geht um den Schutz von Mensch, Umwelt und Tier. Über die Gefährlichkeit der alten Chemikalien weiss man einfach nichts.» Mit Reach will die EU endlich Klarheit schaffen, nachholen, was bislang versäumt wurde, gefährliche Stoffe erkennen und aus dem Verkehr ziehen.

Testflut und Promiblut

Dass man über die negativen Wirkungen der alten Chemikalien bisher nichts weiss, erstaunt nur auf den ersten Blick. Denn hunderttausend Stoffe auf ihre Gefährlichkeit hin zu überprüfen, ist ein aufwendiges Unterfangen. Wer macht das? Und wer soll es bezahlen? Zudem wäre es noch nicht damit getan, die einzelnen Chemikalien isoliert zu untersuchen. Es gilt auch zu prüfen, wie und wo sie weiter eingesetzt werden, in welchen Verbindungen mit weiteren Stoffen. Die hunderttausend Primäruntersuchungen vervielfachen sich also um einen Faktor X. Das Interesse der HerstellerInnen an einer solchen Testflut hält sich natürlich in Grenzen.

Doch in der Zwischenzeit ist viel passiert. Es gab Seveso. Es gab zehn Jahre nach Seveso den Chemieunfall in Schweizerhalle, im Rhein starben in der Folge die Fische. Es sterben auch in vielen andern Gewässern Fische, oft wegen Chemikalien, die ins Wasser gelangen. In Lebensmitteln werden immer wieder gefährliche Substanzen nachgewiesen, zum Beispiel fand Greenpeace in Pommes frites perfluorierte Tenside (PFT). PFT sind toxisch und gelten als krebserregend, sie kommen in einer Vielzahl von Stoffen vor, in Textilien ebenso wie in fettabweisenden Tüten - über diese gelangen sie vermutlich in die Pommes frites. Möglich ist auch, dass schon die Kartoffeln PFT aufnahmen, weil diese auch im Dünger vorkommen können. Greenpeace hat in weiteren Tests PFT auch im Trinkwasser und bei Menschen gefunden (für eine Kampagne testete man erfolgreich das Blut deutscher Promis). Ebenso Rückstände von chemischen Weichmachern (Phthalate), die zum Beispiel bei Kunststoffen verwendet werden, in Parfüms und Deodorants. Sie können, sagt Greenpeace, bei praktisch jedem Menschen nachgewiesen werden, genau wie bromierte Flammschutzmittel, die in vielen elektronischen Geräten stecken. Von diesen Stoffen nimmt man mittlerweile an, dass sie nicht nur krebserregend sind, sondern auch in den Hormonhaushalt eingreifen und für Fortpflanzungsprobleme mitverantwortlich sind. Und dann noch eine Zahl: «Ein Drittel der jährlich in Europa anerkannten Berufskrankheiten ist auf eine Exposition gegenüber gefährlichen Chemikalien zurückzuführen», berichtet Eva Reinhard vom BAG am Reach-Seminar.

Jetzt soll Reach, seit Juni dieses Jahres in Kraft, sozusagen aufräumen. Bis Ende 2008 haben die HerstellerInnen und ImporteurInnen der EU Zeit, ihre Stoffe bei der neu eingerichteten Chemikalienprüfstelle in Helsinki zur Vorregistrierung anzumelden. Dann gibt es ein gestaffeltes Registrierungsverfahren, nach Gefährlichkeit und Menge der Stoffe. Bis 2018 müssen alle Stoffe in Mengen ab einer Tonne registriert sein. Registrierpflichtige Substanzen, die bis dann nicht angemeldet sind, dürfen nicht mehr verkauft werden. Das Verfahren ist kompliziert. Den Aufwand soll die Industrie selber bewältigen, auch finanziell. Denn das ist das «Revolutionäre» an Reach, wie Eva Reinhard sagt: Die Beweislast wird umgekehrt, es gilt das Verursacherprinzip. Erstmals müssen die Hersteller und Händler von chemischen Stoffen nachweisen, dass ihre Substanzen ungefährlich sind für Mensch und Umwelt.

Das Gesetzeswerk Reach ist über tausend Seiten dick, und noch kann niemand sagen, wie die Umsetzung vonstatten gehen wird und was die Konsequenzen sein werden - für die Chemieindustrie in der EU, aber eben auch für die Kosmetikabteilung der Migros, den Coiffeur in Genf, das Strassenbau-KMU in Düdingen oder für die Modedesignerin an der Zürcher Langstrasse. Was die Chemieindustrie befürchtet und in den letzten Jahren immer wieder gerne vorgerechnet hat, sind die Kosten, die Reach verursachen wird: bis zu fünf Milliarden Euro, dröhnte die deutsche Chemieindustrie. Dagegen rechnen die Behörden eine andere Zahl auf: Nach Schätzung der Weltbank wird Reach bei den Gesundheitskosten über einen Zeitraum von dreissig Jahren einen Nutzen von ungefähr 50 Milliarden Euro bringen (bezogen allein auf die EU-15, jene fünfzehn Länder, die bereits vor dem 30. April 2004 Mitglied der EU waren, für 375 Millionen Einwohner).

Neben den Kosten fürchten die Unternehmen den administrativen Aufwand, den Reach mit sich bringt. Denn ab jetzt sind nicht mehr nur HerstellerInnen und Vertriebe für die Chemikalien, die sie in Umlauf bringen, verantwortlich, neu müssen auch die nachgeschalteten beruflichen AnwenderInnen Informationen liefern. Also beispielsweise eben die Coiffeuse, die ihren KundInnen die Haare färbt, oder der Schreiner, der seine Möbel mit Lacken und Farben behandelt, die Modemacherin oder der Inhaber eines kleinen Reinigungsinstituts. Sie alle sollen in Zukunft die Sicherheitsdatenblätter ihrer LieferantInnen überprüfen, konkret schauen, ob die Angaben zu Verwendung, Exposition und Risikomanagement mit der Situation im eigenen Betrieb übereinstimmen. Eine gigantische Kommunikationsmaschine wird mit Reach angeworfen. Infos von oben nach unten und von unten nach oben, man spricht im Fall der Coiffeuse oder des Malers neudeutsch auch von «Downstream-Usern».

Drittel dritteln und verwässern

Und dann ist auch die Rede davon, dass Chemikalien vom Markt verschwinden werden, bis zu dreissig Prozent der registrierpflichtigen Altstoffe könnte das in den nächsten zehn Jahren betreffen, sagt Eva Reinhard. Was gut ist, ein beachtlicher Teil davon werden Stoffe sein, die Mensch, Tier und/oder Umwelt gefährden. Im Idealfall werden sie einfach durch ungefährliche Chemikalien ersetzt, vermutlich wird es aber auch Stoffe geben, für die keine Alternative gefunden werden kann. Das hätte zur Folge, dass entsprechende Produkte vom Markt verschwinden. Für den Schweizer Unternehmer bedeutet das: Für seine Produkte oder Tätigkeiten fehlen plötzlich Stoffe, die in der EU nicht mehr hergestellt werden dürfen.

Das sind die Sorgen der Industrie. Sie lassen vermuten, dass mit Reach für Mensch und Umwelt vieles besser wird. Leider stimmt das nur halbwegs. So sagt Eva Reinhard: «Reach ist zwar besser als nichts. Aber die Politik ist der Industrie und den KMU sehr entgegengekommen. Zu viele Produkte sind von der Registrierung ausgenommen.» Damit spricht sie einen der grossen Triumphe der LobbyistInnen im politischen Prozess zur Gesetzeserarbeitung an, der das EU-Parlament die letzten sechs Jahre beschäftigt hat: Von den 100 000 Altstoffen wird nur gut ein Drittel von Reach erfasst, und davon verlangt die neue Regelung wiederum nur von dem Drittel, das in grösseren Mengen (ab zehn Tonnen pro Jahr und Hersteller) in Umlauf kommt, Daten, die eine Risikobewertung nach heutigem Standard ermöglichen. Damit sind nur gerade zehn Prozent aller Altstoffe erfasst, für die restlichen neunzig Prozent werden gemäss Reinhard auch weiterhin keine oder nur rudimentäre Datensätze vorhanden sein.

Auch Bush redete mit

Wie es zu dieser Verwässerung eines ursprünglich mutigen Gesetzeswerkes kommen konnte, hat Greenpeace recherchiert. Die Organisation hat den ganzen Reach-Prozess mitverfolgt und die Einflussnahme der Industrie auf die PolitikerInnen in Brüssel in ihrem «Toxic Lobby»-Report dokumentiert. Darin ist nachzulesen, wie die Chemieindustrie das Problem mit den Chemikalien zunächst als inexistent darstellte, hernach eigene Studien in Auftrag gab, welche die Deindustrialisierung Europas prophezeiten, dann PolitikerInnen dafür bezahlte, dass ihre Wünsche in den Debatten Gewicht erhielten. Schliesslich erfährt man, wie sich auch Gerhard Schröder und Angela Merkel für die Verwässerung der Chemikalienverordnung einsetzten. Nicht nur die Deutschen mit ihrer grossen Chemieindustrie lobbyierten erfolgreich, auch die Bush-Regierung nahm Einfluss, wie Greenpeace nachweist. Die Reach-Geschichte ist deshalb auch eine Geschichte über erfolgreiches Lobbying der Industrie. Der Kaffee im Pappbecher mit der chemisch behandelten Innenbeschichtung schmeckt auf der Heimfahrt vom Seminar in Olten darum nicht unbedingt besser als auf dem Hinweg. Aber immerhin ist das Bewusstsein geschärft.

www.greenpeace.org/toxiclobby

www.bag.admin.ch/themen/chemikalien/



Reach für die Schweiz?

Erst vor zwei Jahren hat die Schweiz ihr Chemikalienrecht den damaligen EU-Gesetzen angepasst. Gibt es trotzdem eine baldige Harmonisierung mit Reach? Eine Arbeitsgruppe tagt bereits, noch diesen Herbst wird sie dem Bundesrat eine Empfehlung abgeben. Möglich sind drei Szenarien:

• Keine Anpassung

• Volle Harmonisierung mit der EU inklusive Teilnahme an der Europäischen Chemikalienagentur in Helsinki

• Teilanpassungen an Reach

Es wäre nicht überraschend, wenn der Bundesrat, wie er jetzt zusammengesetzt ist, nichts von diesen bürokratisch aufwendigen Anpassungen wissen will. Aber die Schweizer Chemieindustrie kann er ohnehin nicht schützen, 60 Prozent ihrer Produkte gehen in die EU, umgekehrt bezieht sie 85 Prozent von dort. Die EU ist ihr wichtigster Handelspartner, um Reach kommt sie deshalb nicht herum.

Mehr Tierversuche?

Mit dem neuen EU-Gesetz, das die Neubewertung Tausender von Chemikalien verlangt, kommt auch eine gigantische Testmaschinerie in Gang. TierschützerInnen haben deshalb gegen Reach protestiert und Greenpeace vorgeworfen, Tierquälerei zu unterstützen. Die NGO konterte im Dilemma: «Reach ist auch ein Instrument zur Vermeidung von Tierversuchen.» Man setzt auf neue Testverfahren, die Tierversuche ersetzen. Anfang Jahr präsentierte die zuständige EU-Kommission einen Aktionsplan und stellte neue Testverfahren vor: Dank Reagenzglastests könne künftig auf Versuche mit Kaninchen verzichtet werden.