Britische Gewerkschaften: Die StreikexpertInnen

Nr. 37 –

Am Gewerkschaftskongress, der bis Donnerstag andauert, wurde viel von einer neuen Militanz geredet. Aber nur eine Gewerkschaft zeigt, wie man kämpfen kann - und Mitglieder gewinnt.

Der Empfang war kühl, der Beifall bescheiden: Als Gordon Brown am Montag dieser Woche dem Gewerkschaftsbund TUC seine Aufwartung machte, blies ihm der Wind ins Gesicht. Dabei hatte der neue Premierminister in seiner Rede zu Beginn der TUC-Jahreshauptversammlung alle Register gezogen, um die Gewerkschaftsdelegierten zu besänftigen. Er versprach eine härtere Bestrafung von Unternehmen, die den gesetzlichen Mindestlohn unterlaufen. Er redete von neuen Programmen für die berufliche Qualifizierung von alleinerziehenden Müttern, Langzeitarbeitslosen und Behinderten. Und er stellte «500 000 britische Jobs für britische Arbeiter» in Aussicht, die durch eine Begrenzung der Einwanderung und durch schärfere Auflagen für MigrantInnen entstehen würden.

Doch die wichtigsten Forderungen der TUC-Gewerkschaften lehnte er ab. Diese verlangen seit Jahren, dass Labour die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze aufhebt, die Margaret Thatcher in den Achtziger durchgepeitscht hatte. Sie fordern, dass die Beschäftigten der Zeitarbeitsfirmen endlich einklagbare Rechte erhalten. Und sie wollen, dass der Premier das Lohndiktat zurücknimmt, das er erlassen hatte, als er noch Schatzkanzler war. Am Gewerkschaftstag aber bekräftigte Brown seine Position: Zwei Prozent als Obergrenze für Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst; höhere Abschlüsse würden «das Wachstum gefährden und die Inflation antreiben».

Den Fehdehandschuh, der ihnen da am Montag hingeworfen wurde, griffen die Gewerkschaftsdelegierten gerne auf. Für viele der unterbezahlten ArbeiterInnen des Service public bedeuten Lohnerhöhungen von maximal zwei Prozent eine Reallohneinbusse. «Brown steuert auf einen heissen Winter zu», sagten etliche Gewerkschaftsvorsitzende. Erst vorletzte Woche hatten im ganzen Land die GefängniswärterInnen ihre Arbeit niedergelegt - es war ihr erster Streik seit über siebzig Jahren und ein wilder dazu. Auch Zöllnerinnen, Finanzbeamte, Krankenschwestern, Postboten, Polizistinnen, Lehrer und Regierungsangestellte haben in den letzten Wochen protestiert oder stimmen gerade über Kampfmassnahmen ab. Überall im öffentlichen Dienst diskutieren und planen Public-service-Angestellte Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen.

Die Flitterwochen sind vorbei

Aber kommt es, wie manche meinen, zu einer Wiederholung des «Winters der Unzufriedenheit» von 1978? Werden die Gewerkschaften nicht nur drohen, sondern auch handeln? Und den Schritt tun, den die grossen Trade Unions seit Jahren ankündigen, aber bisher nicht vollzogen haben - ihre Allianz mit der Labour-Partei beenden (vgl. untenstehenden Text)? Doch dazu wird es so schnell nicht kommen: Die Gewerkschaften sind längst nicht mehr die politische Kraft, die sie vor zwanzig, dreissig Jahren noch waren. Die TUC-Gewerkschaften zählen gerade noch sieben Millionen Mitglieder (RentnerInnen inklusive), im Privatsektor liegt der Organisationsgrad unter zwanzig Prozent - und die Mitgliederzahl nimmt weiter ab. Die Flitterwochen mit dem neuen Premier, den viele Gewerkschaftsvorsitzende lange Zeit für einen linken Labour-Politiker hielten, sind zwar vorbei. Aber aus der Defensive heraus lässt es sich schlecht kämpfen - vor allem dann nicht, wenn sich die Gewerkschaften als Service-Einrichtungen verstehen, die ihre Mitglieder mehr schlecht als recht vertreten und ihr Heil vor allem in Fusionen suchen (wie die Transportarbeitergewerkschaft TGWU und die Metall-, Elektro- und Finanzgewerkschaft Amicus, die sich im Mai zur zwei Millionen Mitglieder starken Unite zusammengeschlossen haben). Dabei geht es auch anders.

Der U-Bahn-Streik

London, Montagabend vergangener Woche, Punkt 17 Uhr. Fast an allen U-Bahnhöfen der britischen Hauptstadt ratschen die Scherengitter zu, rasseln die Stahltüren hinab. 2300 WartungsarbeiterInnen des privaten U-Bahn-Konsortiums Metronet haben ihre lang angekündigte Streikdrohung umgesetzt und ihre Arbeit an neun der zwölf Londoner U-Bahn-Linien eingestellt. In der Innenstadt und insbesondere im Bankenzentrum kommt es zu einem Verkehrschaos, das sich am nächsten Tag noch ausweiten sollte. Die PendlerInnen, die ihre Züge erreichen wollen, um rechtzeitig in die Vororte zu kommen, reagieren empört. Der «Evening Standard» und die Pendlerzeitungen schäumen: Der Streik sei unverantwortlich, schreiben sie, die U-Bahn-ArbeiterInnen müssten allesamt entlassen werden, es gehe der Gewerkschaft nur um Politik. Auch Londons Oberbürgermeister Ken Livingstone kritisiert den Streik mit harten Worten. Dabei stehen nur U-Bahn-Züge still; die Busse fahren weiterhin. Im schlimmsten Fall dauert die Reise zu den grossen Bahnhöfen Victoria, Waterloo, King's Cross oder Paddington nur eine Stunde länger als sonst.

Beschlossen hatte den Streik die National Union of Rail, Maritime and Transport Workers RMT, die vorwiegend Bahnbeschäftigte und Seeleute organisiert. «Der Streik», sagt RMT-Organisator Alan Pottage, «ist nur eine Folge der Teilprivatisierung des Londoner U-Bahn-Systems, gegen die wir jahrelang gekämpft hatten.» Im Juli hatte Metronet Konkurs angemeldet. Dreissig Jahre lang hätte das Konsortium - so der 2003 mit Labour-Schatzkanzler Brown ausgehandelte Public-Private-Partnership-Vertrag - einen grossen Teil der U-Bahn sanieren und instand halten sollen.

Doch die grosszügigen staatlichen Zuschüsse waren den Metronet-EignerInnen nicht genug. Jahrelang wirtschafteten sie in die eigene Tasche und schaufelten sich die Aufträge zu. Genau dafür hatten die AktionärInnen - der kanadische Waggon- und Lokhersteller Bombardier, die britische Baufirma Balfour Beaty, der Energiekonzern Electricité de France, das englische Technikunternehmen WS Atkins und der privatisierte Wasserkonzern Thames Water - Metronet gegründet. Als jedoch die Kosten aus dem Ruder liefen, die Regierung weitere Zuschüsse ablehnte und die Banken keine zusätzlichen Kredite mehr bewilligten, stellten die AktionärInnen einen Antrag auf Insolvenz.

Die britische Öffentlichkeit reagierte eher gelassen auf diese Entwicklung. Die Metronet-Beschäftigten hingegen waren alarmiert: Was wird aus unseren Jobs und unseren Rentenansprüchen? Und so forderten sie bereits Anfang August vom Konkursverwalter die Zusicherung, dass ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben. Als sie keine Antwort bekamen, votierten die WartungsarbeiterInnen mit über 98 Prozent für einen sechstägigen Streik - und traten, immer noch ohne verbindliche Zusage, am Montag letzter Woche in den Ausstand. Einen Tag später hatten sie, was sie wollten. Und nahmen die Arbeit wieder auf.

Nutzen solche Streiks der RMT? «Ja», sagt Alan Pottage, «sie zeigen, dass wir hinter den Mitgliedern stehen.» Lässt die miserable Publicity die RMT völlig unberührt? Immerhin wurde die Arbeitsniederlegung nicht Gordon Brown, dem Architekten der Tube-Privatisierung angelastet, sondern der Gewerkschaft. «Unsere Mitglieder können Realität von Propaganda unterscheiden.» Ein trockenes Statement von einem, der seit siebzehn Jahren in der RMT aktiv ist und schon viele Schlachten erlebt hat. Ein Statement dazu, das von Selbstbewusstsein zeugt. Und selbstbewusst ist die RMT, die in den letzten fünf Jahren wie keine andere Gewerkschaft an Stärke gewonnen hat.

2002 zählte die RMT noch rund 50 000 Mitglieder, heute sind es etwa 75 000. Was macht die RMT zu der am schnellsten wachsenden Gewerkschaft in Britannien, vielleicht sogar in ganz Westeuropa? «Die Antwort ist einfach», sagt Tony Donaghey, bis vor kurzem RMT-Präsident und seit Januar wieder einfach Zugbegleiter: «Wir schrecken vor keiner Auseinandersetzung zurück. Wenn die Mitglieder kämpfen wollen, bekommen sie von der Gewerkschaft Unterstützung.» Immer? «Immer.»

Die Gewerkschaft, sagt Donaghey, habe sich seit der Wahl von Bob Crow zum Generalsekretär 2002 verändert. Die Privatisierung der Eisenbahn in den neunziger Jahren hatte die RMT schwer gebeutelt. Die vielen Privatunternehmen, die die Staatsbahn British Rail übernahmen, kürzten an allen Ecken und Enden. «Wir verloren scharenweise Mitglieder. Dazu kam, dass die Führung gegen die Privatisierungspolitik zwar protestierte, aber wenig dagegen tat.»

Da kam der eloquente Bob Crow gerade recht. Crow, Sohn eines Ostlondoner Dockers, war in seiner Jugend Gleisarbeiter bei der Londoner U-Bahn gewesen. Seine Erfahrungen, seine Unerschrockenheit und seine politischradikalen Ansichten (er war Kommunist) machten ihn schnell zu einem Sprecher der Belegschaft und später zum gewählten Vertreter der Tube-ArbeiterInnen im Vorstand der RMT. Crow war einer von ihnen - trinkfest, Handgreiflichkeiten nicht abgeneigt, clever und in Gewerkschaftsfragen überaus kompetent. Nur mit den Medien kann er es nicht so recht: In den letzten drei Jahren hat er fünf Interviewtermine mit mir vereinbart - und alle aufgrund «dringender Angelegenheiten» platzen lassen. Für die Mitglieder hingegen ist er stets erreichbar. Praktisch alle aktiven RMT-Mitglieder kennen seine private Handynummer.

Für die britische Presse ist Crow «der Mann, der London zum Stillstand brachte», der «Gewerkschaftsboss, der die Stadt Millionen kostet» (so der «Evening Standard» während des U-Bahn-Streiks). Aber nicht Crow trifft die Entscheidungen. Sondern die Belegschaft vor Ort. «Wir sind keine Gewerkschaft, die ihre Hauptamtlichen überall dorthin schickt, wo Konflikte gären, um diese dann in Verhandlungen zu lösen», sagt Alan Pottage. «Das überlassen wir den Mitgliedern. Wenn sie ein Problem haben, dann sollen sie es selber ausfechten. Aber wir unterstützen sie dabei.»

Dieser basisorientierte Ansatz und die Zersplitterung nach der Privatisierung haben dazu geführt, dass kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendwo eine Urabstimmung oder ein Streik stattfindet. Allein im Juli und August dieses Jahres streikten RMT-Gleisarbeiter in einem Stahlwerk in Südwales gegen Arbeitsplatzabbau, drohten Leitstellenbeschäftigte in Schottland mit einer Arbeitsniederlegung (um höhere Löhne durchzusetzen), wurde die Londoner U-Bahn-Linie Bakerloo zweimal stillgelegt, um einen Personalabbau in den Bahnhöfen zu verhindern. Ausserdem traten die Cateringbeschäftigten im Manchester-Depot des privaten Bahnbetreibers Virgin dreimal in den Ausstand, um die Entlassung einer Kollegin zu verhindern. Und das private Zugunternehmen Silverlink in London konnte einen Dreitage-Streik von RMT-Mitgliedern nur vermeiden, indem es ihnen ein besseres Lohnangebot unterbreitete.

«Wir sind eine kämpfende Gewerkschaft», sagt Donaghey. Dass er nach drei Jahren Präsidentschaft in seinen Beruf zurückwechseln musste, hält er für eine vernünftige Massnahme. Keine andere britische Gewerkschaft kennt diese Rotation: Der Vorstand der RMT besteht aus AktivistInnen, die - von der Basis gewählt - drei Jahre lang hauptamtlich tätig sind und alle wesentlichen Entscheidungen treffen. Danach nehmen sie wieder ihre vorherige Arbeit auf, kehren also an die Basis zurück, und können frühestens nach drei Jahren wieder für einen Vorstandsposten kandidieren. «Wir vergessen nicht, woher wir kommen, weil wir bald wieder dort sind.»

Ist Labour das Geld wert?

Teure Wahlkampagnen, der Skandal um gekaufte Adelstitel und die zunehmende Bereitschaft der Reichen, eher den Konservativen zu spenden - all dies hat die Labour-Partei in finanzielle Bedrängnis gebracht. Die vor über hundert Jahren von den Gewerkschaften gegründete Partei ist hoch verschuldet: Über 23 Millionen Pfund (umgerechnet 55 Millionen Franken) fehlen in der Kasse. Ohne die 10,7 Millionen Pfund, die die Gewerkschaften jährlich überweisen, wäre die Partei bankrott.

Mittlerweile fragen sich jedoch immer mehr Trade Unions, ob das Geld auch gut angelegt ist. Am Montag drohte Paul Kenny, Generalsekretär der 700000 Mitglieder starken GMB, mit einem Zahlungsboykott: «Wir schicken der Partei jedes Jahr einen Scheck über zwei Millionen Pfund - und die tut nichts für die Temporärbeschäftigten.» Auch Len McCluskey, stellvertretender Vorsitzender der grossen Transportarbeitergewerkschaft TGWU, ist skeptisch: «Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt schon lange nicht mehr», sagt er. In den letzten zehn Jahren sei die Labour-Regierung nur in einem einzigen Punkt den Trade Unions entgegengekommen: bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes. Selbst Tony Benn, der in den sechziger und siebziger Jahren der Regierung angehörte und trotz seiner scharfen Kritik an der Parteiführung ein überzeugtes Labour-Mitglied ist, kommen inzwischen Zweifel: «Die Gewerkschaften hätten mehr davon, wenn sie das Geld in Basisprojekte und Kampagnen stecken würden», sagte er der WOZ. «Sie können für einen Grundbetrag von ein paar Tausend Pfund immer noch Einfluss ausüben.»

Inzwischen haben drei wichtige Trade Unions nichts mehr mit Labour zu tun: Die Gewerkschaft der Feuerwehrleute kündigte vor Jahren ihre Unterstützung auf; die Bahngewerkschaft RMT wurde rausgeworfen, weil sie sich das Recht herausnahm, auch andere politische Organisationen zu fördern; und PCS, der Verband der Staatsangestellten, war noch nie mit Labour assoziiert. Wenn Gordon Brown - wie angekündigt - auf dem kommenden Labour-Parteitag durch eine Satzungsänderung den Gewerkschaften das Recht entzieht, seine Regierung zu kritisieren, werden möglicherweise weitere Trade Unions folgen. In den vergangenen Jahren hatten sich diese - zum Entsetzen von Tony Blair und Brown - wiederholt gegen die Privatisierungs-, die Renten- und die Wohnungsbaupolitik von Labour ausgesprochen.

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