Der IS im Irak und in Syrien: Eine für viele überzeugende Paketlösung

Nr. 38 –

Um den Islamischen Staat zu bekämpfen, muss man verstehen, warum er so erfolgreich ist. Es geht nicht ohne politische Alternative.

Enthauptungen und Kreuzigungen auf öffentlichen Plätzen: Für Aussenstehende ist besonders die Zelebrierung der Gewalt durch den Islamischen Staat (IS) schockierend und unverständlich. Die fundamentalislamistische Organisation versklavte Hunderte von Frauen. Die Massaker, die sie an den JesidInnen, den AssyrerInnen und den schiitischen TurkmenInnen verübte, kommen einem Genozid nahe. Wie konnte es so weit kommen, und dies im 21. Jahrhundert?

Vorab muss man zur Kenntnis nehmen, dass grosse Teile der sunnitischen Öffentlichkeit im Nahen Osten den IS unterstützen. Als IS-Kämpfer Ende August den Flughafen von Rakka stürmten, tauchten kurz darauf im Internet die ersten Bilder von rund 120 syrischen Armeeangehörigen auf, die nackt in die Wüste geführt worden waren. Die Websites waren voller Kommentare wie «Hunde, tötet sie!» oder «Führt sie wie Schafe in den Tod». Kurz darauf folgten tatsächlich Videos von exekutierten Soldaten, deren Leichen in der Wüste zurückgelassen worden waren. Wieder äusserten viele ihre Genugtuung. Natürlich geben solche Beispiele nur eine Ahnung, wie stark die Unterstützung unter den syrischen und irakischen SunnitInnen für den IS ist. Im Fall von Saudi-Arabien gibt es hingegen repräsentativere Umfragen, die in sozialen Medien erhoben wurden. Demnach finden 92 Prozent der saudischen Bevölkerung, dass die Ideologie des IS im Einklang mit den Werten des Islam und des islamischen Rechts sei.

Eine Folge des Staatszerfalls

Der IS befriedigt das Bedürfnis nach Gewalt und Rache, das es in vielen Gesellschaften im Nahen Osten gibt, nicht nur in Syrien und im Irak. Um die neuste Gewaltwelle zu verstehen, muss man auch die Umstände verstehen, unter denen sie sich entwickeln konnte.

Seit der sowjetischen Invasion in Afghanistan weiss man, dass salafistisch-dschihadistische Gruppen dort entstehen können, wo das nationalstaatliche Gewaltmonopol wegfällt. Die Zerstörung des afghanischen Staats 1979 führte zur ersten Generation von im Ausland kämpfenden Dschihadisten. Später geschah das Gleiche in Tschetschenien, als es im Krieg mit Russland war, es geschah im Irak nach der US-Invasion, ebenso in den gescheiterten Staaten Somalia und Jemen.

Der salafistische Dschihadismus entwickelte sich zu einer für viele überzeugenden Paketlösung: ein Kampf mit modernen Waffen, simple Wahrheiten, die erlauben, die Feinde als «Ungläubige» zum Abschuss freizugeben, und eine simple Lösung, die auf Zerstörung hinausläuft. Die Probleme dieser Welt werden dabei auf unmoralisches Verhalten zurückgeführt: Es geht von der weiblichen Sexualität bis hin zum Alkohol- und Tabakkonsum. Die Lösung liegt darin, diese Übel gewaltsam zurückzudrängen und dadurch Reinheit zu gewinnen. Besonders bei frustrierten Jugendlichen kam und kommt diese Ideologie gut an – sie gibt ihnen eine religiöse Rechtfertigung für ihren Drang nach Gewalt. Das Terrornetz al-Kaida hatte mit dieser Paketlösung lange viel Erfolg, besonders nachdem es gewagt hatte, 2001 die USA anzugreifen.

Der Islamische Staat entstammt einer jordanischen Salafistengruppe, die von Abu Musab al-Sarkawi gegründet worden war. Anders als bei al-Kaida war es nicht sein Ziel, die entfernten Feinde im Westen anzugreifen. Der IS richtete seine Gewalt gegen «abtrünnige» arabische Regime. Hinzu kommt, dass Sarkawi es schaffte, dem Dschihad eine populistische Dimension zu verleihen, indem er die sunnitische Verbitterung gegenüber der neuen schiitischen Herrschaft im Irak nach 2003 aufnahm. Al-Kaida ist eine elitäre Angelegenheit, mit Geheimzellen und einer komplizierten Theologie. Demgegenüber fiel das populistische Sektierertum Sarkawis in den zersplitterten Gesellschaften im Irak und später in Syrien auf höchst fruchtbaren Boden.

In beiden Ländern hatten die verschiedenen sunnitischen Rebellengruppen ähnliche salafistisch-dschihadistische Ideologien, waren aber auch zerstritten und ineffizient. In dieser instabilen Situation setzte sich die gewalttätigste und zielgerichtetste Gruppierung durch – der IS. Mit seiner ständigen Zurschaustellung von Gewalt gelang es ihm, seine AnhängerInnen zu mobilisieren und seine FeindInnen in Angst zu versetzen.

Infrastruktur und Verwaltung

Der IS hat die salafistisch-dschihadistische Ideologie in ein neues Zeitalter geholt und ihr im Nahen Osten ein Territorium gegeben. Nach wie vor handelt es sich aber hauptsächlich um ein irakisches Phänomen mit Wurzeln ausserhalb des Dschihadismus: Viele IS-Anführer waren Armeeangehörige unter dem Regime Saddam Husseins oder Mitglieder der Baath-Partei. Nach Saddams Sturz wurden sie ausgemustert und arbeitslos. Beim IS fanden sie eine Möglichkeit, sich neu zu erfinden – ähnlich wie ehemalige Kader der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, die später im Nationalismus von Slobodan Milosevic Zuflucht fanden. Dem IS gelang es zudem, sunnitische Stämme in al-Anbar auf seine Seite zu ziehen, die früher einmal von den USA unterstützt wurden, nach deren Abzug dann aber vom zwischenzeitlichen schiitischen Präsidenten Nuri al-Maliki kaltgestellt wurden.

Dieses Netz aus Verbündeten macht den IS im Irak nachsichtiger gegenüber der sunnitischen Bevölkerung, über die er herrscht. In Syrien hingegen verhält er sich eher wie eine Besatzungsmacht. So ermordete er nach der Eroberung der östlichen Region Deir Essor 700 Mitglieder eines sunnitischen Stamms, der sich dem IS nicht anschliessen wollte. Trotzdem geniesst der IS auch in Syrien Unterstützung und übernimmt verschiedene Funktionen. Laut Augenzeugen aus der Region Minbidsch im Norden Syriens bevorzugen viele die ausländischen IS-Kader gegenüber der Anarchie, die unter den rivalisierenden Rebellengruppen vorherrschte. Anders als die lokalen Rebellen baut der IS eine Infrastruktur in den Kommunen auf, indem er eine Verwaltung einsetzt, die Strassen kontrolliert und Steuern erhebt. Da sind viele offenbar auch bereit, sich dem harten Regime und den grausamen Strafen zu unterwerfen. Die Kontrolle über die Ölfelder in der Region verschafft dem IS zusätzlich rund drei Millionen US-Dollar pro Tag, um die eigene Organisation und die lokale Infrastruktur zu finanzieren.

Der wichtigste Grund, den IS zu unterstützen, liegt allerdings im konfessionellen Konflikt in der Region. Viele wütende SunnitInnen in Syrien sehen im IS die beste Möglichkeit, den vom Assad-Regime losgetretenen Krieg zu beenden. Die konfessionelle Polarisierung stärkt extremistische konfessionelle Gruppierungen wie den IS, aber auch die Nusra-Front, die zum Al-Kaida-Netz gehört.

Komplexe politische Dimension

Andere Staaten waren lange ratlos, wie sie sich gegenüber der sich ausbreitenden Gewalt im Nahen Osten verhalten sollen. Doch die riesigen Erfolge des IS haben sie nun zum Handeln bewogen. Die USA haben Luftangriffe gegen den IS im Irak und inzwischen auch in Syrien gestartet und unterstützen die kurdischen Peschmerga sowie die irakische Armee mit Waffen. Deutschland liefert Fahrzeuge, Sturmgewehre und Panzerabwehrsysteme. Russland unterstützt die irakische Armee mit Helikoptern. Am 11. September kündigte US-Präsident Barack Obama zudem an, die US-Luftangriffe auszuweiten und eine Koalition zur Unterstützung von Anti-IS-Truppen wie der irakischen Armee oder der Freien Syrischen Armee anzustreben.

Um den IS zurückzudrängen, ist eine militärische Komponente notwendig, aber nicht hinreichend. Denn die politische Dimension des Kampfs gegen den IS ist viel komplexer als die militärische. Zunächst einmal haben viele traditionelle Verbündete der USA in der Region – etwa die Türkei, Saudi-Arabien und Katar – ein gespaltenes Verhältnis zum IS oder zumindest zum politischen Islam. Sie werden sich weigern, in einer Koalition mit dem Iran und seinen schiitischen Alliierten gegen eine Gruppierung zu kämpfen, die in ihren Augen gerechtfertigte sunnitische Interessen vertritt. Sollte Washington nicht auf eine regional breit abgestützte Koalition zählen können, sondern nur auf die irakischen KurdInnen und das schiitische Regime in Bagdad, würde dies die militärische Schlagkraft einschränken – und möglicherweise weitere Teile der sunnitischen Bevölkerung in die Arme des IS treiben.

In Syrien befinden sich die UnterstützerInnen der Revolution gegen das Assad-Regime in einem Dilemma: Sie müssen sich entscheiden, welche Art von Rebellengruppen sie unterstützen wollen. Die erfolgreichsten unter ihnen sind ebenfalls salafistisch-dschihadistisch ausgerichtet, etwa die Nusra-Front. Daneben bleiben die moderateren Gruppierungen der Freien Syrischen Armee, deren Einfluss jedoch marginal ist. Neben dem militärischen Vorgehen wäre es hier ein wichtiges politisches Ziel, den heutigen AnhängerInnen des IS eine Alternative zu bieten, die ihre Sicherheit als Gruppe wahrt und ihnen einen Platz im politischen System garantiert.

Es gibt Stimmen unter gemässigten AktivistInnen in Syrien, die die Lösung des IS-Vormarschs darin sehen, den moderaten Islam zu stärken. Doch wie sollte das funktionieren? Der moderate Islam wird in Moscheen, Schulen und Organisationen praktiziert. Er kann nicht mit einer Kalaschnikow bewaffnet gegen salafistisch-dschihadistische Gruppen kämpfen – es sei denn, er radikalisiere sich.

Aus dem Englischen von Meret Michel 
und Markus Spörndli.

Westliche Intervention : Ganz nach IS-Drehbuch

US-Verteidigungsminister Chuck Hagel hat am Dienstag vor dem Senat Klartext gesprochen: Die USA seien «im Krieg» mit dem Islamischen Staat (IS). Fast gleichzeitig griff die US-Luftwaffe mehrere Ziele in der Nähe der irakischen Städte Bagdad und Erbil an.

Die strategisch versierte IS-Führung hatte es sich wohl genau so ausgemalt: Nach den per Videoaufnahmen zelebrierten Exekutionen von zwei US-amerikanischen Geiseln und einer britischen wirft eine US-geführte Koalition wieder einmal Bomben über dem Nahen Osten ab. Die bisher in erster Linie regionale Auseinandersetzung mit dem IS hat sich definitiv internationalisiert. Und dank der Angriffe der US-Kampfjets könnte der IS seine Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung erhöhen, besonders falls es zivile Opfer geben wird. Dies dürfte wiederum den Druck auf schiitische und andere IS-feindliche regionale Akteure steigern, sich gegen die westliche Intervention zu stellen – und damit den IS indirekt zu stützen.

Die USA erhielten Anfang Woche das Versprechen von rund zwei Dutzend westlichen und arabischen Regierungen, den IS «mit allen notwendigen Mitteln» zu bekämpfen. Einige Staaten in der Region zeigen sich jedoch zurückhaltend, nicht zuletzt die schiitische Grossmacht Iran.

Dabei ist die Intervention im Irak das kleinere Problem. Immerhin erfolgt sie dort auf Einladung der irakischen Regierung. Hagel sagte am Dienstag aber auch, dass er sich für «gezielte Aktionen» gegen den IS an dessen Rückzugsorten in Syrien starkmachen werde; die USA liessen sich nicht von einer Grenze behindern, die nur auf dem Papier bestehe. Was aus militärischer Logik notwendig erscheint, ist aus völkerrechtlicher und politischer Sicht problematisch: Für Angriffe auf syrischem Territorium gibt es bisher weder eine Einladung des amtierenden Präsidenten Baschar al-Assad noch grünes Licht des UN-Sicherheitsrats. Damit wäre eine Intervention völkerrechtswidrig.

Und sollte die Koalition dann doch noch mit dem Assad-Regime zusammenarbeiten, um den IS zu bekämpfen, kommt sie erst recht in Teufels Küche. Denn eigentlich wollten einst viele der jetzt beteiligten Staaten ja auch die syrische Bevölkerung vor dem Regime schützen, das über 100 000  Menschenleben auf dem Gewissen hat.

Markus Spörndli