Dschihadkultur: «Terrorisiere sie, bis sie ihren Glauben überdenken»
Im September 2014 rief der Islamische Staat erstmals auf, «dreckige Franzosen» zu töten. Seine Medienprofis kalkulieren zufällig geschossene Bilder wie jene von der Exekution eines Pariser Polizisten in die Propaganda ein. Ihre Taktiken stammen von der CIA.
Zwei Männer erschiessen in Paris zwölf Menschen. Sie fliehen, schiessen um sich. Augenzeugen zücken ihre Smartphones, filmen, wie ein Polizist exekutiert wird, stellen die Bilder ins Internet, die Medien multiplizieren sie millionenfach. Auch wenn die Aufnahmen zufällig sind, die Terroristen beziehen sie seit dem 11. September 2001 bewusst in ihre Aktionen ein. Damals brannten sich die Bilder auf dieselbe Art ins kollektive Gedächtnis ein. Unbezahlbare Propaganda ohne eigene Kosten – 9/11 bezeichnen die Dschihadstrategen wegen der automatischen Verbreitung der Anschlagsbilder als «totalen Sieg im Informationskrieg mit dem Westen». Dschihad, so ein Stratege nach dem 11. September 2001 und im Hinblick auf eine US-Invasion im Irak, sei wie Judo: Man müsse die Stärke des Gegners in seine Schwäche verwandeln.
Und nun wieder so ein Sieg. Chalid Scheich Muhammad, Exmedienchef von al-Kaida, sagte 1995: «Wenn man im globalen Dschihad eine führende Rolle spielen will, muss man nicht nur spektakulär angreifen. Man muss die Angriffe auch spektakulär vermarkten.»
«Jihad journalism» mit US-Milliarden
Diese Strategie hat einen Namen: «Jihad journalism». Die USA haben dabei eine zentrale Rolle gespielt. Der «Dschihadjournalismus» war ursprünglich von den Muslimbrüdern erfunden worden, um mit einer klaren Sprache und einem Monatsmagazin die befürchtete Verwestlichung der ägyptischen Jugend aufzuhalten. Das war vor hundert Jahren. Irgendwann schlief die Sache ein. Bis die Amerikaner im Afghanistan der achtziger Jahre den Islamisten über 1,5 Milliarden Dollar zur Verfügung stellten – eine der teuersten verdeckten CIA-Operationen aller Zeiten. Wenn es gegen die Russen ging, konnte das, was heute als «Barbarei» bezeichnet wird, nicht teuer genug sein. In Afghanistan erlebte der «Jihad journalism» nicht nur eine neue Blüte, sondern vor allem auch eine massive Radikalisierung.
Quer finanziert von den USA, gründete Abdullah Assam, der «Pate des globalen Dschihadismus», nicht nur al-Kaida und ein Dienstleistungsbüro zur Anwerbung von Dschihadisten aus aller Welt, sondern auch das Hochglanzmagazin «al Jihad». Es erschien ab Mitte der achtziger Jahre monatlich. Einerseits lieferte es den ideologischen Unterbau für den Islamismus: Es sei für jeden Muslim Pflicht, sich dem Dschihad anzuschliessen – «bis zum letzten Menschen oder bis wir den islamischen Staat sehen». Andererseits lieferte das Magazin Tipps und Tricks, wie man zum Beispiel mit einem Benzintank und ein paar Nägeln «Ungläubige» töten kann.
Assam baute für sein Magazin ein Korrespondentennetzwerk von geschulten Journalisten auf, die nicht nur schrieben, sondern auch schossen. Viele dieser eingebetteten Dschihadkorrespondenten starben. Einer der Überlebenden war Abu Musab al-Sarkawi, späterer Chef von al-Kaida im Irak und Gründer des Islamischen Staates (IS).
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sah sich derselbe Sarkawi mit der Frage konfrontiert, wie man sich neben Bin Ladens al-Kaida überhaupt noch als attraktive Marke im Dschihadistenmarkt platzieren könne, wie es Scheich Muhammad einst als Notwendigkeit für einen effektiven Dschihad beschrieben hatte. Sarkawi fand die Antwort 2004, als er den Journalisten Nick Berg in ein oranges Guantánamokostüm steckte und ihn vor laufender Kamera enthauptete.
Wie eine britische Studie im Dezember in einer Bild-für-Bild-Analyse eines Exekutionsvideos nachgewiesen hat, lässt sich der IS, der durch Ölverkäufe, Erpressung und Lösegeldzahlungen über ein Vermögen von mehr als einer Milliarde Dollar verfügt, die abschreckende und anziehende Inszenierung seiner Gewalt viel Geld kosten. So war die im Internet verbreitete Liveexekution des US-Entwicklungshelfers Peter Kassig durch einen Engländer namens «Jihadi John» und jener von 22 syrischen Soldaten im November 2014 eben nicht «live» und «one take». Wie die VideoanalystInnen mit Schattenwurf- und Schnittanalysen nachwiesen, dauerten die Aufnahmen nicht fünfzehn Minuten, sondern acht Stunden. Die verwendeten Kameras und die benötigten Aufnahmeteams dürften mindestens 200 000 Dollar gekostet haben.
Sarkawi wurde zwar 2006 samt Frau und Kind von einer 500-Pfund-Bombe der Amerikaner getötet, sein «safe house» wurde dem Erdboden gleichgemacht. Doch seine ästhetische Idee der totalen Gewaltverherrlichung als Markenzeichen lebt bis heute weiter. Sie hat sich sogar derart etabliert, dass sich die Medien beim Kommentieren der dokumentierten kaltblütigen Polizistenexekution von Paris sofort an den IS erinnert fühlten.
Für seine Propaganda unterhält der IS zwei Produktionsfirmen, das al-Hayat Media Centre und die al-Furqan Agency. Diese drehen Serien für Youtube in HD, produzieren Magazine und Dokumentationen. Der kurz nach Sarkawis Tod erste veröffentlichte Film von al-Furqan war eine stolze Aufzählung aller getöteten «Ungläubigen», unterlegt mit Bildern von Panzerfaustangriffen auf US-Konvois und der Erschiessung von irakischen Soldaten, begleitet von pathetischer Streichmusik. So ging es weiter.
Im seit Juli 2014 erscheinenden Monatsmagazin «Dabiq», das mit seiner Hochglanzästhetik auch ein westliches Lifestylemagazin sein könnte, drucken die Propagandisten Bilder geköpfter Zivilisten und Soldaten, die Köpfe säuberlich auf die Körper drapiert. In der Oktoberausgabe erklären die Dschihadisten die Massenvergewaltigung und anschliessende Versklavung von über 4000 Jesidinnen zur religiösen Pflicht. Zudem betonen sie den praktischen Aspekt solcher Versklavungen von «Ungläubigen», da Untreue moralisch verwerflich sei, nicht aber der Umstand, sich Sexsklavinnen zu halten. «Zudem haben die Ungläubigen den Pfad der Dunkelheit inzwischen verlassen und praktizieren nun mit grossem Effort den einzigen Glauben.» Blättert man weiter, strecken Kinder lachend Schüsseln voller Couscous in die Kamera, und Kämpfer setzen, wenn sie nicht gerade auf Unbewaffnete schiessen, marode Wasserleitungen instand. Das gute Leben im Kalifat.
Dem widmet sich auch die Serie «Mujatweet» auf Youtube: Der Mann am Glacéstand trägt zwar eine Kalaschnikow, die mit Eis beschenkten Kinder könnten aber glücklicher nicht sein. Dann werden wieder Zivilisten zerhackt, geköpft, in Strassengräben erschossen, eine Frau öffentlich mit Steinen totgeschlagen. Während die USA ihre Folterberichte oder Fakten zu Bombenangriffen gegen afghanische Hochzeitsgesellschaften mit schwarzer Tinte überstreichen, setzt der IS seine Kriegsverbrechen mit grossem Stolz in Szene.
Terror als konstitutive Kraft
Die Propagierung von Terror ist ein zentrales Element des IS, das zweite ist der Terror selbst. Er ist sozusagen die konstitutive Kraft des Kalifats, des islamistischen Gottesstaats, den der Islamische Staat Ende Juni 2014 in Teilen des Irak und Syriens ausgerufen hat.
Wieder spielten die USA dabei eine wichtige Rolle. Deren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak 2003 bezeichneten die Dschihadstrategen bereits ein Jahr später als ein «Geschenk Gottes». Der Sturz von Saddam Hussein habe ein «Land der Möglichkeiten» geschaffen, zeigten sie sich überzeugt, einen Ort, an dem Dschihadisten von überall auf der Welt für das Ziel eines Kalifats kämpfen könnten. Ein Ort, wo nicht mehr zwischen Nationen unterschieden werde, sondern nur noch zwischen Gläubigen und Ungläubigen, wie es IS-Gründer Sarkawi 2005 propagierte und wovon die Welt neun Jahre später via Youtube Zeuge werden sollte: aus dem Ausland eintreffende Dschihadisten, die bei der Ankunft in Syrien ihre Pässe verbrennen und dem Kalifat die Treue schwören.
Kurz nach der damaligen US-Invasion publizierte ein Mann namens Abu Bakr Nadschi im Internet das 300-seitige Werk «The Management of Savagery». Es gab die Strategie und die Brutalität vor, mit denen im Irak ein Kalifat errichtet werden könne. Ein Kernsatz, der sich gegen die lokale muslimische Bevölkerung richtete, lautet: «Terrorisiere sie so lange, bis sie ihren Glauben überdenken.»
Die militärischen Strategien der Islamisten auf dem Weg zum Kalifat stammen nicht aus dem Koran, sondern von der CIA. Den US-Geheimdienstanalysten Ray S. Cline, mit dessen Werken die Dschihadisten während des Kalten Kriegs in Afghanistan vertraut gemacht worden waren, bewunderten sie als «grössten Denker des Kalten Kriegs». Von ihm und anderen CIA-Analysten übernahmen sie viele Guerillatechniken, die sie nun gegen die USA einsetzten: «Unser grösster Vorteil sind unsere Beweglichkeit und die Schwerfälligkeit der USA, die einen Status quo erhalten wollen. Wir aber operieren aus dem Schatten und können zuschlagen, wo und wann wir wollen.»
Dschihadstratege Nadschi gab sich dabei überzeugt, dass die US-Invasion in Kombination mit stetem Terror der Dschihadisten gegen die Zivilgesellschaft in gewissen Regionen des Irak für ein «Sicherheitsvakuum» sorgen würde. «Wenn die Ordnungsmacht ihre Truppen abzieht, werden Zonen voller Chaos zurückbleiben, in denen die geschundene Bevölkerung die Dschihadisten als neue Ordnungsmacht mit offenen Armen empfangen wird.» Die Geschichte gab ihm recht.
«Ein Hafen für weltweiten Terror»
Wenn man die Aufrufe der Dschihadisten im letzten Jahr verfolgt hat, kam das Attentat von Paris nicht überraschend. Die Geiselnahme von Sidney im Dezember ebenfalls nicht. Denn am 22. September 2014 hatte der Islamische Staat seine Strategie geändert. Dem lokalen Terrorkrieg im Irak und in Syrien sollte nun – wie bei al-Kaida – ein globaler Dschihad folgen. Vor allem «dreckige Franzosen» soll der Terror treffen, liess der Emir des Kalifats in Syrien in einem elfseitigen Schreiben verbreiten, oder Amerikaner und Australier – und danach jeden anderen «Ungläubigen» überall auf der Welt.
Aber eigentlich ist es fast egal, von welcher Organisation die Täter nun geschickt wurden; ob sie überhaupt geschickt wurden oder ob sie autonom gehandelt haben und die Dschihadisten sich nun propagandistisch clever der Planung rühmen. Denn was al-Kaida und den aus ihrem irakischen Ableger und aus Überresten von Saddam Husseins Regime hervorgegangen Islamischen Staat unterscheidet, ist letztlich nur der Umstand, dass al-Kaida als Organisation zerschlagen ist und nur noch als loses, weltweites Terror-Franchise-Unternehmen funktioniert – ohne eigentliche Befehlskette, sogar fast nur noch als Idee.
Während der Islamische Staat eine geografisch greifbare Organisation mit Kommandostruktur ist, mit behördlicher Verwaltung und einem eigenen Geheimdienst. Der IS zahlt seinen Kämpfern Monatslöhne und den Angehörigen von Getöteten eine Rente. Letztlich aber kämpfen beide mit demselben Ziel gegen denselben Feind. Und wenn die westlichen Medien regelmässig mutmassen, die zwei Gruppen stünden womöglich in Konkurrenz um die Dschihad-Poleposition, ist es wahrscheinlicher, dass al-Kaida nach den Anschlägen vom 11. September 2001 einfach praktisch handlungsunfähig geworden war und der Islamische Staat deshalb das Zepter übernommen hat.
Die jüngste Strategieausweitung vom lokalen zum globalen Dschihad war für den IS zwingend. Nicht, um damit zu al-Kaida in Konkurrenz zu treten. Im Gegenteil. Es war der heutige Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri, der dem IS diesen Weg in den Nullerjahren vorgab, gemeinsam mit anderen Vordenkern des Heiligen Kriegs: Ein Kalifat dürfe einzig nach dem Vorbild Taliban-Afghanistans geführt werden. Dort habe eine «Kultur des Kriegs» etabliert werden können «gegen die Kreuzfahrer und ihre Agenten». Das Land sei ein Ausbildungsort für Dschihadisten in Tschetschenien, Kaschmir und Burma geworden und zum Rückzugsort für Kämpfer aus aller Welt. Ein neues Kalifat müsse demnach als «Hafen für weltweiten Terror» dienen.
«Verbittere ihr Leben»
Das Schreiben, mit dem der Islamische Staat dieser Vorgabe im September gefolgt ist, enthüllt eine vom permanenten Krieg deformierte Gedankenwelt. Der Text mit dem Titel «Indeed Your Lord Is Ever Watchful» ist eine Verherrlichung von Gewalt und Aufforderung zu Mord: «Wenn du nicht in der Lage bist, eine Bombe oder Schusswaffe einzusetzen, dann such dir einen einzelnen ungläubigen Amerikaner oder Franzosen aus oder irgendeinen ihrer Alliierten. Zertrümmere seinen Schädel mit einem Stein, schlachte ihn ab mit einem Messer, überfahre ihn mit einem Auto, wirf ihn von einer erhöhten Stelle hinunter, erwürge oder vergifte ihn.» Das Ziel dieses jüngsten globalen Dschihad: «Verbittere ihr Leben, und beschäftige sie mit sich selbst.»
Nach ihrem Treiben in Irak, Afghanistan, Pakistan und Syrien ist dies den Dschihadisten nun auch in Frankreich zumindest vorübergehend gelungen.
Der Dschihad
Seit tausend Jahren streiten sich muslimische Rechtsgelehrte darüber, was «Dschihad» bedeutet. Ist es ein privates Konzept, um «mit grösstmöglicher Anstrengung», so der Urbegriff, ein Leben nach den Regeln des Korans zu führen, oder eben ein militärisches? Und wenn ein militärisches, welches? Eines zur Errichtung eines Kalifats? Oder für eine nationale Befreiung mit säkularen Optionen, wie es Jassir Arafat einst gefordert hatte?
Seit 1981 setzten sich die Islamisten mit ihrer Deutung durch. Damals ermordete die Al-Kaida-Vorgängerin al-Dschihad den ägyptischen Staatspräsidenten Anwar as-Sadat. Dieser hatte zwar eine Islamisierung des Landes vorangetrieben, aber gleichzeitig die Trennung von Politik und Religion betont. Damit habe er sich zum «Apostaten» gemacht, der den Tod verdiene. Al-Dschihad schrieb damals, Dschihad als bewaffneter Kampf sei die «vernachlässigte Pflicht» aller Muslime.