Porträt: «Früher war der Briefträger noch eine Figur im Quartier»

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Ihre offizielle Berufsbezeichnung lautet heutzutage «Zustellerin». Doch Rita Künzler nennt sich noch immer Briefträgerin.

Rita Künzler auf ihrer Tour: «Es ist inzwischen auch bei der Kundschaft angekommen, dass wir unter zunehmendem Zeitdruck arbeiten.»

Treffpunkt Bahnhof Amriswil. Rita Künzler ist guter Dinge an diesem sonnigen Frühlingstag: «Im Winter ist es viel strenger, als Briefträgerin zu arbeiten.»

Seit über zwanzig Jahren arbeitet die 51-Jährige als Zustellerin. Künzler sagt «Briefträgerin». Weil darin etwas mitschwingt, das über die Zustellung hinausgeht.

Ursprünglich bildete sie sich zur medizinischen Praxisassistentin aus und arbeitete in diesem Beruf. Nach einer zehnjährigen Pause, während der die Mutter von fünf Kindern vollumfänglich mit Familienarbeit beschäftigt war, begann sie 1993 als Briefträgerin. Ihre erste Stelle hatte Künzler im St.-Fiden-Quartier in St. Gallen, unweit vom Neudorf-Quartier, in dem sie aufgewachsen war. Anfänglich arbeitete sie am Schalter und im Backoffice. Seit 1997 ist sie auf Tour.

Die Folgen des Internets

Die Veränderungen bei der Post in den letzten zwanzig Jahren hat Künzler hautnah miterlebt. So auch den Moment, als die PTT 1998 in eine selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt umgewandelt wurde. Zu spüren war das zunächst in der Sortierarbeit, bei der die Unternehmensleitung nach neuen Zeitsparmöglichkeiten suchte. In diese Zeit fällt auch die Einführung von drei logistischen Zentren (Zürich Mülligen, Härkingen und Eclépens), in denen die gesamte Briefpost vorsortiert wird. Zugleich ging das eigentliche Kerngeschäft mit dem Aufkommen des Internets zurück: Waren es 2012 1,8 Prozent weniger Briefe als im Vorjahr, so betrug der Rückgang 2013 bereits 2,5 Prozent. Schlechte Aussichten für die BriefträgerInnen: zumal es unwahrscheinlich ist, die Verluste mit erhöhten Preisen wettmachen zu können.

Über sechs Prozent der derzeit rund 13 500 BriefträgerInnen gehen nach Schätzungen der Post in den nächsten fünf Jahren in Pension. Schon 2011 und 2012 wurden über 800 Stellen abgebaut – auch aufgrund der Automatisierung bei der Sortierung. Diese Woche nun kündete Postchefin Susanne Ruoff an der Bilanzmedienkonferenz weitere Umstrukturierungen an: Tausende der Stellen, die in den nächsten Jahren durch Pensionierungen frei werden, sollen nicht mehr besetzt werden – trotz eines Konzerngewinns von über 600 Millionen Franken.

«Ein relativ soziales Unternehmen»

Das Gewerkschaftsmitglied Künzler bedauert, dass die Zahl der GewerkschafterInnen bei den Postangestellten zurückgegangen ist: «Wir sehen unsere Stärke nicht mehr in unserer Masse. Wobei sich der Gemeinschaftsgedanke ja gesamtgesellschaftlich verflüchtigt hat», sagt sie. Insgesamt sei die Post aber, insbesondere dank der Lohngleichheit unter den Geschlechtern, noch immer ein relativ soziales Unternehmen.

Jahrzehntelang war Pöstler vorwiegend ein Männerberuf. Seit den frühen neunziger Jahren arbeiten immer mehr auch Frauen als Briefträgerinnen. Den Segen der Lohngleichheit erfährt Rita Künzler in der eigenen Familie: Auch ihr Mann ist Briefträger – zu 100 Prozent, während sie eine 60-Prozent-Stelle innehat. Doch auch Künzler weiss, was es bedeutet, 100 Prozent zu arbeiten: Zwischen 2001 und 2008 war sie in Rorschach Leiterin eines Teams von fünfzehn ZustellerInnen. Diese Funktion war im Zuge der Umwandlung der Post eingeführt worden. Gleichzeitig hielt damals allerdings auch die Arbeitszeiterfassung mit einem Scanner Einzug bei der Post: «Der Arbeitsdruck hat seither zugenommen», sagt Künzler.

Schwindendes Vertrauen

Seit 2009 arbeitet Rita Künzler im Bezirk Tägerwilen und Ermatingen am Bodensee, streckenweise direkt am Ufer des Untersees. Um 6.15 Uhr beginnt sie, um 13 Uhr ist Feierabend. Soweit es möglich ist, nimmt sie sich auch heute noch die Zeit für einen Schwatz. Absurderweise seien es zunehmend die KundInnen, vor allem jüngere, die fragten, ob sie denn überhaupt noch Zeit dafür habe: «Es ist inzwischen auch bei der Kundschaft angekommen, dass wir unter zunehmendem Zeitdruck arbeiten.»

Seit mittlerweile gut einem Jahr ist die Schweizerische Post eine Aktiengesellschaft. Wie sich der Briefträgerberuf in den nächsten Jahrzehnten verändern wird, ist ungewiss. Doch schon heute lässt sich feststellen, dass die Zugehörigkeit zum Quartier oder Dorf, in dem jemand seine Touren macht, stark abgenommen hat. Das liegt auch am Rotationsprinzip, das in den letzten Jahren eingeführt worden ist und das dazu geführt hat, dass BriefträgerInnen in einer Woche verschiedene Bezirke zu beliefern haben. Da sei es kein Wunder, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Kunde und Briefträgerin kleiner geworden ist: «Früher war der Briefträger noch eine Figur im Quartier oder Dorf.» Neben dem Persönlichen würde damit auch auch das Backgroundwissen der BriefträgerInnen verloren gehen: «Das hat unserem Beruf viel von seinem positiven Image genommen.»