Irak: Das nützliche Gespenst

Nr. 32 –

Wie früher die Massenvernichtungswaffen ist heute al-Kaida ein willkommener Vorwand für den US-Krieg im Irak. Dabei spielt sie dort kaum eine Rolle.

Das US-Militär und die US-PolitikerInnen machten im Vietnamkrieg einen grundsätzlichen Fehler: Sie sahen in ihren vietnamesischen GegnerInnen um Ho Chi Minh hauptsächlich KommunistInnen. Dabei waren sie vor allem vietnamesische NationalistInnen. Es war der nationalistische Aspekt des Widerstands gegen die US-Besatzung, der für viele Menschen im Süden Vietnams den Vietcong so attraktiv machte. Der Beleg dafür folgte nach Kriegsende: Kaum war ganz Vietnam kommunistisch, kam es zu Kämpfen mit dem kommunistischen Nachbarn China.

Jetzt begehen die USA einen ähnlichen Fehler. Sowohl Präsident George Bush wie sein Vize Richard Cheney reden so, als wäre der dortige Feind eine terroristische Internationale, eine staatenlose al-Kaida, die einen islamischen Superstaat errichten und die USA vernichten will. Das ist zu 99,99 Prozent falsch. Praktisch alle im Irak kämpfenden Gruppen sind irakische Nationalisten. Nordvietnam war weder eine existenzielle Gefahr für die USA noch ein wichtiger Verbündeter für andere kommunistische Staaten. Und der Nachkriegsirak wird ein Land von irakischen NationalistInnen sein, in dem einige ethnisch-religiöse Untergruppen agieren - wie in andern Ländern der Region auch.

Daher ist es wichtig, die von den USA portierte Vorstellung von «al-Kaida im Irak» zu hinterfragen. Al-Kaida lässt sich definieren als Sammelbegriff für Personen, die Usama Bin Laden ihre Loyalität geschworen und von ihm einen Auftrag erhalten haben. Sie sind so etwas wie die Vollmitglieder der Mafia. Nicht jeder Kleinkriminelle ist gleich ein Mafioso, und nicht jeder gewalttätige Islamist gehört zu al-Kaida.

Eine neuere Studie des früheren US-Generals Barry McCaffrey geht von rund 100 000 «Aufständischen» aus - viermal mehr als die von der US-Armee angegebenen 25 000. Ein früherer irakischer Innenminister der Nach-Saddam-Ära schätzt, dass es im Irak weniger als tausend internationale Kämpfer gibt. Davon sind die meisten salafistische Dschihadisten oder wiedererweckte Sunniten der einen oder andern Färbung. Von den 100 000 «Aufständischen» wären also 99 000 irakische Guerillakämpfer. Sie sind nicht Al-Kaida-Kämpfer in dem Sinne, dass sie gegenüber dieser Organisation loyal wären oder gar für Bin Laden oder dessen «Vize» Aiman az-Zawahri kämpfen würden. Sie kämpfen vielmehr für ihre - oft religiös verbrämte - Vision einer irakischen Nation.

Wer sind diese Guerillakämpfer? Viele sind baathistische oder ex-baathistische Nationalisten: frühere Armeeoffiziere, Parteifunktionäre, Beamte der Geheimdienste und so weiter. Arabischsprachige Zeitungen berichten, Saddams Baath-Partei habe sich in vier Gruppen aufgesplittert. Die wichtigste und am wenigsten kompromissbereite unter ihnen ist jene von Saddam Husseins Vizepräsident Isat Ibrahim al-Duri. Anfang Jahr sollte in der syrischen Hauptstadt Damaskus ein Wiedervereinigungskongress abgehalten werden mit dem Ziel, die Bewegung nach dem Ende der «Entbaathifizierung» des Irak zu rehabilitieren. Al-Duri war gegen diese Initiative: Er sah darin einen ersten Schritt hin zur Niederlage. Al-Duri befindet sich angeblich in Syrien, doch das passt nicht zu seiner Opposition gegen diesen Kongress in Damaskus. Wahrscheinlicher ist, dass er sich in der Gegend von Mosul im Irak aufhält. Im März wandte er sich an alle arabischen Regierungschefs und nannte sich in seinem Schreiben «Generalsekretär der Sozialistischen Baath-Partei und Oberbefehlshaber der irakischen Streitkräfte». Er bat darin um Unterstützung für seinen Aufstand gegen die Besatzung.

Eine weitere Guerillagruppe, die sich aus früheren baathistischen Offizieren zusammensetzt, ist die «Armee der Gotteskrieger». Sie wollte sich nicht der von Abu Mussab as-Sarkawi initiierten Vereinigung namens «Rat der Heiligen Krieger» anschliessen, weil sie die internationalen salafistischen Dschihadisten nicht mag. Gelegentlich hat die Armee der Gotteskrieger sogar Verhandlungen mit dem irakischen Präsidenten Dschalal Talabani geführt.

Im Jahr 2003 noch haben Beamte der Bush-Regierung zugegeben, dass al-Duri ein wichtiger Führer des Aufstands war. Als er nicht gefangen genommen werden konnte und der Baath-Widerstand wuchs, wurde zunehmend alle Schuld auf «al-Kaida» und Abu Mussab as-Sarkawi geschoben. Doch as-Sarkawi war nicht wirklich al-Kaida und verstand sich nie mit Bin Laden, was auch immer er später behauptet haben mag. Er baute seine eigene Organisation «Tauhid und Dschihad» (Einheit und Heiliger Krieg) auf und weigerte sich, seine Ressourcen mit al-Kaida zu teilen. Zwar hat er zeitweise behauptet, seine Organisation sei «al-Kaida in Mesopotamien». Aber manch kleiner Hamburger-Stand tut so, als gehöre er zu einer grossen internationalen Kette - das macht sein Frittieröl nicht besser. Als Abu Mussab as-Sarkawi im Frühjahr 2006 umgebracht wurde, hatte sein Tod nicht die geringste Auswirkung auf die Schlagkraft des Aufstandes - also ging zuvor wohl nicht viel davon auf seine Initiative zurück.

Dass meist verschwiegen wird, wie wichtig die Baathisten und Iraks sunnitische Nationalisten beim Widerstand gegen die Besatzung sind, hat einen einfachen Grund: Es kommt allen sehr gelegen. Den Baathisten ist recht, wenn sie für ihre Untaten nicht verantwortlich gemacht werden. Die kleinen radikal-sunnitischen Gruppen dagegen sind auf öffentliche Aufmerksamkeit angewiesen, also übernehmen sie die Verantwortung - und die Baathisten halten sich still und widersprechen nicht. Bush und sein Gefolge sind jedes Mal froh, wenn «al-Kaida» sich zu einem Attentat bekennt, denn das macht es ihnen leichter, ihren Irakfeldzug als Teil des Kriegs gegen den Terror zu verkaufen.

Irakische fundamentalistische Sunniten wie jene der «1920 Revolutionsbrigaden» haben mit al-Kaida nichts zu tun. Schon ihr Name, der auf den Aufstand von 1920 gegen den britischen Kolonialismus anspielt, zeigt, dass sie NationalistInnen sind. Al-Kaida dagegen hält nichts von Nationalismus und Nationalstaaten, sie stellt die islamische «ummah» (Gemeinschaft) in den Vordergrund. Der Aufstand von 1920 - angeführt von Schiiten - hat für Bin Laden keine Bedeutung.

Das ist ein wichtiger Punkt, denn das Selbstverständnis einer Gruppe sagt viel über ihre Ziele aus. Für die «1920 Revolutionsbrigaden» geht es darum, die Fremden aus dem Irak zu jagen - und nicht um internationalen Terrorismus oder gar darum, einen Schlag in den USA auszuführen. Die USA haben von ihnen nach einem Abzug ihrer Truppen nichts zu befürchten. Die Mitglieder der «1920 Revolutionsbrigaden» werden aufatmen und sich wieder ihrer üblichen Arbeit zuwenden. Sollten sie oder andere ihre Angriffe auf SchiitInnen fortsetzen, riskieren sie, selber niedergemetzelt zu werden. Eine Gefahr für die Wolkenkratzer an der US-amerikanischen Ostküste - und den Westen überhaupt - sind sie jedenfalls nicht.



Juan Cole ist Professor für Geschichte des Nahen Ostens und Südasiens an der Universität von Michigan/USA. Zum Irak führt er den Weblog «Informed Comment», aus dem dieser Text stammt: www.juancole.com

Sein jüngstes Buch «Napoleon's Egypt: Invading the Middle East» über die erste moderne westliche Invasion im Nahen Osten ist soeben auf Englisch erschienen.

Politplattform statt Bomben

Sieben der wichtigsten bewaffneten sunnitischen Gruppen, die im Irak die US-Besatzung bekämpfen, wollen eine politische Allianz bilden. Das meldete die britische Tageszeitung «The Guardian» im Juli, nachdem ihr Reporter in Damaskus mit Vertretern von drei der beteiligten Gruppen gesprochen hatte. Sie beschuldigten al-Kaida, im Irak sektiererische Morde und Selbstmordanschläge zu begehen. Die Gruppen selber würden den bewaffneten Widerstand gegen die fremden Truppen im Land zwar fortsetzen, wollten sich aber gleichzeitig mit einer politischen Plattform auf die Zeit nach der Besatzung vorbereiten.

Eine Woche später wurde das Gründungstreffen der mehreren Hundert Delegierten abgesagt - auf Druck der syrischen Regierung. Im ersten Jahr der Besatzung des Irak hatte es mindestens zehn Treffen von sunnitischen Führern und Baath-Politikern in Syrien gegeben. Die USA billigten diesen Treffen keine Chance zu, mässigend auf den sunnitischen Widerstand einzuwirken, und verbaten sich die «syrische Einmischung». Diesmal, so vermuten Beobachter, hänge die Absage des Sunnitentreffens mit dem kürzlichen Besuch von Irans Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad in Syrien zusammen.