«Das Leben ist kein Kinderspiel»: Aus dem gebeutelten Leben

Nr. 33 –

Das St. Galler Theater parfin de siècle beweist mit einer szenischen Collage: Friedrich Glauser und seine Texte treffen noch immer den Nerv der Zeit.

Würde man die Pflanze «Friedrich Glauser» in einem botanischen Garten suchen, so fände man sie wohl unter den Nachtschattengewächsen. Und auch über diese Pflanze liesse sich sagen, was Hölderlin über die seine sagte: «Wer bloss an meiner Pflanze riecht, der kennt sie nicht, und wer sie pflückt, bloss, um daran zu lernen, kennt sie auch nicht.»

Bewusst macht einem das die Friedrich-Glauser-Hommage «Das Leben ist kein Kinderspiel», die dieser Tage in der Orangerie des Botanischen Gartens in St. Gallen vom Theater parfin de siècle gegeben wird. Lebendig wird eine intensive Textcollage, die Regine Weingart, Arnim Halter und WOZ-Redaktor Adrian Riklin aus Texten von und über Glauser komponiert haben: ein dichtes Psychogramm voller Poesie, Tragik und Kritik. Dabei zeigt es sich, dass Glausers Sprache überhaupt nicht ältelt. Vielleicht weil er Geschichten «ohne sentimentalen Himbeersirup, ohne sensationelles Gebrüll» schreiben wollte, die auch Leute verstehen sollten, «denen alles Höhere fremd ist». Vielleicht weil ihn sein Leben an neuralgische Punkte stiess, die für das 20. Jahrhundert charakteristisch sein sollten: Rausch, Wahnsinn, Sucht, Gefängnis, Klinik, Fremdenlegion. Diese Themen führt das Ensemble des parfin de siècle in achtzig dichten Minuten mit Glauser-Texten vor.

Leben im Staccato

Sein bewegtes Leben schilderte Glauser einmal so: «1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Grossvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?). Volksschule, drei Klassen Gymnasium in Wien. Dann drei Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann drei Jahre Collège de Genève. Dort kurz vor der Matur hinausgeschmissen, weil ich einen literarischen Artikel über einen Gedichtband eines Lehrers am dortigen Collège verfasst hatte. Kantonale Matur in Zürich. Ein Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf. Rest können Sie in 'Morphium' nachlesen. Ein Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. Ein Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. Rücktransport. Drei Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921-23 Fremdenlegion. Dann Paris Plongeur. Belgien Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. Ein Jahr administrativ Witzwil. Nachher ein Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (ein Jahr), während der ich in Münsingen weiter als Handlanger einer Baumschule gearbeitet habe. Als Gärtner nach Basel. Dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/29). 1930/31 Jahreskurs Gartenbauschule Oeschberg. Juli 31 Nachanalyse. Jänner 32 bis Juli 32 Paris als 'freier Schriftsteller' (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines Vaters nach Mannheim. Dort wegen falscher Rezepte arretiert, Rücktransport in die Schweiz. Von 32 bis Mai 36 interniert. Et puis voilà. Et ce n'est pas très beau ...»

Zu ergänzen bleiben: Versuch, als Landwirt in Angles bei Chartres und in La Bernerie in der Bretagne Fuss zu fassen; Entziehungskuren in Prangins beim Genfersee und in der Friedmatt; eine Reise nach Tunis, die in Marseille abbricht; dann Nervi bei Genua, wo er am 6. Dezember 1938 zusammenbricht, nicht mehr aus dem Koma erwacht und am 8. Dezember stirbt.

Dass Glauser am 7. Dezember 1938 Berthe Bendel, seine letzte Lebensgefährtin, eine ehemalige Münsinger Pflegerin, hätte heiraten wollen und also am Vorabend seiner Hochzeit gestorben ist, wiederholt auf tragische Weise ein Motiv aus seinem Werk und steht symptomatisch für das ganze Unglück, das diesem Schriftsteller widerfahren ist. Die flüchtig hingeworfene Lebensskizze lässt aber auch erahnen, dass Glauser, der aus seinem gebeutelten Leben schöpfte, es mit hell-, mit überwachen Sinnen reflektierte und in sein Werk einfliessen liess, einem Poe, einem Bowles, Burroughs oder Genet näher steht als all dem, was man gemeinhin unter Schweizer Literatur zu subsumieren pflegt - von Robert Walser einmal abgesehen. Daher rühren wohl seine späte Entdeckung und seine linkische Behandlung oder sein Fehlen gar in den gängigen Literaturgeschichten.

«Vollkommen verbummelt»

Parfin de siècle lässt «Das Leben ist kein Kinderspiel» mit dem Begräbnis von Glauser beginnen und geht dann auf den «Moorgrund in jedem Menschen» ein, aus dem die Blasen der Erinnerungen aufsteigen. Für Glauser war der frühe Tod der Mutter, den der Vierjährige nicht zu verkraften vermochte, eine Schlüsselerfahrung. Daraus entstehen der Wunsch nach «dem grossen Schlaf», der von den albdrückenden Erinnerungen endgültig erlöst, die Todessehnsucht, die Liebesgier, der Zynismus.

Letzteren nährt auch ein Vater, an dem einer zerbrechen kann. Ein Vater, wie ihn in der Zeit ExpressionistInnen und DadaistInnen auszuhalten hatten, Kafka etwa. Ein Vater, der nach der Maxime «Man kann nie streng genug mit Kindern sein» den Buben erzieht und - verfehlt. Und der in seiner psychologischen Mehrdeutigkeit wiederkehrt in Polizisten, Richtern, Ärzten, Psychiatern, Klinikleitern, Wachtmeistern.

Glausers kritische Ader richtet sich gegen Autoritäten. Das kann er, der als «vollkommen verbummelter Mensch», als «verkommene nutzlose Existenz» taxiert wurde, leicht: «Meine Akten wiegen fünfeinhalb Kilo.» Er braucht nur die Enden seiner Erfahrungen weiterzudenken und den kritischen Verstand einzuschalten. Das tut Glauser zum Beispiel in den Überlegungen, dass es die Süchtigen sind, die den Polizisten die Rente ausstellen, und die Kranken, die dies für die Ärzte übernehmen. Glausers Kritik zielt prinzipiell gegen jede Form von Ideologiegläubigkeit. Dabei fährt er, einem luziden Igel gleich, seine Stacheln gleichzeitig in jede Richtung aus: gegen die lebensfeindliche Vernunftgläubigkeit, den Willen, alles zu rationalisieren, genauso wie gegen die «uralten Bilder», die in seiner Epoche in der Nazipropaganda Urständ feierten.

Aber auch gegen die Linke: «Ist es ein Zufall, dass die grossen revolutionären Führer von Marx über Lassalle bis Lenin nie Blasen an den Händen gehabt haben, aber desto mehr im Gehirn?» Und: «Die Kommunisten hier sind mir zu zahm.» Zugleich solidarisiert sich Glauser immer wieder mit der Linken, setzt sich ein für die ProletarierInnen und die Randständigen, zu denen er selbst zählt, für das «Gesindel», und zeigt, dass der «Verbrecher in uns allen wohnt». Eine unbequeme Tatsache, auf die menschlich-allzumenschlich gerne so reagiert wird: «Wie einfach ist es doch, wenn wir uns von diesem Feind ein Bild zu machen vermögen, ihn nicht mehr in uns, sondern ausser uns sehen.»

Schon weil diese Einfachheit sich heute etwa in der Anti-Minarett-Offensive oder kruden Ausschaffungsinitiativen niederschlägt, würde es sich lohnen, sich «Das Leben ist kein Kinderspiel» immer wieder von neuem zu Gemüte zu führen und ihr noch lange nachzusinnen.


«DAS LEBEN IST KEIN KINDERSPIEL». St. Gallen, Orangerie des Botanischen Garten. Bis Di, 28. August, täglich ausser Mo. Di-Sa, jeweils 20 Uhr (Theaterbeiz ab 18.30 Uhr), So, jeweils 18 Uhr (Theaterbeiz ab 16.30 Uhr). www.parfindesiecle.ch