Renens bei Lausanne: Die radikale Linke gerät von links unter Druck
Wer immer noch den Wahlblues hat, der sollte nach Lausanne West fahren. Hier findet sich das Gegenteil der SVP-Spiesserschweiz: Renens, eine der linksten Gemeinden des Landes. Doch auch hier gibt es Enttäuschungen.
Das Überraschende an Florissant ist seine Schönheit. Oder vielleicht besser: der Wille dazu. Auf den ersten Blick ist das Quartier in der Gemeinde Renens hässlich: graue Wohnblocks, abgewaschene Fassaden, orange Balkonstoren. 1400 Personen leben hier gegenüber einer Industriezone, die in den Sechzigern ArbeiterInnen aus Spanien, Italien oder Portugal in die Lausanner Agglomeration lockte – und die inzwischen auf das Sicherheitsunternehmen Sicpa zusammengeschrumpft ist. Als Investoren auftauchten, die auf dem Areal des Arbeiterquartiers zusätzliche Wohnblocks planten, wehrten sich die EinwohnerInnen von Florissant erfolgreich. Es hätte einen neuen Quartierplan gebraucht, um die Häuser zu bauen. Marianne Huguenin, Gemeindepräsidentin von Renens, hatte das Vorhaben unterstützt.
Die Angst vor dem «bobo»
Vielleicht war ihr nicht bewusst, was die BewohnerInnen der acht Florissant-Wohnblöcke an ihrem Quartier schätzen: die sorgfältige Anordnung ihrer Häuser etwa, die dafür sorgt, dass alle Wohnungen ganztags Sonne abbekommen; die vielen Grünflächen zwischen den Blocks, die ein Treffpunkt für die BewohnerInnen sind. Sicher ist: Florissant ist in Renens zum Symbol einer Entwicklung geworden, die andernorts Gentrifizierung genannt wird. Hier braucht man nur «bobo» zu sagen, und jeder weiss, wovon man spricht: vom «bourgeois-bohème», jenem urbanen Mittelschichtler, der in den hippen Vierteln von Lausanne oder Genf Latte macchiato trinkt. Und sich langsam auch im Westen von Lausanne mit seinen vielen neuen Bauprojekten ausbreitet. Nirgends in der Region gibt es wohl gegenüber dieser Entwicklung eine solch grosse Skepsis wie in Renens mit seiner einzigartigen Identität. Über die Hälfte der GemeindeeinwohnerInnen besitzen keinen Schweizer Pass. Renens wird seit zwanzig Jahren von der Arbeiterpartei Parti ouvrier et populaire (POP) regiert, die neben Stadtpräsidentin Marianne Huguenin auch die grösste Fraktion im Gemeinderat stellt und zusammen mit SP und Grünen eine komfortable linke Mehrheit erreicht. Und so ist wohl nur hier möglich, was sich unter dem Eindruck der wachsenden Veränderungen gerade abspielt: Die radikale Linke gerät von links unter Druck.
Marianne Huguenin wird im kommenden Sommer ihr Amt abgeben. Wer sie im «Hôtel de Ville» mit Blick auf die Bahngleise aufsucht, wird freundlich, aber mit einem betont zackigen Auftreten empfangen. Es scheint, die Gemeindepräsidentin wolle gleich klarmachen, dass sie Besseres zu tun hätte, als dieses Gespräch zu führen. Zumal sie derzeit mit Fragen konfrontiert wird, die sie etwas ungeduldig werden lassen. Huguenin, die studierte Medizinerin, hat im Sitzungszimmer ihrer Stadtregierung einen Flipchart mit einem Plan aufgestellt. Rot darauf eingetragen sind die wichtigsten Bauprojekte von Renens: grosse Infrastrukturprojekte wie der Ausbau des Bahnhofs und die neue Tramlinie, die die Agglomerationsgemeinde noch näher an Lausanne anbinden werden. Kleinere Quadrate markieren die Überbauungen, die in naher Zukunft entstehen sollen. In Florissant, sagt Huguenin, habe man den Widerstand unterschätzt. «Doch wir haben das Projekt schliesslich aufgegeben, ohne es dem Gemeinderat zu unterbreiten.»
«Die Gentrifizierung ist ein Mythos»
Vor vier Jahren hat Renens den Wakkerpreis erhalten; zusammen mit der Stadt Lausanne und den sechs weiteren Gemeinden des Bezirks Lausanne West. Ausgezeichnet wurde ihr koordiniertes Vorgehen bei der Gebietsentwicklung. In keiner anderen Region der Schweiz war die Bevölkerung in den vorangegangenen Jahren so stark gewachsen. Ein Dorf geht in der Industriezone unbemerkt ins andere über. Rund 100 000 Menschen sollen hier dereinst leben. Derzeit sind es 70 000. Renens ist von dieser Entwicklung nur am Rand betroffen: «Wir hatten das grösste Wachstum zwischen 1950 und 2000, als sich die Bevölkerung auf gut 18 000 Menschen verdreifachte.» Heute hat Renens 20 000 EinwohnerInnen. Bis 2030 sollen noch einmal 5000 dazukommen. Nachbargemeinden wie Chavannes hingegen, wohin die Lausanner Universität expandiert hat, werden viel stärker wachsen. Huguenin verdeutlicht das alles an ihrem Flipchart, um dann zu resümieren: «Die Sache mit der Gentrifizierung ist ein Mythos. Es gibt in Renens nicht einmal eine grössere Verdichtung als andernorts.»
In der linken Hochburg aber leben Menschen wie Nicolas Noël, Geografielehrer und genauer Chronist seines Wohnorts. Auf dem Bahnhof von Renens braucht Noël fünf Minuten, um zu vermitteln, wie es hier einst war, als es nichts weiter gab als einen Bauernhof und weit verstreut einige Dörfer. Alles änderte sich in Renens um 1900 herum, als der Rangierbahnhof gebaut wurde. Mit dem Bahnhof kamen die Züge und mit den Zügen die Fabriken. «Der Charakter dieses Ortes ist der Wandel», sagt Noël, der beim Spaziergang durch die Stadt immer wieder beiläufig grüsst. Entgegen kommt ihm etwa Robert Häberli, ältester Bewohner von Renens. 104-jährig ist er und einst als SBB-Arbeiter von der Deutschschweiz in die Arbeiterstadt gezogen. Geschichten wie die seine könnte Noël dutzendfach erzählen. Jedes unscheinbare Arbeiterhaus erfüllt er im Vorbeigehen mit Leben. Dann bleibt der Lehrer vor einer Blocksiedlung stehen. «Das ist ein positives Beispiel», sagt Noël.
Alles ist gut erhalten in dieser Siedlung, in der Menschen wie Häberli wohnen, einst stolze Zugangestellte, heute PensionärInnen, denen nicht mehr als die AHV geblieben ist. Wenige Meter weiter die Strasse hoch standen bis vor kurzem weitere BähnlerInnenhäuser. Sie sind mitsamt den Gärten verschwunden. Auf Stellwänden künden Animationen von einem L-förmigen Neubau. Die Baufirma trägt die Zukunft in ihrem Namen.
«Die linke Seele verloren»
Man könnte stundenlang mit Nicolas Noël durch Renens flanieren. Vorbei etwa an einem unscheinbaren Haus, in dem einst die Kinder des wachsenden Ortes auf die Welt kamen: Die Hebamme, die hier waltete, war die Frau eines Schaffhauser Unternehmers. «Er war Kader, und sie musste sich durchsetzen, um arbeiten zu dürfen. Heute sagen mir immer wieder Menschen: Hier bin ich zur Welt gekommen.» Noël ist kein Bewahrer. Aber er sorgt sich um den Geist seiner Stadt. Hier in Renens seien die ersten AusländerInnen SchweizerInnen gewesen, sagt er, all jene, die aus den deutschsprachigen Kantonen an das Drehkreuz in der Romandie geströmt seien, um zu arbeiten. «Später war es dasselbe mit den Arbeitern aus dem Süden.»
Multikulturalität ist in Renens keine Floskel. Unter dem altehrwürdigen Volkshaus ist ein chinesisch-portugiesisches Restaurant eingemietet. Die Hauptstrasse, an der auch das Gemeindehaus liegt, ist gesäumt von Afro-Coiffeursalons, auf der Place du marché sind Kopftücher so selbstverständlich präsent wie Miniröcke. Für Aufsehen sorgte zumindest in der Romandie während der letzten Monate eine Besetzung: Siebzig afrikanische Männer schliefen während des ganzen Sommers im Garten des Sleep-in von Renens, um gegen das Dublin-System und ihre Ausschaffung zu demonstrieren. Unterstützt von einem Kollektiv, leben sie seit wenigen Wochen in einer leer stehenden Fabrikhalle (vgl. «Die Besetzung» im Anschluss an diesen Text). Die Gemeinde Renens toleriert die AktivistInnen. Doch selbst bot sie ihnen keine Unterkunft an. Das sorgt bei einigen linken Gemeindeabgeordneten für Enttäuschung. Dass in Renens zusätzlich bald fünfzig Flüchtlinge legal in einem Bunker untergebracht werden, mildert sie nicht. POP-Gemeinderätin Verena Berseth fasst es so zusammen: «Einige von uns haben das Gefühl, Madame Huguenin habe ihre linke Seele verloren.»
Es ist der Kanton, der in Renens nach Platz für die Flüchtlinge angefragt hat. Zugesagt hat die Exekutive um Marianne Huguenin. «Es war die einfachste Lösung», sagt Berseth. «Als linke Gemeinde aber sehe ich uns in der Verantwortung. Wir müssten doch alles dafür tun, um für diese Menschen eine würdigere Unterkunft zu finden.»
Übernimmt die SP?
Marianne Huguenin kennt die Kritik. Sie beantwortet sie mit Nonchalance: Irgendjemand wolle eben immer mehr. Egal wie viel man tue. Die langjährige politische Arbeit hat ihren Idealismus abgeschliffen.
Einen Bunker findet sie besser als keine Unterkunft. Für die Flüchtlinge in der alten Fabrikhalle setzte sich die Gemeinde Renens auf bürokratischer statt auf konkreter Ebene ein: «Wir unterstützen die Anliegen der Aktivistinnen und Aktivisten. Aber als Gemeinde sind wir an Gesetze gebunden. Die meisten der Besetzer sind illegal hier. Wir können es uns also nicht erlauben, ihnen eine Unterkunft zu besorgen.» Renens hat vom Kanton stattdessen ein Moratorium der Dublin-Ausschaffungen verlangt. «Und wir haben die Polizei komplett aus dem Spiel gelassen. Das ist mehr, als man von irgendeiner anderen Gemeinde erwarten könnte.»
Gemeinderätin Verena Berseth bringt den Männern in der Fabrikhalle regelmässig Essen vorbei. Doch es brauche dringend weitere Anstrengungen, um den Gestrandeten zu helfen. Huguenins Zurückhaltung, so Berseth, enttäusche vor allem die Mitglieder des Ausländerrats von Renens. Für die kommende Wahl prophezeit sie einen Wechsel: «Es wird wohl jemand aus der SP übernehmen.» Hat die radikale Linke also ihre Chance vertan?
Marianne Huguenin sieht das nicht so. Die POP, die ihre stärksten Zeiten im Kanton Waadt mit zwei NationalrätInnen längst hinter sich hat, sei ein Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: «Wir haben die Waadtländer SP mit unserer Politik weit nach links gezogen. So ist es am linken Rand eng geworden für uns.»
Die Besetzung
Waschtag in der alten Heineken-Fabrik von Renens: Auf allen Hecken und Zäunen des grossen Vorplatzes liegen Kleider ausgebreitet. Immer wieder stösst jemand dazu, um sich einen Platz zu suchen. Rund siebzig Männer wohnen hier. Sie stammen aus der Subsahara; die meisten sind illegal in der Schweiz: weil sie sich aus Protest gegen das Dublin-System nie registrieren liessen, bereits einmal ausgewiesen worden waren oder weil ein Ausschaffungsbefehl gegen sie vorliegt.
Unterstützt von den GrundrechtsaktivistInnen des Collectif Jean Dutoit, hatten die Flüchtlinge im Juni den Garten der Notschlafstelle in Renens besetzt. Die Institution wird von der Stadt Lausanne und dem Kanton Waadt betrieben. Die Behörden forderten die AktivistInnen im August auf, den Garten zu verlassen. Nach mehreren weiteren Stationen sind sie nun in der Heineken-Fabrik angekommen, die den öffentlichen Verkehrsbetrieben der Region Lausanne gehört. Ein Vertrauensvertrag erlaubt den AktivistInnen, bis März 2016 zu bleiben. Was dann passiert, ist unklar.