Telefonodyssee: Vom System verschluckt

Nr. 29 –

Ein harmloser Umzug - und weg ist der Draht zur Aussenwelt. Jann Preuss, Schweizer Filmemacher in Berlin, hat sich gezwungenermassen mit der Privatisierung der Deutschen Telekom auseinandergesetzt.

Ich schreibe diesen Artikel in einem schmuddeligen Internetcafé, denn seit sechs Wochen bin ich sozusagen von der Welt abgeschnitten: Ich habe weder Telefon noch Internet. Ich wohne aber nicht etwa im australischen Busch, sondern mitten in Berlin. Ich bin auch nicht Kunde eines dubiosen Billiganbieters, sondern der Deutschen Telekom, Europas grösstem Telekommunikationskonzern, dem einst strahlenden Beispiel für die Privatisierung eines Staatsbetriebs.

Alles begann vor einem Jahr mit einem Umzug. Ich bestellte eine DSL-Internet- und Telefonflatrate bei der Deutschen Telekom. Zwar bezahlt man beim ehemaligen Staatsbetrieb ein paar Euro mehr als bei der Konkurrenz, dafür wird besserer Service versprochen.

Mit dem Vertrag bekam ich einen sogenannten Router zugeschickt, der erstaunlich einfach zu installieren war - und erstaunlich schlecht funktionierte. Wenn mich jemand anrief, gab es vier Möglichkeiten. Erstens: Das Telefon klingelte gar nicht. Zweitens: Das Telefon klingelte zweimal und hörte dann auf. Drittens: Das Telefon klingelte, bis ich abnahm - dann starb die Leitung. Viertens: Die Verbindung kam zustande, nur hörte ich meinen Gesprächspartner abgehackt und mit Unterbrechungen. Kurz: Das Ganze funktioniert etwa halb so zuverlässig wie der erste Telefonapparat des Jahres 1876.

Keinen Schimmer

Zeit, um bei der Telekom anzurufen. Allerdings gibt es die «Telekom» in dem Sinne längst nicht mehr. Der Konzern wurde seit Beginn der neunziger Jahre bereits achtzehnmal umstrukturiert. Er ist längst eine Ansammlung von Tochter- und Parallelunternehmen, deren Zusammensetzung unaufhörlich verändert wird im verzweifelten Versuch, mit dem Tempo technologischer Neuerungen mitzuhalten. Mal wurde die Internetabteilung namens T-Online unter grossem Lärm als eigene Firma an die Börse gebracht, mal in aller Stille wieder zurückgekauft, weil sie den Rest des Unternehmens konkurrierte. Auch die anderen Geschäftsfelder werden laufend um-, aus- und eingegliedert, und die Abteilung, deren Kunde ich bin, heisst innerhalb von einem Jahr erst T-Com, dann T-Online, dann wieder T-Com, dann T-Home. Oder so. Ehrlich gesagt, habe ich etwas den Überblick verloren.

Den MitarbeiterInnen des Kundendienstes scheint es ähnlich zu gehen. Ich habe es meist mit freundlichen jungen Leuten zu tun, die mir vergnügt erklären, dass sie keinen Schimmer haben, was der Grund für mein Problem sein könnte. Ihre gute Laune führe ich darauf zurück, dass sie noch einen Arbeitsplatz haben. Denn seit ihrer Privatisierung vor zwölf Jahren hat die Deutsche Telekom 120 000 Stellen abgebaut, also rund ein Drittel ihrer MitarbeiterInnen.

Man kann diesen Stellenabbau kaum einem kurzsichtigen oder gewinnsüchtigen Management anlasten: Er war sozusagen politisch programmiert. Erklärtes Ziel der Liberalisierung des Telefonmarktes war ja, dass die Deutsche Telekom Marktanteile abgibt, also Kunden einbüsst, also weniger Umsatz macht, also weniger Leute beschäftigen kann. Bloss hat sich damals wie heute kein politisch Verantwortlicher so genau überlegt, wie weit das mit dem Gesundschrumpfen gehen soll.

Leitungen für die Konkurrenz

Man hat sich vielmehr die Theorie zurechtgelegt, die neu entstehenden Unternehmen auf dem Telefonmarkt würden mehr Arbeitsplätze schaffen, als die Telekom abbaut. Was sich natürlich als naiv erwiesen hat: Die Konkurrenten der Telekom gleichen nicht mal die Hälfte der verlorenen Arbeitsplätze aus, denn sie können sich ja viel schlankere Strukturen leisten. So schreibt die Regulierungsbehörde zum Beispiel vor, dass die Telekom ihre Leitungen der Konkurrenz ebenfalls zur Verfügung stellen muss. Auch die Preise dafür werden ihr vorgeschrieben. Und entwickelt die Telekom zum Beispiel eine neue, schnellere Leitung, muss sie diese der Konkurrenz ebenfalls zeitgleich überlassen. Deshalb braucht kaum ein anderes Unternehmen wirklich Geld in Innovation und teure Technik (oder TechnikerInnen) zu stecken: Die meisten Konkurrenten warten einfach ab, bis die Telekom ein neues Produkt auf den Markt bringt - um es dann selbst auch anzubieten, bloss etwas billiger.

Grösste Aktionärin der Telekom ist noch immer die Bundesrepublik Deutschland, also die Regierung. Und die erhofft sich im Grunde Widersprüchliches: Einerseits soll die T-Aktie, die seit Jahren auf etwa ihrem Ausgabepreis von vierzehn Euro dümpelt, endlich wieder steigen, das Unternehmen also effizienter und schlanker werden. Andererseits soll der Personalabbau bitte schön sozial verträglich, sprich unbemerkt vonstatten gehen. Letzteres ist der Telekom jahrelang gelungen, aber es kostet viel Geld. So wurde eigens eine Beschäftigungsgesellschaft gegründet, die nichts anderes tut, als Leute anzustellen, auszuleihen und weiterzuvermitteln, für die es bei der Telekom keine Arbeit mehr gibt. Dazu kommt, dass die Telekom noch immer 44 000 unkündbare BeamtInnen beschäftigt. Deren Stellen kann man nur sehr langsam, mit grosszügigen Vorruhestandsregelungen und Sozialplänen abbauen. Die Konkurrenz wiederum braucht solche Skrupel nicht zu haben.

Kein Wunder, dass die Telekom gerade mal wieder ihren Vorstandsvorsitzenden auswechselt und ihre Abteilungen umbaut, während ich wochenlang vom Kundendienst zum Störungsdienst zum Internetdienst und wieder zum Kundendienst verbunden werde, ohne dass irgendwer mein Problem beheben könnte. Als ich einem Mitarbeiter des technischen Supports seine eigene Konfigurationswebsite erklären muss, gebe ich auf. Ich finde mich damit ab, dass mein Telefon halt manchmal funktioniert und manchmal nicht. Immerhin habe ich ja noch das Internet.

Der zweite Umzug

Bis ich im Mai nochmal umziehe. Mein neuer Anschluss wird mir pünktlich versprochen. Als ich einziehe, ist die Leitung allerdings tot. Ich stecke das Telefon einmal aus und wieder ein, die Buchse fällt aus der Wand. Ich bin nicht wirklich überrascht. Die erste Dame beim Kundendienst sagt, es werde sich jemand bei mir melden, um das Problem zu beheben. Ein paar Tage lang meldet sich niemand. Die zweite Dame beim Kundendienst erklärt mir unwirsch, dass gestreikt werde, ob ich das nicht mitbekommen hätte. Doch, habe ich: Unterdessen befindet sich die Telekom im ersten grossen Arbeitskampf seit ihrer Privatisierung im Jahr 1995. 50 000 MitarbeiterInnen sollen in Servicegesellschaften ausgelagert werden, um dort vier Stunden länger zu arbeiten und neun Prozent weniger zu verdienen. Der neue Vorstandsvorsitzende René Obermann will damit bis zu 900 Millionen Euro sparen und «die Servicequalität verbessern». Wie der Service besser werden soll, wenn seine Leute für weniger Geld länger arbeiten, bleibt sein Geheimnis. Und die Gewerkschaft bläst erstmals zum Streik.

Irgendwas stimmt nicht

Die Dame beim Kundendienst, mit der ich spreche, ist zwar auf ihrem Posten, aber aus Solidarität mit den streikenden Kollegen äusserst unfreundlich. Ansonsten unterscheidet sie sich nicht von all den CallcentermitarbeiterInnen, mit denen ich bisher zu tun hatte: Sie hat keine Ahnung, wo das Problem liegen könnte. Jemand hätte sich bei mir melden müssen. Mein Auftrag sei schliesslich im Computer. Nein, verbessert sie sich einen Moment später, mein Auftrag sei doch nicht im Computer. Also irgendwas stimmt nicht. Jemand wird sich bei mir melden.

Es meldet sich niemand. Ich habe seit Wochen weder Telefon noch Internet, meine Handyrechnung steigt ins Unermessliche, und für jedes Mail, jede Banküberweisung, jede Ticketreservation muss ich ins Internetcafé rennen. Die dritte Dame beim Kundendienst erklärt mir, ich müsse mit der Störungsstelle reden. Das weiss ich längst, aber dort werde ich regelmässig nach etwa zwanzig Minuten Wartezeit aus der Leitung geworfen. Der Dame vom Kundendienst geht es in der Hinsicht nicht besser: Auch sie erreicht ihren eigenen Störungsdienst nicht.

Noch eine Woche vergeht. Die vierte Dame beim Kundendienst verspricht mir, sie werde meine Beschwerde «eskalieren». Das Wort wiederholt sie immer wieder, geradezu begeistert, die Sache wird eskaliert, was immer das heisst, sie findet es aufregend.

Der Streik und das Warten

Unterdessen eskaliert auch der Streik, und natürlich meldet sich niemand bei mir, am nächsten Tag nicht und eine weitere Woche später auch nicht. Ohne Telefon und Internet fühle ich mich zusehends von der Welt abgeschnitten. Aus meinem Lieblingsinternetcafé schreibe ich der Störungsstelle eine E-Mail. Ich darf ankreuzen, wie verärgert ich bin, und wähle «sehr verärgert». Ich kriege eine automatische Antwort, es werde sich jemand bei mir melden.

Unterdessen einigen sich Konzernführung und Gewerkschaft auf einen Kompromiss: Die 50 000 MitarbeiterInnen müssen länger arbeiten, aber ihre Lohneinbussen fallen kleiner aus und werden fürs Erste von Sozialplänen aufgefangen. Der Streik ist beendet. Was noch lange nicht heisst, dass sich nun jemand um meinen Anschluss kümmert: Die Gewerkschaft vermutet, dass es dreizehn Wochen dauern wird, bis die liegen gebliebenen Aufträge bearbeitet sind. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass mein Auftrag ganz unten im Stapel liegt. Die Verbraucherschutzzentrale rät Leuten wie mir, die Telekom abzumahnen: Ich solle ihr eine Frist von zwei Tagen setzen, und wenn der Anschluss dann immer noch nicht funktioniert, fristlos kündigen.

Ich will aber nicht kündigen. Ich will einen Telefonanschluss. Was soll ich denn tun? Zur Konkurrenz gehen? Deren Service gilt im Allgemeinen als noch miserabler, von ihrem sozialen Gewissen ganz zu schweigen. Ausserdem benutzen sie, wie gesagt, selbst die Leitungen der Telekom, sind also auf deren TechnikerInnen angewiesen. Sprich: Der Streik hat lustigerweise die Konkurrenz ebenso lahmgelegt wie die Telekom selbst.

Verlorene Kundenseelen

Die fünfte Dame vom Kundendienst stellt erstaunt-belustigt fest, dass es meine Kundennummer nicht mehr gibt. Meine Telefonnummer übrigens auch nicht. Und unter meinem Namen kann sie keine Daten abrufen, nur unter der Kundennummer. Sie würde gerne mit dem Vertrieb über dieses faszinierende Problem sprechen, aber sie erreicht den Vertrieb nicht: Sie fliegt dort immer aus der Warteschleife. Ich beginne, mir die Telekom als eine Art kafkaeskes Labyrinth vorzustellen, voller Leitungen, die ins Nirgendwo führen, virtueller MitarbeiterInnen, körperloser Stimmen und dem Jammern verlorener Kundenseelen. So geht das nicht weiter. Ich muss jemanden sehen, von Angesicht zu Angesicht.

Ich gehe in einen Telekom-Shop, der jetzt T-Shop heisst oder T-Punkt, so genau weiss man das nicht, weil er gerade umbenannt wird, als ich ihn betrete. Aber hier, in diesem Shop oder Punkt, steht eine schwarzhaarige junge Frau hinter dem Tresen. Eine - Person. Ein Mensch. Aus Fleisch und Blut. Voll neuer Hoffnung erkläre ich ihr mein Problem. Sie tippt auf ihrem Computer rum und teilt mir dann leicht vorwurfsvoll mit, mein Auftrag könne gar nicht bearbeitet werden, da er «im System hänge». Wie bitte, was heisst das? Sie seufzt über meine Unwissenheit. Das komme eben manchmal vor, dass ein Auftrag ganz einfach vom System verschluckt werde, erklärt sie dann nachsichtig. Wie, vom System verschluckt, frage ich aufgeregt, und jetzt? Kann das System meinen Auftrag auch wieder raus...görpsen? Sie erklärt, sie leite das jetzt weiter. Mehr könne sie im Moment nicht tun. Dann werde sich jemand bei mir melden. Klar.

Bevor ich den Shop verlasse, notiere ich mir der Vollständigkeit halber ihren Namen. Aber etwas sagt mir, dass sie nicht mehr da sein wird, wenn ich den Shop zum nächsten Mal betrete. Wahrscheinlich wird ihr Arbeitsplatz soeben auch vom System verschluckt. Oder der ganze Shop. Oder die ganze Abteilung. Denn zwei Dinge habe ich unterdessen begriffen. Erstens: Wenn man einen grossen Staatsbetrieb privatisiert, erhält man offensichtlich ein abstruses Monstrum, welches die Ineffizienz einer russischen Provinzverwaltung mit der Gewinnsucht eines amerikanischen Ölgiganten vereint - und man kann erst noch keinem so richtig böse sein, denn die Politik hat dem Konzern ganz einfach vollkommen widersprüchliche Rahmenbedingungen geschaffen. Zweitens: Das letzte, aber auch wirklich letzte Problem, welches die Deutsche Telekom hat, ist mein Telefonanschluss.