Wie weiter im Irak?: Der Fachmann rät

Der amerikanische Historiker und Islamkenner Juan Cole wurde in seiner Stellungnahme vor der aussenpolitischen Kommission des US-Senats konkret. Die WOZ dokumentiert Auszüge.

Um die Gewalt zu entschärfen, muss die US-Armee eine präzisere und gezieltere Methode im Umgang mit der Guerilla entwickeln – und aufhören, «einen Pressluftbohrer zum Öffnen einer Walnuss» zu verwenden, wie sich ein britischer Offizier ausgedrückt hat. US-Soldaten haben in ihrer Reaktion auf Guerilla-Angriffe wiederholt unverhältnismässige Gewalt angewandt und dabei durch Übergriffe auf unschuldige Zivilisten neue Guerillas geschaffen. Das in Falludscha angewandte Vorgehen wurde von den meisten IrakerInnen, wie auch von vielen Koalitionspartnern und Mitgliedern des Interimistischen Regierungsrates (IGC) als Verbrechen betrachtet und als ein Verstoss gegen die Vorschriften über militärische Besetzungen der Genfer Konventionen. Sogar bei einfachen Durchsuchungsaktionen in der Provinz al-Anbar und anderswo drangen männliche Soldaten in irakische Privathäuser und gar in deren Frauenräume ein. Sie brachten damit Schande über die Stammesführer, für die der Schutz der Frauen die Grundlage ihrer Ehre bildet.

Wenn solche Aktionen nicht durchwegs ausgezeichnete Informationen und Resultate hervorbringen, sollten sie eingeschränkt werden. Die Provisorische Koalitionsbehörde (CPA) muss das Bestreben, einzelne dissidente Führer wie zum Beispiel Muktada as-Sadr vor der Übergabe der Souveränität aus dem Verkehr zu ziehen, aufgeben. In Somalia führte genau der Versuch, den Warlord Mohammed Aidid aus dem politischen Prozess zu entfernen, zum Desaster für die US-Truppen in Mogadischu. Die USA müssen einfach akzeptieren, dass es im Irak politische Kräfte gibt, die von ihnen als unerwünscht betrachtet werden. Sie können den IrakerInnen die irakische Politik nicht vorschreiben. Andernfalls wären sie eine blosse Kolonialmacht, die für Jahrzehnte im Land verstrickt bleiben müsste und gezwungen wäre, Milliarden von Dollars auszugeben und dabei das Leben von tausenden von SoldatInnen zu opfern. Die USA sollten vielmehr diese weniger appetitlichen Kräfte im Irak in die parlamentarische Politik einbeziehen, sodass sie lernen, ihre Ziele und Konflikte im Rahmen von demokratischen Prozeduren aus- und aufzuarbeiten. Gruppen wie die Sadristen dürfen nicht darauf hoffen, ein Parlament zu beherrschen, sondern müssen lernen, Kompromisse einzugehen, um einen Teil dessen zu erreichen, was sie wollen.

Das Hauptproblem der Vereinigten Staaten ist der Mangel an Legitimität bei der Bevölkerung. Weder die CPA noch der IGC haben grossen Rückhalt bei den IrakerInnen, bis auf einige wenige Persönlichkeiten unter ihren Mitgliedern. Die beiden Institutionen sind weder aus einem demokratischen Prozess mit irakischer Mitwirkung entstanden, noch mit bedeutender Beteiligung des Uno-Sicherheitsrates – von dem sogar Grossajatollah Ali as-Sistani gesagt hat, er würde ihn respektieren. In einer Umfrage hat ungefähr die Hälfte der IrakerInnen kürzlich bekundet, sie empfänden die US-Invasion als eine Demütigung, die andere Hälfte als eine Befreiung. Aber auch jene Hälfte, die sich befreit fühlt, wartet ungeduldig auf eine Regierung, die sie als ihre eigene betrachten kann.

Die USA müssen sich nun mit aller gebührenden Überzeugung in Richtung von freien, fairen Ein-Mensch-eine-Stimme-Wahlen im Irak hinbewegen. Wahlen sollten sogar dann abgehalten werden, wenn die Sicherheitslage noch schlecht ist. Andere Wahlen in der südlichen Welt, wie zum Beispiel in Indien, sind öfter von Unruhen und sogar von Toten begleitet, sie führen trotzdem zu legitimen Regierungen. Der kürzlich veröffentlichte Plan von Lakhad Brahimi sollte ausgeführt werden, wie Präsident George Bush es angedeutet hat. Der Plan verlangt die Auflösung des IGC auf den 30. Juni und die vorübergehende Ernennung – unter Aufsicht der Uno und der Koalition – einer Hand voll hoher Beamter (ein Präsident, zwei Vizepräsidenten und ein Premierminister), die eine Übergangsregierung bilden sollen bis zu Wahlen im kommenden Winter. Er sieht zudem die Bildung eines grösseren beratenden Gremiums vor, in dem ein breiteres Spektrum der verschiedenen irakischen Akteure vertreten sein sollte, als dies im IGC der Fall war. Um die Legitimität der neuen Regierung zu sichern, ist unabdingbar, dass der Uno-Sicherheitsrat stark an deren Bildung und Einsetzung beteiligt ist. Sogar das weitere Verbleiben der US- und Koalitionstruppen müsste von einer neuen Uno-Resolution bewilligt werden, damit deren Mission im Rahmen des internationalen Rechts abgesichert ist.

In der Übergangszeit sind die verschiedenen Milizen im lokalen Bereich einzubinden und, wo immer möglich, in die irakischen Streitkräfte zu integrieren. Dabei darf das Hauptgewicht nicht darauf gelegt werden, ihre obersten Führer anzugreifen, sondern darauf, sich mit dem Gesamtphänomen zu befassen. Die Schaffung einer neuen Armee ist zu beschleunigen – und dafür muss auch mehr Geld ausgegeben werden. Ein solches Vorgehen würde die Arbeitslosigkeit und damit auch das Rekrutierungsreservoir für Milizen verringern – und zumindest auf lokaler Ebene für verbesserte Sicherheit sorgen.

Die Vergabe von Wiederaufbauaufträgen ist so strukturiert worden, dass nur kleine Aufträge von bis zu 50 000 Dollar direkt an irakische Firmen gehen. Diese Grenze ist zu erhöhen, damit mehr IrakerInnen am Wiederaufbau beteiligt und mehr lokale Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Zurückschaffen des Geldes in die Vereinigten Staaten durch die Aufträge an US-Firmen hilft weder dem Irak noch der Bekämpfung der lokalen Arbeitslosigkeit.

Vor ihrem Rückzug muss die CPA alle Schichten der irakischen Bevölkerung davon zu überzeugen versuchen, dass sie nicht von einer neuen Tyrannei durch die Mehrheit erdrückt oder von einer Hand voll US-Marionetten ausgebeutet werden. Der Versuch, die Sadristen auszuschliessen, wird nur dazu führen, dass sie gewalttätig bleiben. Sie sollten dazu ermutigt werden, das zu tun, was die schiitische Amal-Partei im Libanon seinerzeit tat: ihre Milizen gegen eine wichtige Rolle im Parlament eintauschen. Die SunnitInnen von Anbar sind gleichermassen davon zu überzeugen, dass sie im Parlament Koalitionen bilden können, mit deren Hilfe sie ihre Ziele erreichen können.

Es war ein Irrtum, das neue irakische Parlament mit nur einer Kammer einzurichten. Im Irak mit seiner schiitischen Mehrheit wird dies nur dazu führen, dass die Schiiten die Gesetzgebung dominieren können. Es sollte ein Weg gefunden werden, eine zweite Parlamentskammer zu bilden und dabei die Provinzen so in Wahlkreise einzuteilen, dass in dieser Kammer die sunnitische Minderheit überrepräsentiert ist. Ein derartiges Zwei-Kammer-System könnte dazu dienen, jegliche Tyrannei der schiitischen Mehrheit zu verhindern. Ein solcher Ausgleich ist einem Vetorecht für die Kurden beim Entscheid über die im Jahr 2005 zu schreibende Verfassung vorzuziehen, denn ein Vetorecht für eine Minderheit erscheint unfair. Dass eine Verfassung aber in einer zweiten Kammer mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden muss, ist ein übliches Verfahren.

Juan Cole

Das vollständige Referat hat Juan Cole am 22. April 2004 ins Netz gestellt (www.juancole.com)

Juan Cole ist Professor für moderne Geschichte Südasiens und des Nahen Ostens an der Universität von Michigan USA. Sein letztes Buch «Sacred Space And Holy War: The Politics, Culture and History of Shi’ite Islam» erschien 2002.

«Le Monde diplomatique» vom Mai 2004 bringt einen Artikel von Juan Cole über das Wiedererwachen des schiitischen wie des sunnitischen Nationalismus im Irak. Auf seinem Weblog «Informed Comment» (www.juancole.com) kommentiert er täglich die aktuellen Ereignisse im und um den Irak.