Schlieren (ZH): Die Stadt am Rand
Die Strasse ist das laute Herz, die Architektur die zerknitterte Haut, und wo in der Schweiz leben so viele Menschen ohne Geld und Schweizer Pass? Aber Biotechfirmen sind gekommen, Mercedes-Benz und sogar die NZZ. Schlieren ist nicht krank, Schlieren ist die Zukunft der Schweiz. Unterwegs im suburbanen Ungefähr.
Ein Kollege sagt es leise, ernst, mit leicht geneigtem Kopf: «Schlieren ist der einzige Ort im Kanton Zürich, in dem ich nicht wohnen könnte.» Ausgerechnet er, auf dessen Urteil ich sonst so viel Wert lege, bestätigt diese Metapher, in die alles hineingestopft wird, was nicht Platz hat in den Vorstellungen von Landesüblichkeit. Als «Abfallkübel» bezeichnete der «Tages-Anzeiger» die Kleinstadt mit dem höchsten Ausländeranteil im ganzen Kanton.
Abfall? Das ist doch das, was von einem Produkt als unbrauchbar übrig bleibt. Oder anders: Abfall ist, was der Gefrässigkeit des allgegenwärtigen Verwertungszwangs entging. Nichts wie hin!
Auf der Strasse
Vierspurig geht es von Zürich nach Schlieren hinein. Gleich nach dem Ortsschild fällt links das vergilbende Meeresblau an einem einstöckigen Anbau ins Auge, der sich «Tauchschule» nennt. «Die Farbe samt Aussenbeleuchtung wollte die Stadt anfangs verbieten», sagt Eigentümer René Signer. Heute hat er andere Sorgen. Wieder einmal sei eingebrochen worden. «Das ist nun schon das fünfte Mal in zwölf Jahren. Unglaublich, was denen alles einfällt. Die sollten ihre Kreativität mal anders einsetzen.» Sonst gefällt es Signer hier. Im Schwimmbad kann er seine Tauchkurse durchführen; die Lage an der stark befahrenen Strasse sei gut.
Die Strasse, die auf einer Länge von vier Kilometern quer durch die Stadt verläuft, heisst im Süden Zürcherstrasse, ab Ortsmitte Badenerstrasse. Da, wo sie noch Zürcherstrasse heisst, sitzen fünf Arbeiterinnen an einem Gartentisch. Vor einem imposanten Klotz aus Aluminium und Beton packen sie vergnügt ihre Sandwichs aus. Dann kommt, versteckt hinter Hecken, ein vergessener Tennisplatz; aus dem roten Boden wächst kniehohes Unkraut; der Platzwart bittet auf einem Papier aus dem Jahr 2001 um Bewässerung der Spielfelder. Auch das Gasthaus Freihof trauert einsam lebendigeren Zeiten nach - stellvertretend für andere aufgegebene Geschäfte und Beizen. Nicht weit von dem ehemaligen Lokal entfernt hat sich Mercedes-Benz in einem modernen Geschäftshaus niedergelassen. Angestellte in weissen Hemden witzeln auf dem Weg in die Kantine, es ist Mittag. Sie kreuzen eine afrikanische Familie, die mit Plastiksäcken beladen auf schmucklose Wohnblöcke zusteuert; schäbige Mietskasernen, dafür billig. Ein paar Jugendliche lümmeln bei einer Bushaltestelle herum. Etwas weiter steht, hinter Efeu versteckt und verträumt wirkend, das Schlieremer Ortsmuseum. Seine Fensterläden sind geschlossen. Vorne, hinten, links, rechts - überall Halden von Autooccasionen, irgendwo mittendrin ein prächtiges Bauernhaus, hier Werbung für «Fahrausweisentzugs-Mietautos - 45 km/h», dort Tankstellen, Hochhäuser, ein Durchgangsplatz für Fahrende. Ein paar Männer prüfen, zwischen Wohnwagen stehend, eine schwere Limousinenoccasion, es heult unangenehm, als sie den Motor im Leerlauf hochjagen. Unter einem Kranz von schmutzigen Schweizer Fahnen aus Plastik döst ein Mann. Im Hintergrund Baukräne und Schnellzüge und weit oben Flugzeuge im Steigflug. Unten immer noch die Ausfallachse ohne Grünphasen für FussgängerInnen. Ganz am Ende, kurz vor Dietikon und etwas erhöht, taucht plötzlich eine märchenhafte Platanenallee auf und dann ein Container mit der Aufschrift «Imbiss Hasi». Davor ein Sack mit Petflaschen.
Im «Aurelia»
Ein warmer Brotfladen im Restaurant Aurelia verkürzt das Warten auf die serbische Grillspezialität Rostelj. Wenn das Rotlicht den Verkehr unterbricht, ist ein Star zu hören, begleitet von Schreien jagender Schwalben; kümmerliche Kletterpflanzen in schmalen Kästen fordern Lebensrechte auch für die Flora; ein Mann im vierten Stock eines Wohnhauses lehnt seinen Bauch ans Balkongitter und blickt lange sehnsüchtig ins Abendrot. «Ich sage dir», sagt Wirtin Ferida Milosevic, «ich bin schon seit zwei Jahren hier, aber ich kenne keine Leute. Niemand von den Nachbarn kommt zu einem Kaffee.» Die Arbeit in der Küche sei anstrengend, doch sie will durchhalten, mindestens bis die Tochter ihre Schule in Zürich beendet hat.
Die wenigen Menschen auf den Trottoirs schauen sich nicht an. Am Bahnhof fehlen die Wanderwegzeichen. Die Herausforderung Schlieren kennt keine Erläuterungen für all die reale Belanglosigkeit und die irreale Dinglichkeit auf diesem schmalen Streifen zwischen Auto- und Bahnschneisen. Hier schieben sich die Jahrzehnte und gelegentlich sogar die Jahrhunderte wahllos ineinander; Stadt und Land, Krise und Prosperität, Schlichtheit und Geprotze, Leere und Lärm, schmuddelige Reste der aufgegebenen Industrien und geglättete Räume für die neuen Technologien stehen sich planlos im Weg und scheinen doch miteinander verbunden. Woher nur kommt meine leise Furcht, dieses unerwartete Gemenge aus schäbiger Lieblosigkeit und pragmatischem Geschick sei gefährdet durch die Normalität ringsum, die sich bereits unübersehbar Platz geschaffen hat mit architektonischem Imponiergehabe aus Glas, Aluminium und Beton?
Auf dem Berg
«Schlieren für alle» heisst eine Veranstaltungsreihe, die ursprünglich als Integrationsprojekt für die vielen AusländerInnen in der Gemeinde gedacht war. Auf dem Programm standen die Besichtigung des Limmattalspitals und ein Besuch des Werkhofs. Jetzt ist die Natur an der Reihe auf dem Schlierenberg. Die rund fünfzig mit Regenschirmen ausgerüsteten AusflüglerInnen trotzen beim alten Reitplatz oben im Wald dem garstigen Wetter. Das Grüppli erinnert an einen gutschweizerischen rüstigen RentnerInnenverein. «Es ist schwierig, an die Ausländer heranzukommen. Deshalb machen wir das jetzt für Neuzugezogene und Einheimische», sagt Organisator Urs Lienhard.
Hübsch ist es hier oben. Der Mülibach hüpft munter zu Tal, und wäre der Himmel nicht so verhangen, man sähe weit übers Zürcher Unterland. «Ein Drittel unseres Stadtgebiets ist Wald», sagt Stadtpräsident Peter Voser in seiner Begrüssungsansprache. Seine ZuhörerInnen kommen aus jenem Teil Schlierens, der sich aus der Limmatebene sanft in die Höhe zieht, in dem sich kleine, aber ansehnliche Mietshäuser an verkehrsberuhigter Lage aneinanderschmiegen, wo es eine Strasse gibt, die «Heimeliweg» heisst.
Die Gruppe besucht einen der acht noch aktiven Bauernhöfe auf Schlieremer Boden. Im Stall der Familie Lips sucht sich Hündin Senta wedelnd jemanden, der sie streichelt. Man plaudert ein wenig über die Ortsgeschichte, über Winter, die noch wirklich kalt waren, und die Zeiten, als mit dem Ross gepfadet wurde. Zum Abschied Beifall; es ist, als beklatsche man sich selbst.
Während oben auf dem Schlierenberg von der Stadt offerierte Bratwürste brutzeln und ein Handörgeler aufspielt, hämmern unten Bässe aus offenen Autofenstern. Ein Kindergärtner pirscht sich von hinten an eine ältere Frau heran und ruft ihr etwas zu. «Du huere Saugoof!», tönt es zurück.
Im «Cool Bazar»
Fredi erzählt zuerst von seiner Drogenkarriere im Zürcher Letten in den achtziger Jahren - «zum Glück Vergangenheit» - und dann von den AusländerInnen, die sich hier, «wo wir Schweizer schliesslich zuerst waren», anzupassen hätten. Wirt Sarge Boutiba turnt um eine Bierlache herum, die Isemet, genannt Isy, eben verschuldet hat, und verkündet lauthals, in Schlieren habe die Zukunft der Schweiz bereits begonnen. «Schlieren? Das ist wie Amerika!», schwärmt Dominique Boutiba, die Wirtin des «Cool Bazar», und setzt ihr Gespräch mit einem schmalen jungen Mann mit tätowierten Armen fort, der von seiner soeben beendeten 28-Stunden-Schicht berichtet, in der er im Technopark in Zürich eine Achterbahn aufgestellt hat. Hinten im dazugehörigen Kramschopf leuchten blau-rot ein paar Fanartikel des FC Basel.
Der «Cool Bazar» ist im ehemaligen Postbüro untergebracht, das lange leer gestanden hatte. Er liegt gleich beim Bahnhof und bedient allerlei Klischees. «Ein Treffpunkt für Ein-, Auf- und Absteiger», titelte die NZZ und sagte, der «Bazar» sei ein beispielhafter Ort der Integration. Bald soll das Gebäude abgerissen werden. Der «Cool Bazar» muss einem Neubau weichen. Zwischendurch hatte es sich der Investor mal kurz anders überlegt. «In Schlieren kannst du nicht reich werden, nicht als Wirtin und nicht als Investor», kommentiert Dominique.
Bei Kala und Raja
Kalanari Kulasabanathan wäre ihr voller Name. Aber sie lässt sich gnädig Kala nennen, und ihr Ehemann, der einen noch viel komplizierteren Namen hat, begnügt sich mit Raja. Kala war Lehrerin im tamilischen Teil von Sri Lanka und kam 1993 von Deutschland in die Schweiz, um Raja zu heiraten. Ihre Ehe wurde von ihren Familien arrangiert. «Aber das Horoskop war gut.» Die beiden strahlen. Sie wohnen in einem hübschen Wohnblock mit viel Grün drum herum.
Kala arbeitet ungefähr einmal die Woche als Kulturvermittlerin für tamilische Eltern und deren Kinder an den Schlieremer Schulen. Meistens geht es um sprachliche Probleme, manchmal aber auch um die Klärung interkultureller Schwierigkeiten. «Zum Beispiel, wenn beide Eltern arbeiten und die Kinder unbeaufsichtigt sind.» In solchen Fällen muss Kala geduldig verhandeln. Vor fünf Jahren, als sie mit dieser Aufgabe anfing, wurde sie von ihren Landsleuten nicht immer akzeptiert. «Aber jetzt treffen wir viele Tamilen an Festen oder Hochzeiten. Das erleichtert meine Aufgabe.» Kala erhält von der Schulpflege siebzig Franken für eine Beratung. «Wenn ich an die vielen Anrufe oder Treffen denke, die sich an eine Beratung anschliessen, dann ist das nicht viel.» In Supervisionskursen musste sie lernen, Grenzen zu setzen. Kala empfiehlt ihren Landsleuten, ihre Kinder in einen lokalen Verein zu schicken; ihre Tochter geht ins Karate.
Auf Gleis 1
Gut gedeckt von den Pfeilern, die das Dach halten, sitzt ganz weit hinten auf dem Perron von Gleis 1 am Schlieremer Bahnhof ein dicker Kater. Erst wenn man näher tritt, merkt man, dass das Tier nicht lebendig ist und ihm ein paar Dummköpfe die Ohren abgeschlagen haben. Es handelt sich um eine Arbeit von Künstler Peter Meister. Sie gehört zu den drei Plastiken, die die im alten Gaswerk beheimatete Arbeitsgemeinschaft der BildhauerInnen der Stadt zur Verfügung stellt. Nach etwa einem Jahr werden die Plastiken zurückgegeben, und andere KünstlerInnen können andere Arbeiten an anderen Orten aufstellen. «Zürich beneidet uns um dieses einfache, aber wirkungsvolle System, Kunstwerke unter Mitsprache der Künstler im öffentlichen Raum so zu platzieren, dass sie nicht in irgendwelchen Parks dekorativ, aber belanglos verstaut werden», sagt Jürg Altherr, einer der rund zehn BildhauerInnen, die ihre Ateliers im stillgelegten Gaswerk eingerichtet haben. Bei der Unterführung am Bahnhof ist eine grosse Steinplastik von Piero Maspoli quer in den Weg gestellt und will so als «Stein des Anstosses» daran erinnern, dass hier Menschen zu Fuss unter die Erde geleitet werden, damit Menschen mit Motoren über sie hinwegfahren können. Auf der anderen Seite, gleich neben dem Stadthaus, steht eine mächtige Eisenplastik von Heinz Niederer, der interkulturelle Musikabende mit Tanz organisiert.
Bei den Sozis
«Wir von der SP haben die Schlieremer Verkehrssünden der siebziger Jahre mitzuverantworten.» Markus Bärtschiger denkt dabei vor allem an die Erweiterung der Durchgangsstrasse auf vier Spuren; fast der ganze Rest des alten Bauerndorfs, das Schlieren vor 150 Jahren war, wurde der Strasse geopfert. Er muss schreien, denn in der Sporthalle Unterrohr haben gerade die Musiker des Anatolisch-Alevitischen Kulturvereins eine Western-Country-Tanzgruppe abgelöst. Einige der Schlieremer Vereine und Parteien stellen sich an diesem Sonntag den nicht gerade zahlreich erschienenen BesucherInnen vor - ein alle Jahre wiederkehrendes Ritual. Bärtschiger, der den SP-Tisch betreut, war früher Mitglied des Stadtparlaments und Präsident der Schlieremer SP, die noch sechzig Mitglieder zählt. Früher war die SP die stärkste Partei der Stadt, heute bringt sie es bei Wahlen und Abstimmungen noch auf gut ein Viertel der Stimmen. Bärtschiger betont, dass er heute eher seine persönliche Meinung vertritt und weniger die der Partei.
Der Politiker hat seine Kindheit und Jugend an der Durchgangsachse verbracht: «Eine Katastrophe! In Schlieren wurde früher einfach herumgewurstelt. Jetzt, mit dem Entwicklungskonzept (siehe Kasten), wissen wir besser, woran wir sind, und können uns konkret zu den Einzelprojekten äussern.» Mit jedem alten Haus, das einem Neubau weichen muss, verlieren BewohnerInnen ihr Zuhause. Das seien in Schlieren oft alte Leute, sagt Bärtschiger. Sie würden dann in Altersheime abgeschoben. Auch Randständige und schlecht integrierte AusländerInnen seien von Abrissen betroffen - die müssten sich dann mit den lärmigen Wohnungen an der Durchgangsstrasse begnügen. «Die baulichen Strukturen beeinflussen die sozialen Strukturen», sagt der Politiker. Und manchmal seien auch SP-Mitglieder vom Verdrängungsprozess betroffen. «Aber auch sie haben nicht gelernt, sich zu wehren. Schlieren ist eben ländlich. Widerstand fällt hier schwer.»
Nun schon heiser bekundet Markus Bärtschiger seine Mühe mit dem Negativimage seiner Stadt. «Hier gibt es wie überall alles - aber vielleicht sag ich das nur, weil ich Lokalpatriot bin.» Stadtpräsident und FDP-Mitglied Peter Voser stellt sich für einen kurzen Händedruck zu den Sozis. «Salü, Markus», sagt er und geht dann weiter zu seinen ParteifreundInnen am benachbarten FDP-Tisch.
Am Innovationsbrunch
Auf dem Weg vom Bahnhof zum alten Gaswerk zeigt sich das moderne, produktive Schlieren in seiner ganzen Pracht. Neue, in allen Farben schillernde Aluminiumkästen ragen in den Himmel. «In Schlieren ist der zweitgrösste Biotechcluster der Schweiz», sagt Albert Schweizer, der für die Wirtschaftsförderung verantwortlich ist. Aus der inzwischen geschlossenen Firma Geistlich, die jahrzehntelang Knochen zu Leim verkocht hat - weshalb es in Schlieren lange Zeit nicht sehr angenehm roch -, haben sich neue Biotechforschungslabors und -produktionsstätten entwickelt. Und vom Druckzentrum der NZZ gingen Impulse zur Gründung neuer Medien- und Grafikunternehmen aus. Schlieren boomt, zumindest hier.
In der Schule
Die Mädchen heissen Luana, Nesrin oder Pavithera, die Jungen Ahinth, Leovis oder Kreshnik. Sie bilden mit Lehrerin Carmen Caversaccio einen Kreis in ihrem Klassenzimmer im Schulhaus Kalktarren, sind dreizehn oder vierzehn Jahre alt und ahnen möglicherweise schon die Schwierigkeiten, die sie in zwei Jahren haben werden, wenn sie von der Sekundarstufe B den Übertritt ins Berufsleben schaffen müssen. Sechzig Prozent der Schlieremer SchülerInnen haben einen Migrationshintergrund; in dieser Klasse sind es hundert Prozent.
Lehrerin Carmen Caversaccio will wissen, in welchen Ländern ihre BerufskollegInnen den SchülerInnen helfen und wo weniger. Nach einer kurzen Diskussion scheint es ganz so, als würden die LehrerInnen in Portugal am besten abschneiden. Aber natürlich hinter jenen in Schlieren.
«Hier ist die Schule hundertmal besser als bei uns in Kuba. Dort dürfen die Lehrer die Kinder schlagen, jedenfalls bis vor kurzem», sagt Leovis Martinez. «Wenn du dir später mal eine tolle Wohnung leisten könntest, würdest du dann in Schlieren bleiben?» Die Antwort aller neunzehn Kinder: «Ja! Ich bleibe hier.» Und weiter: «Es ist schön in Schlieren. Hier kenne ich alle.» Vielleicht war ja ein wenig Gruppendruck dabei, und mit dreizehn oder vierzehn fällt es schwer, sich selbst gewählte Alternativen vorzustellen. Aber wie auch immer: So viele Liebeserklärungen an Schlieren hat der Stadtpräsident sicher noch nie gehört.
Es wird Zeit, Abschied zu nehmen von Schlieren. Abschied von einer Randzone, über der die FreundInnen einer idealisierten Schweiz so gern einen Deckel anbringen möchten, damit sie nicht genauer hinsehen müssen.
Gott so fern und Zürich so nah
«Gott so fern und die USA so nah», sagen die Mexikaner, wenn sie von ihrem Land reden. In Schlieren muss es statt USA Zürich heissen. Mehr als 700 Züge von und nach Zürich fahren täglich durch Schlieren, alle zwei Minuten einer. 30 000 Fahrzeuge durchqueren jeden Tag die 13 000 EinwohnerInnen zählende Stadt an der nordwestlichen Peripherie Zürichs. Die Dominanz der nahen Finanzmetropole prägt auch den Alltag der SchlieremerInnen. Wenn sie im Ort einkaufen gehen, sagen sie «Ich gehe ins Dorf»; wenn sie nach Zürich fahren, heisst es «Ich gehe in die Stadt».
Seit mit der Wiederaufwertung einst verschmähte Stadtquartiere wie die Zürcher Kreise 4 und 5 chic wurden, verdrängten dort gut verdienende ProfiteurInnen der Moderne die ökonomisch Schwächeren. Arbeitslose, Randständige, Ältere und wenig integrierte MigrantInnen mussten sich neue Wohngelegenheiten suchen. In den emissionsbeladenen Agglomerationen Zürichs wurden sie fündig und ersetzten dort die IndustriearbeiterInnen, die mit der Entindustrialisierung zu einem grossen Teil verschwunden waren. Gleichzeitig wirbt der Standort Schlieren erfolgreich Firmen an - mit günstigem Land, tiefen Mieten und wettbewerbsfreundlichen Steuersätzen. Viele Unternehmen ziehen in leere Gebäude und Hallen der «alten» Industrien. So wird die soziale Abwertung der urbanen Peripherien von einer wirtschaftlichen Aufwertung begleitet.
Tatsächlich geht es Schlieren nicht schlecht. Die Steuern der neu angesiedelten Betriebe mit ihren 13 000 Arbeitsplätzen helfen, die hohen sozialen Aufwendungen (über tausend Franken pro EinwohnerIn) zu sichern. Um sich aber langfristig von den konjunkturbedingten, unsicheren Steuereinnahmen der Unternehmungen zu lösen und als Wohnort attraktiver zu werden, will auch Schlieren EinwohnerInnen mit hohen Einkommen gewinnen. Deshalb hat der Stadtrat ein Veredelungskonzept erstellt mit dem Ziel, Schlierens Image «gesamthaft nach oben» zu hieven und das «Unschöne» zum Verschwinden zu bringen. Konkret soll das Zentrum vom Durchgangsverkehr entlastet und der Ortskern zu einem «identitätsstiftenden» Einkaufs-, Wohn- und Freizeitbereich mit Fahnenstangen und Sitzbänken umgebaut werden.
Journal der Unattraktivität
Wann ist eine Stadt attraktiv? Wenn sie in nationalen oder internationalen Wettbewerben auf den vordersten Rängen landet wie Zürich und Genf regelmässig? Das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» wertet jedes Jahr alle Schweizer Städte aus. Ihre Kriterien sind zum Beispiel der Arbeitsmarkt, Steuerbelastung und Sozialstruktur, Tourismus, Zentralität. Zug und sechs Zürcher Gemeinden führen die Rangliste an, ganz am Ende figurieren La Chaux-de-Fonds, Delémont, Grenchen, Le Locle. Sind diese Städte unattraktiv? Was sagen die Menschen, die dort leben? Wie nehmen sie ihre Gemeinde wahr, weshalb bleiben sie dort, wo es angeblich nicht gut ist? Die WOZ startet mit dieser Ausgabe eine lose Serie zu Städten und Vororten in der Schweiz, die je nach Perspektive als besonders unattraktiv oder auch als besonders attraktiv bezeichnet werden können. Denn gerade jene Städte, die ganz am Schluss der offiziellen Attraktivitätslisten stehen, überraschen bei genauerem Hinschauen. Ihren Charme nehmen wir unter die Lupe. Den Anfang macht Schlieren; Reportagen aus Grenchen, La Chaux-de-Fonds und anderen Orten werden folgen. Und dann blicken wir auch über die Städte hinaus, in unattraktive Gärten, Täler, ins Nichts.