Nordwestpassage: Zubringer durchs Polarmeer?
Eine alte Legende erhält neues Leben: Schmelzen die Polkappen weiter, könnte sich der Seeweg nördlich an Kanada vorbei bald für den Schiffsverkehr öffnen.
Resolute Bay ist eine kleine Inuitsiedlung im hohen Norden Kanadas. Im Sommer kommt alle paar Wochen ein Versorgungsschiff vorbei, im Winter ist sie nur mit dem Flugzeug zu erreichen. Rund um die Siedlung gibt es nur Eisflächen und Tundra, die gut 200 Einwohner leben von der Jagd, vom Tourismus und den Expeditionen, die von hier aus zum Polgebiet aufbrechen. Lange Jahre hat sich die kanadische Regierung nicht dafür interessiert, was in den Nordregionen vor sich ging, doch nun will sie in Resolute Bay ein neues militärisches Ausbildungszentrum bauen. Und ein paar Meerengen weiter östlich einen grossen Hafen, der Platz für Riesenfrachter bieten soll. Man will gerüstet sein für den Ansturm.
Die Klimaerwärmung hat nicht nur Katastrophenszenarien evoziert, mancherorts hat sie auch alte Legenden wieder aufgetaut. Im 18. Jahrhundert träumten die Seefahrer davon, schiffbare Verbindungen nördlich an den Kontinentalmassen vorbei zu finden. Vor allem die Nordwestpassage an der Grenze Kanadas lockte die Abenteurer an, im Insellabyrinth am Eingang der Passage, im sich dauernd verschiebenden Packeis taten sich immer neue Wege auf, die sich im hohen Norden unweigerlich wieder verschlossen. Erst vor gut hundert Jahren gelang es dem Norweger Roald Amundsen, die Passage zu meistern. Ganze drei Jahre nahm die Durchfahrt in Anspruch, zwei lange Polarwinter war die Expedition irgendwo im meterdicken Eis eingeschlossen.
Wer heutzutage auf Amundsens Spuren durchs kanadische Nordmeer fährt, wird seinen Kampf mit den Eismassen kaum mehr nachfühlen können. Seit einigen Jahren ist die Nordwestpassage für einige Wochen ohne weiteres schiffbar, auch ohne Eisbrecher. Auf halbem Weg kommt man zunächst in Nanisivik vorbei, einem verlassenen Zinkmeiler, wo bald der grosse Hafen entstehen soll. Etwas weiter westlich liegt Resolute Bay, die Siedlung markiert ziemlich genau die Mitte der Passage. Hier soll, so die Vision, eine wichtige Seehandelsroute vorbeiführen, Frachter und Tanker würden im Minutentakt passieren.
Ein Drittel ist weg
Tatsächlich wirkt sich die Klimaerwärmung in der Arktis überdurchschnittlich stark aus. Die Eismassen schmelzen alarmierend schnell, in den letzten dreissig Jahren ist die totale Eisfläche bereits um fast ein Drittel zurückgegangen. Laut Schätzungen soll in zehn Jahren auch die Nordwestpassage so weit eisfrei sein, dass sie für die Reedereien als alternative Route attraktiv wird. Auf dem Papier ist die Rechnung einfach: Der Weg von Europa nach Asien nördlich an Amerika vorbei ist 6000 Kilometer kürzer als durch den Panama- oder den Suezkanal, Millionenersparnisse locken.
Doch die Verhältnisse am Rande des schmelzenden Eisschilds sind unwägbarer, als es kartografische Planspiele vermuten lassen. Arktisforscher weisen immer wieder darauf hin, dass sich in bestimmten Abschnitten der Passage mittelfristig sogar noch zusätzliches treibendes Eis ansammeln wird. Aufgrund solcher Prognosen haben kanadische Seehandelsexperten ausgerechnet, dass sich die Durchfahrt vorderhand kaum lohnen wird. Erstens müssten die Frachter wegen der Gefahr von Eisbergen ihre Fahrt drosseln, was die Zeitersparnis zunichte machen würde. Und zweitens würden die Versicherungen massiv höhere Prämien von den Reedereien verlangen, wenn sie ihre Routen in gefährliche Seegebiete verlagerten.
Der wahre Grund
Weshalb also die grosse Aufregung in Kanada? Auch wenn die Passage für den internationalen Schiffsverkehr kaum eine Rolle spielen wird, mit der Ruhe im kanadischen Norden dürfte es dennoch bald vorbei sein. Seit den siebziger Jahren weiss man, dass es in der kanadischen Arktis grosse Erdöl- und Erdgasvorkommen gibt. Ein riesiges Gasfeld bei Melville Island beispielsweise liegt nur einige hundert Kilometer östlich von Resolute Bay. Ausgebeutet wurden diese Vorkommen bislang nur deshalb nicht, weil der Abbau zu aufwendig war. Die unheilige Allianz von schmelzenden Polkappen und steigendem Ölpreis lässt jedoch immer weiter nördlich gelegene Öl- und Gasfelder ins Visier der Industrie geraten. Auch wenn die Nordwestpassage nicht zur grossen Transitachse wird, ein lohnender Zubringer ist sie allemal.