Post: Einer springt vom Dach

Nr. 39 –

Die jüngste Reorganisation ist noch nicht abgeschlossen, die MitarbeiterInnen sind noch nicht alle «versorgt» - da kündigt der Bundesrat letzte Woche den nächsten Liberalisierungsschritt an. Ausserdem soll die Post eine AG werden. Wie geht es eigentlich den PöstlerInnen?

«Die Post befindet sich im Wandel. Um konkurrenzfähig auftreten zu können, muss sie sich den Regeln des Marktes anpassen ...» (Geschäftsbericht 2006, Die Post)

Am 1. September 2007, an seinem freien Tag, geht Fritz Weber (Name geändert) zum roten Postgebäude in Basel. Er steigt aufs Dach und stürzt sich in die Tiefe. Er ist 56 Jahre alt und seit vierzig Jahren Pöstler. Angefangen hat er als Briefträger, schliesslich wird er Instruktor und Betreuer. Alle kennen ihn, alle mögen ihn. Fritz Weber gilt als überaus engagiert, als «rationaler und überlegter Mann». Er ist nicht der erste Pöstler, der sich das Leben nimmt. 2006 ging ein Postangestellter in Basel ins Wasser, auch er ein langjähriger Mitarbeiter. Damals mutmasste man, dem Betroffenen habe vielleicht nicht nur die ungewisse Zukunft bei der Post zu schaffen gemacht. Er war alleinstehend. Fritz Weber aber ist verheiratet und hat Kinder, eines arbeitet ebenfalls bei der Post. Als Mitarbeiter, der älter als 55 Jahre ist, hätte Weber auch eine sogenannte Arbeitsplatzgarantie gehabt, er hätte also bei der Post zum bisherigen Lohn weiterarbeiten können. «Fritz hat sich sehr stark mit der Post identifiziert», sagt ein ehemaliger Mitarbeiter, «jede abgebaute Stelle tat ihm persönlich weh.»

MitarbeiterInnen-Identifikation. Davon ist die Rede, wenn es Angestellte vor lauter Engagement nicht mehr interessiert, wie hoch die Zahl auf der Lohnabrechnung ist; wenn der bevorstehende Quartalsabschluss für die Abteilung mehr beunruhigt als die eigene Krebsdiagnose; wenn man am Abend extra früh zu Bett geht, um am nächsten Tag fit zu sein für das Entlassungsgespräch. Identifikation ist eine zentrale Voraussetzung dafür, Überdurchschnittliches zu leisten. Sie wird erwartet, besonders von Führungskräften, die eine Vorbildfunktion ausüben sollen. Identifikation kann also nichts Schlechtes sein.

Es sei denn, der sich Identifizierende erwacht eines Morgens und versteht nicht mehr, womit er sich identifiziert.

Von achtzehn Zentren auf drei

Die Post ist nicht mehr die gute alte Post. Wenn es nach dem Bundesrat geht, ist der ehemalige Staatsbetrieb schon bald eine Aktiengesellschaft. Der Liberalisierungsprozess hat aber schon früher angefangen: 1997 hiess das Parlament die vollständige Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes gut, die PTT verlor das Telekom-T, die private Swisscom war geboren. 2002 startete man dann mit der Sezierung des Postmonopols. Seit 2006 gilt es nur noch für adressierte Post, die weniger als hundert Gramm wiegt. Ab 2011 soll das Monopol in einem zweistufigen Verfahren ganz wegfallen - erst mit einer Reduktion auf die fünfzig Grammpost, dann vollständig. Gleichzeitig soll die Post zu einer Aktiengesellschaft mit zwingender Mehrheitsbeteiligung des Bundes werden. Das hat der Bundesrat vergangene Woche bekannt gegeben (die Vernehmlassung dazu soll Anfang 2008 eröffnet werden).

Der Hintergrund dieser Massnahme ist der generelle Trend zur Liberalisierung von Staatsbetrieben und als Folge daraus das Argument, die Schweizerische Post könne ohne Liberalisierung nicht marktfähig bleiben. Denn mit der Liberalisierung eröffnet sich für das Unternehmen die Möglichkeit, im Ausland tätig zu werden, was die Post angesichts der Konkurrenz durch elektronische Medien (E-Mail, Internet) für mehr als nur lukrativ erachtet. Die Kehrseite: Ausländische Firmen können in der Schweiz Fuss fassen und zu ernsthaften Konkurrenten für die Post werden. Die Post, die zur Grundversorgung verpflichtet bleibt, muss dieses Verlustgeschäft anderswo kompensieren. Das ist aber nur durch permanente Effizienzsteigerung zu erreichen.

Um für diesen Kampf fit zu werden, bricht die Post an vielen Orten alles weg und rüstet an wenigen anderen auf. Konkret: Mit dem «Reengineering Mailprocessing», kurz Rema, werden von achtzehn Briefzentren in der ganzen Schweiz fast alle geschlossen. Übrig bleiben drei grosse, technologisch topmoderne Zentren in Mülligen ZH, Härkingen SO und Eclépens VD, in denen im Dreischichtenbetrieb gearbeitet wird. Auch das Briefzentrum Basel, in dem Fritz Weber gearbeitet hat, wird es so nicht mehr geben. Was davon übrig bleibt, heisst dann «Subzentrum» - es ist eines von sechs in der ganzen Schweiz, die parallel in Betrieb genommen werden, als Zugeständnis an die Gewerkschaft. Von bisher rund 900 Angestellten im Briefzentrum Basel wird nur ein gutes Zehntel, etwa 150 MitarbeiterInnen, weiter dort arbeiten können. Im Kontext des Rema-Prozesses ist fast die ganze Schweiz eine Randregion. Einzig das erweiterte Mittelland, die Achse Zürich - Aarau - Bern - Genf, rentiert - jene Region, in der die GrosskundInnen viel Post verschicken und empfangen.

Das Ende der Lebensstelle

Insgesamt sind 8500 Postmitarbeitende von Rema betroffen. Die Reorganisation sorgt nicht nur für einen Abbau von mehreren Tausend Arbeitsplätzen, sondern auch für gesteigerte Effizienz - sie bedeutet beispielsweise, dass künftig im Mittelland arbeiten muss, wer das Glück hat, überhaupt eine der wenigen Stellen zu ergattern. Für die ZürcherInnen ist das nicht so schlimm: In wenigen Minuten ist man ab dem Hauptbahnhof im aufgerüsteten Briefzentrum Mülligen. Von Basel nach Härkingen dauert eine Fahrt bereits eineinhalb Stunden. Rema bedeutet aber auch: Anstelle vieler ArbeitskollegInnen treten viele Roboter. Die PöstlerInnen aus Fleisch und Blut sind - sogenannte Härtefälle ausgenommen - verpflichtet, in allen Schichten des Dreischichtenbetriebs zu arbeiten. Sie sind erhöhtem Lärm ausgesetzt. Und sie werden nicht mehr in der Post arbeiten - jedenfalls nicht in der Post, in der sie vielleicht schon vor Jahrzehnten angefangen haben, im Glauben, dass sie dort eine Lebensstelle antreten.

Leute wie Fritz Weber wurden von der Post speziell ausgebildet, niemand kannte sich in der Schweizer Geografie so gut aus wie die Schweizer PöstlerInnen. Heute nützt dieses Wissen nicht mehr viel. Wer noch in diesem alten System (bis 1993) geschult wurde, war wie Fritz Weber zwar fit für die Post, hats heute aber schwer auf dem freien Markt.

«Sein Sprung war eine Demonstration für eine gut funktionierende und soziale Post», schreibt einer, der Fritz Weber gekannt hat, in einem Brief an die WOZ. Er will der Betriebsleitung in Basel keine Vorwürfe machen. Vielmehr sei Bern verantwortlich: «Unter dem sozialen Mäntelchen der Post wird seit Rema knallhart auf Profitmaximierung hingearbeitet. Nun werden bei der Briefpost sämtliche gewachsenen Strukturen innert zweier Jahre zerstört (...)» Gegen aussen hin, sagt der Postmitarbeiter, vermittle das Unternehmen den Eindruck, dass alles rund laufe.

Heinz Suter sieht das alles nicht so schwarz. Er sorgt vonseiten der Gewerkschaft Kommunikation dafür, dass die Post den Sozialplan einhält. Der Freitod des langjährigen Postangestellten habe ihn «absolut sprachlos» gemacht. «Ich kanns nicht verstehen», sagt er, und: «Es wäre aber falsch zu sagen, dies sei ausschliesslich die Schuld des Arbeitgebers. Alle von der Rema Betroffenen sind im sogenannten Migrationsprozess - es gibt Gespräche, und wenn sich abzeichnet, dass es schwierig wird, eine Lösung zu finden, erhalten die Betroffenen professionelle Hilfe.»

Die Beamten waren nicht faul

Konkret heisst das: Die Post hat sich vorgenommen, den Umbau, der auch ein massiver Abbau ist, «sozialverträglich und ohne Entlassungen» durchzuführen. Tatsächlich konnte die Gewerkschaft Kommunikation mit der Post für alle Rema-Betroffenen einen Sozialplan aushandeln, der gar nicht so schlecht ist: Jedem soll mindestens ein zumutbares Stellenangebot innerhalb der Post angeboten werden, wenn dies nicht möglich ist, kommt er oder sie in das erwähnte Beschäftigungsprogramm, das maximal 24 Monate dauert. Man kann sich auch mit einer Abgangsentschädigung abfinden. Bezahlte Weiterbildung ist ein weiterer Bestandteil des Sozialplans, und über 55-Jährige, die auf einer tieferen Stufe weiterarbeiten müssen, erhalten den bisherigen Lohn. MitarbeiterInnen ab 62 Jahren wird die vorzeitige Pensionierung voll ausfinanziert.

Vor allem für jüngere MitarbeiterInnen kann Rema auch eine Chance sein. Der Postmitarbeiter, der sich an die WOZ gewendet hat, weiss von Leuten, die sich mit der Abgangsentschädigung selbstständig machen wollen. Anders die älteren. Für viele, die fünfzig Jahre und älter sind, ist es emotional, aber auch ganz nüchtern betrachtet schwierig, die Post zu verlassen. Es sei kein Zufall, dass es sich bei beiden Männern, die sich das Leben genommen haben, um langjährige Postangestellte handelte, sagt der Pöstler, der sich schwer damit tut, «dass die Öffentlichkeit nicht wahrnimmt, was hinter der sauberen Fassade vor sich geht.» Und Heinz Suter von der Gewerkschaft: «Mitarbeitende, die dreissig Jahre und länger bei der Post waren, identifizieren sich stark. Sie haben damals zu Zeiten der PTT diese Laufbahn gewählt. Sie erhielten eine Monopolausbildung - etwas, das auf dem Arbeitsmarkt heute nicht gefragt ist. Die Bindung ist deshalb stärker, auch aus egoistischen Gründen. Denn ihr Wert auf dem Arbeitsmarkt - entschuldigen Sie die Formulierung - ist nicht berauschend.»

2002 änderte das Gesetz des Bundespersonals. Seither gibt es keine BeamtInnen mehr. Das ist kein grosser Verlust, werden viele sagen. Die BeamtInnen, das waren doch die mit den langen Kaffeepausen. Tatsächlich ist die Post in den letzten Jahren effizienter geworden. «Es hat ein Kulturwandel auf Druck der Gesellschaft stattgefunden», sagt der Basler Postangestellte Kurt Zihlmann, der den 56-Jährigen, der sich am 1. September das Leben genommen hat, gut kannte. «Der Druck nimmt spürbar zu», sagt er, der auch Milizgewerkschafter bei der christlichen Postgewerkschaft Transfair ist. Aber das Klischee stimme nicht: «Früher wurde gleich viel gearbeitet, mehr sogar. Wir mussten auch viel mehr können und wissen. Dass die Post effizienter geworden ist, hat mit der Automatisation zu tun.»

Diese Automatisation wird in den neuen Briefzentren noch intensiviert, die Arbeit der Angestellten monotoner. «Der Mensch muss nicht mehr so viel denken», sagt Zihlmann.

«Immer noch sozialer»

Die Post und insbesondere ihr CEO Ulrich Gygi haben in den letzten Jahren selber darauf hingearbeitet, dass die Bundessubventionen zuhanden der Post gekürzt wurden. Die WOZ schrieb 2002, als der Verwaltungsrat bekannt gab, dass er von den bestehenden achtzehn Briefzentren fünfzehn schliessen will: «Die Postchefs träumen von einer schlanken Post, die prächtige Gewinne abwirft. Dafür muss man die Kosten senken. Und die Kosten heissen: Angestellte, Poststellen, KleinkundInnen.»

Trotzdem ist es den Angestellten wichtig, zu betonen, dass die Post ja immer noch die sozialere Arbeitgeberin sei als irgendein Unternehmen der Privatwirtschaft. Man dürfe sie nicht zu sehr anschwärzen, sagen sie. Dass ihr oberster Chef, Ulrich Gygi, den Abbau von Tausenden von Arbeitsplätzen als Konsequenz der Liberalisierung bereitwillig mitverantwortet, haben sie schon fast vergessen. «Europa ist schuld!», sagt ein Pöstler in Zürich.

Viele der verbleibenden Postangestellten sind einfach nur müde nach all den Reorganisationen - und froh, dass sie überhaupt noch eine Stelle haben. Aber vielleicht ist es auch schwierig, sich gegen den Betrieb aufzulehnen, mit dem man sich so stark identifiziert. Das heisst MitarbeiterInnen-Loyalität - und ist das, wovon jeder CEO einer privaten Firma träumt.