Grossbritannien: «Mein ganzes Leben habe ich darauf gewartet»
Lange Zeit blieben die Gewerkschaften und Arbeiter:innen in Grossbritannien passiv. Nun hat ein Aufbäumen eingesetzt, und es folgen eine grosse Demo und ein umfassender Streik im Transportwesen. Die Regierung ist alarmiert.
Daniel Randall ist dieser Tage ganz schön aufgekratzt. Endlich passiert mal was. Der 35-Jährige trägt einen rötlichen Vollbart und eine schwarz umrandete Brille. Seit acht Jahren arbeitet Randall bei London Underground, derzeit im Kundendienst einer betriebsamen Station im Zentrum der Metropole. Er hilft Passagier:innen beim Kauf ihrer Tickets, kündigt die Einfahrt der U-Bahn-Züge an, sorgt für Sicherheit auf dem Perron und unterstützt Sehbehinderte. Randall ist Gewerkschafter der Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) sowie überzeugter Sozialist – und als solcher blickt er der kommenden Woche mit Spannung und Vorfreude entgegen.
Am Montag beginnt ein Streik, wie ihn das britische Transportwesen lange nicht mehr gesehen hat. Wenn nicht noch in letzter Minute eine Einigung erzielt wird, werden 40 000 Eisenbahner:innen der RMT an drei Tagen die Arbeit niederlegen, darunter Kondukteur:innen, Ingenieurinnen und Stellwerker. Es ist eine koordinierte Aktion von Angestellten aus dreizehn verschiedenen Unternehmen und der halbstaatlichen Gesellschaft Network Rail.
Zur Erinnerung: Seit der Privatisierung von British Rail in den Neunzigern wird die britische Bahn von mehreren privaten Gesellschaften betrieben, Network Rail ist verantwortlich für die Schienen- und die Signalinfrastruktur. Zum ersten Mal streiken Angestellte aus fast allen diesen Unternehmen, ein Grossteil des Schienenverkehrs in Grossbritannien wird stillstehen. Es ist der grösste Eisenbahnerstreik seit über dreissig Jahren.
Erfolgreiche Arbeitskämpfe
Am Montag, dem ersten Tag des Streiks, werden auch Randall und seine 10 000 RMT-Kolleg:innen bei der Londoner U-Bahn in den Ausstand treten; sie haben bewusst diesen Wochentag gewählt, um eine grössere Wirkung zu erzielen. Für den Samstag vor den Arbeitsniederlegungen hat zudem der Gewerkschaftsdachverband TUC zu einer grossen Demo in London gerufen, um höhere Löhne für alle Arbeitstätigen zu fordern – es dürfte der grösste Protest der Arbeiter:innenbewegung seit vielen Jahren werden.
«Mein ganzes Leben als Aktivist habe ich auf einen solchen Moment gewartet», sagt Randall. Und er hofft, dass es nicht ein Augenblick bleibt, sondern dass der Streik den Beginn einer neuen Ära für die Gewerkschaftsbewegung markiert: eine Zeit des Wiederaufbaus. «Es gibt Anzeichen, dass dies der Anfang eines Aufschwungs sein könnte», sagt Randall.* Er drückt sich vorsichtig aus. Zu oft hat die britische Linke auf einen Neuanfang gehofft, nur um dann enttäuscht zu werden.
Eigentlich ist es nicht schwierig, einen Schritt nach vorne zu machen, denn zurück geht es kaum: Die britische Arbeiter:innenbewegung sitzt seit Jahrzehnten in einem tiefen Loch. Hatte das Land vor rund vierzig Jahren noch über 12 Millionen Gewerkschafter:innen, waren es zuletzt weniger als 6,5 Millionen. Laut Zahlen des nationalen Statistikbüros sind derzeit nur 23 Prozent der Lohnabhängigen in einer Gewerkschaft, das ist der tiefste je gemessene Wert. «Wir beginnen also auf einem sehr niedrigen Niveau», räumt Randall ein.
Aber die vergangenen Monate haben ihn optimistisch gestimmt, zumindest was die Entschlossenheit der Gewerkschaften angeht. Tausende Lohnabhängige aus mehreren Sektoren sind in den Streik getreten, um für bessere Bezahlung zu kämpfen: Deliveroo-Fahrer:innen, Buschauffeure, Unilektorinnen, Reinigungspersonal oder Angestellte einer Süsswarenfabrik. Von April 2021 bis April 2022 hat der TUC über 300 Lohnstreite in verschiedenen Sektoren gezählt – so viele wie zuletzt vor fünf Jahren. Entscheidend ist, dass die Gewerkschafter:innen in vielen Fällen erfolgreich waren. Die Müllwerker:innen in Eastbourne beispielsweise erhielten nach einem sechstägigen Streik eine Lohnerhöhung von neunzehn Prozent. Die Angestellten im Verteilzentrum eines grossen Baumarkts erkämpften sich mit einer mehrwöchigen Arbeitsniederlegung elf Prozent mehr Lohn.
Die Militanz nimmt zu
Woher kommt dieses zunehmende Selbstbewusstsein? Dringende Notwendigkeit, könnte man sagen. Während der Coronakrise merkten viele Angestellte, dass ihr Job für die Gesellschaft und die Wirtschaft systemrelevant ist, etwa Krankenpfleger:innen oder Transportangestellte. «Dazu kommt, dass viele dieser Leute grosse Opfer gebracht haben: Sie haben ihre eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt, um die Wirtschaft am Laufen zu halten», sagt Gregor Gall, Professor an der Universität Glasgow, der sich auf die britische Arbeiter:innenbewegung spezialisiert hat. Aber eine angemessene Lohnerhöhung hätten sie nicht gesehen, so Gall. Seit Anfang des Jahres steigen auch noch die Preise rasant an: Strom, Gas, Lebensmittel, Benzin, alles wird teurer, derzeit beträgt die Inflation neun Prozent. So versuchen die Gewerkschaften, Lohnerhöhungen auszuhandeln, um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen.
Auch die RMT hat es versucht. Manche der Bahnangestellten haben seit drei Jahren Lohnnullrunden hinter sich, zudem ist ein Stellenabbau geplant. Die Bahnbetreibergesellschaften und Network Rail wollten den Forderungen der RMT nicht stattgeben, und so stimmten die Mitglieder mit überwältigender Mehrheit für einen Streik. Bei London Underground wird ein separater Disput geführt: Hier geht es um ein Sparpaket, das die Transportbehörde nach der Coronakrise plant; die bei der U-Bahn angestellten RMT-Mitglieder, die sich stets ohne Hemmungen mit ihrer Chefetage anlegen, feuern mit ihrem Streik schon mal einen Warnschuss ab: «Wir werden keinen Stellenabbau tolerieren, keine schlechteren Arbeitsbedingungen und keine schlechteren Renten», sagt Daniel Randall.
In diese Zeit der wachsenden Militanz fällt die Demonstration vom kommenden Samstag. Der Slogan «We demand better» (Wir fordern etwas Besseres) mag uninspiriert sein, aber der Protest hat eine wichtige Signalwirkung. Die letzte grosse Demonstration, die der TUC organisiert hat, liegt zehn Jahre zurück, damals ging es um den Widerstand gegen die Sparpolitik. Allerdings verpuffte der Enthusiasmus recht schnell. Diesmal könnte es anders sein, sagt Gregor Gall. Nicht nur wegen der prekären Lage, in der sich viele Menschen befinden, sondern auch wegen der Basismobilisierung in den vergangenen Wochen: «Der TUC hat im ganzen Land öffentliche Anlässe organisiert, auch in kleinen Orten, um für die Demo zu werben. Das ist eine sehr einfache, aber wichtige Art der Mobilisierung, die wir schon lange nicht mehr gesehen haben.»
Konfrontation mit der Regierung
Für die Gewerkschaften wird viel davon abhängen, wie gross der Protest am Samstag ist und wie erfolgreich die darauffolgenden Streiks. «Wenn die Leute sehen, dass wir Arbeitskämpfe gewinnen, dann können wir sie viel einfacher davon überzeugen, dass sich Widerstand lohnt», sagt Randall. Eine solche Zuversicht sei für den Wiederaufbau der breiteren Bewegung entscheidend. «Es steht viel auf dem Spiel.» Auch auf konservativer Seite ist man sich der Bedeutung der kommenden Wochen bewusst. «Dies ist die Chance für die Gewerkschaften, Grossbritannien unter ihre Kontrolle zu bringen», schreibt der konservative «Daily Telegraph» in gewohnt schrillem Ton. Das Blatt warnt: «Der Ausstand der Bahnarbeiter:innen könnte eine neue Generation der Massenstreiks auslösen.»
Die Regierung Boris Johnsons sieht das ganz ähnlich. Entsprechend ihrem zunehmend autokratischen Stil reagiert sie so, wie man es von ihr erwarten würde: Sie fasst eine Verschärfung der Streikgesetze ins Auge. Transportminister Grant Shapps überlegt sich, eine neue Regelung einzuführen, laut der ein Streik im Transportsektor illegal wäre, wenn nicht ein Minimum an normalem Betrieb beibehalten würde. Freilich würde ein Arbeitsausstand dann seinen ganzen Zweck verfehlen – genau das Ziel der Regierung. Die Londoner RMT hat jedoch nicht vor, klein beizugeben: Sie hat bereits einen Beschluss gefasst, sich einem solchen Gesetz nicht unterzuordnen. Selbst Daniel Randall bezeichnet dies als «recht radikalen Schritt».
Eine Konfrontation zwischen Regierung und Gewerkschaftsbewegung in den kommenden Monaten scheint denn auch unausweichlich. Für Randall geht es um mehr als Löhne und Arbeitsbedingungen. «Wir leben in düsteren Zeiten. Die ökologische Krise, das Erstarken des Rechtsnationalismus in vielen Ländern – es gibt viel Anlass für Pessimismus», sagt er. «Aber ein Moment wie dieser, wenn wir Widerstand leisten und sehen, was für Möglichkeiten sich für uns eröffnen, das gibt mir sehr viel Hoffnung.»
Ergänzung vom 23. Juni 2022: Daniel Randall legt Wert auf die Tatsache, dass er nicht im Namen der RMT spricht, sondern seine persönliche Meinung vertritt.
Nachtrag vom 23. Juni 2022 : Boris Johnson steht vor einem heissem Sommer
So gehe das nicht, mahnte Boris Johnson am Dienstag: Wenige Stunden nachdem in Grossbritannien der grösste Eisenbahner:innenstreik seit Jahrzehnten begonnen hatte, warnte der britische Premierminister vor einer Eskalation der Arbeitsdispute. Jetzt, so Johnson, sollten bitte nicht auch noch die Angestellten des öffentlichen Sektors kommen und auf bessere Bezahlung drängen. Lohnforderungen müssten «proportional und ausgeglichen sein». Johnson hatte den Angestellten bereits vor zwei Wochen in Lohnstreitigkeiten Zurückhaltung nahegelegt.
Offensichtlich steigt an der Downing Street 10 die Nervosität. Der Streik der rund 40 000 Eisenbahner:innen von der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT), der den Grossteil des Schienenverkehrs lahmlegte, ist auch eine Machtdemonstration: Wenn sie wollten, könnten sie das ganze Land zum Stillstand bringen, so die implizite Botschaft – und damit die nationale Debatte bestimmen. Ganz Grossbritannien spricht derzeit über stagnierende Löhne, die Folgen der hohen Inflation und die Krise bei den Lebenshaltungskosten.
Die RMT stösst mit ihrer Aufforderung an die Lohnabhängigen, für ihre Rechte zu kämpfen, auf viel Resonanz: Laut einer neuen Umfrage sind 58 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass der Streik gerechtfertigt ist. Unter den 18- bis 34-Jährigen liegt der Zuspruch gar bei 72 Prozent. In einem Land, das von einer konservativen, gewerkschaftsfeindlichen Presse dominiert ist, die die RMT als «marxistische Schlägertypen» und «undankbare Extremisten» bezeichnet («The Sun»), ist das bemerkenswert.
Und freilich haben die Brit:innen nicht vor, der Mahnung von Premierminister Johnson Folge zu leisten und sich bei Lohnforderungen zurückzuhalten. In sechs verschiedenen Gewerkschaften werden derzeit Streikabstimmungen vorbereitet oder sind schon im Gang – sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Sektor. Callcenterangestellte, Postbeamt:innen, Zugführer:innen, Gesundheitsmitarbeiter und Lehrerinnen könnten schon in den kommenden Monaten in den Streik treten. Johnsons Regierung bereitet sich auf einen heissen Sommer vor.
Peter Stäuber