Moderne Arbeit: Heimarbeit mit digitalem Stücklohn

Nr. 44 –

Immer mehr Unternehmen setzen auf «Crowdsourcing». Sie binden InternetnutzerInnen in ihre Produktion ein, senken so die Kosten und schlagen die Konkurrenz.

«Ich versteh das nicht!» Einigermassen verzweifelt sucht die junge Italienerin Isadora in einem Internetforum um Rat: «Ich habe gestern ein paar Aufgaben für ungefähr 30 Dollar gemacht. Sie sind auch sofort akzeptiert worden, aber jetzt erscheint das Geld einfach nicht auf meinem Konto! Was soll ich tun?» Ein anderer Forumsteilnehmer antwortet sofort: «Ich habe dasselbe Problem. Der Kontaktschalter auf der Seite funktioniert nicht; ich weiss nicht, wie ich die richtigen Leute erreichen soll.» Und ein dritter ergänzt: «Genau! Da kommt immer nur die Meldung: 'Bitte versuchen Sie es später noch einmal!'»

Isadora sitzt in Italien vor ihrem Rechner, die anderen beiden in den USA. Ihr gemeinsames Problem: Sie haben sogenannte Human Intelligence Tasks (HIT) am Computerbildschirm erledigt, Aufgaben, die «für Computer ausserordentlich schwierig, für Menschen dagegen einfach» sind, wie die Online-Agentur Mechanical Turk definiert. Isadora und die anderen verbessern die Rechtschreibung in computererzeugten Texten, finden passende Schlagworte für Bilder oder verschriftlichen Tonaufnahmen. Dafür erhalten sie eine Art digitalen Stücklohn. Für das Übertragen einer Minute gesprochener Sprache gibt es umgerechnet knapp zwanzig Rappen, für das Beantworten einer Frage bei einer Marktforschungsstudie etwa einen Rappen.

Mechanical Turk ist Teil von Amazon, ein sogenannter Matchmaker: Unternehmen finden hier MitarbeiterInnen zu konkurrenzlos günstigen Preisen, InternetnutzerInnen einen Zeitvertreib, bei dem sich zusätzlich etwas verdienen lässt. Wenn eine Firma nicht rechtzeitig überweist, macht die Nachricht binnen Minuten im Internet die Runde. In speziellen Foren wie Turker Nation tauschen die Online-TagelöhnerInnen Ratschläge aus und warnen vor Unternehmen mit schlechter Zahlungsmoral.

Die Masse kontrolliert sich selbst

Das Online-Kaufhaus Amazon begann vor drei Jahren, menschliche Interpretationsleistung einzubinden. Zuvor hatte sich herausgestellt, dass Computerprogramme nicht entscheiden konnten, welche Internetseiten das gleiche Produkt anboten. Deshalb begann die Firma, die BesucherInnen für jede korrekt identifizierte Doppelung zu bezahlen. Im November 2005 öffnete Amazon dann den virtuellen Marktplatz auch für andere Unternehmen. Heute bearbeiten mehr als 100 000 Menschen aus über hundert Staaten Aufträge von Mechanical Turk.

Den Namen lieh sich Amazon vom vermeintlichen Schachautomaten «Der Türke», mit dem der österreichische Erfinder Wolfgang von Kempelen im späten 18. Jahrhundert das gebildete Europa verblüffte. Scheinbar konnte diese Maschine Schach spielen; in Wirklichkeit verbarg sich in ihr ein kleinwüchsiger Schachexperte. Bezogen auf die Leistung der «Turker» ist dies heute ein hintersinniges Bild: Die «künstliche künstliche Intelligenz» - so der Ausdruck Amazons für die menschliche Verstehensleistung - ermöglicht der digitalen Technologie erst das Funktionieren.

Wie zuverlässig sind Transkripte, die auch bei äusserster Arbeitsgeschwindigkeit kaum drei Franken als Stundenlohn einbringen? Weil die Qualitätskontrolle durch qualifizierte Kräfte die Kosten wieder anheben würde, nutzen Unternehmen wie CastingWords auch dafür dieselbe Strategie. Sie bezahlen andere Internetnutzer für die Beurteilung, ob die schriftliche Version der Sprachaufnahme korrekt ist. Die Masse arbeitet nicht nur selbstständig, sie kontrolliert sich dabei auch selbst.

Rob aus den Niederlanden ist seit anderthalb Jahren dabei. «Mir macht das Spass», erzählt er. «Das ist wie ein Wettrennen: Wer die besten Antworten vorschlägt, gewinnt. Ausserdem mag ich das Gemeinschaftsgefühl unter uns.» Der Verdienst ist für ihn weniger wichtig: «Man kann das Geld ohnehin nur an amerikanische Banken überweisen.» Rob verbringt etwa «ein bis drei Stunden am Tag» mit den HIT, «aber das ist keine kontinuierliche Arbeit, das mache ich so nebenbei». Dafür bekommt er ungefähr hundert Franken, für die er sich dann Bücher und Comics bei Amazon bestellt. Das Unternehmen profitiert auf diese Weise gleich mehrfach: Die Anfrager genannten Unternehmen bezahlen mindestens zehn Prozent der ausgeschriebenen Belohnungen. Diese «Löhne» steigern wiederum den Umsatz.

Ausdruck der scharfen Konkurrenz

Sieht so der Arbeitsmarkt der Zukunft aus? Zumindest ist das die Meinung einiger Wirtschaftswissenschaftler. In ihrem Buch «Wikinomics - Die Revolution im Netz» bezeichnen Don Tapscott und Anthony Williams den Rückgriff auf nicht oder kaum entlöhnte Arbeit als Wikinomics. Die Massenkooperation im Internet böte Unternehmen die Chance, «von der kooperativen Anarchie zu profitieren» - oder unterzugehen! Statt die eigene Firma strikt nach aussen abzugrenzen, müsse sie sich öffnen. Konkret empfehlen die Autoren, das Wissen der Firma zu veröffentlichen und den KundInnen Einfluss auf die Produktgestaltung einzuräumen. Statt dem hierarchischen Unternehmen gehöre die Zukunft der «Community aus Kunden, Nutzern, Herstellern, Lieferanten, Händlern und anderen Quellen innovativen Wissens».

In seiner Unbestimmtheit erinnert dieses Konzept an Schlagworte wie Web 2.0. Aber die Autoren verweisen auf einen tatsächlich existierenden Trend: Immer mehr UnternehmerInnen stellen sich die Frage, warum sie für Leistungen bezahlen sollen, die ihnen dank Internet anscheinend kostenlos zur Verfügung stehen. Jeff Howe, ein Redaktor des Magazins «Wired», fand dafür vor einem Jahr den Ausdruck «Crowdsourcing», zusammengesetzt aus den Wörtern Outsourcing und Crowd, englisch für Masse.

Crowdsourcing beschränkt sich nicht nur auf banale Tätigkeiten. Im Fall der Firma InnoCentive geht es um äusserst anspruchsvolle Aufgaben. Hier veröffentlichen Konzerne wie Procter & Gamble oder Boeing Aufgaben, für die früher ihre hausinternen Abteilungen für Forschung und Entwicklung zuständig waren: «Welche Stoffe teilen mit minimaler Zerstörung disulfide Proteinverbindungen?» Wer die beste Lösung vorschlägt, erhält dafür 60 000 Franken. Besonders verlockend für Konzerne ist, dass sie mithilfe von InnoCentive und ähnlichen MatchmakerInnen die Kosten für oft jahrelange Forschung und das Risiko von Fehlschlägen auslagern können. Auch hier hat man eine eigene Sprachregelung entwickelt. Statt von AuftraggeberInnen und ForscherInnen spricht InnoCentive von Suchern und Lösern.

Schon lange senken Unternehmen durch Selbstbedienung ihre Preise und verschaffen sich so einen Konkurrenzvorteil. Durch das Internet haben sich die Möglichkeiten gewaltig vermehrt: Unsere Urlaubsreise stellen wir selbst zusammen, wir geben unsere Überweisungen online in Auftrag und beraten uns selbst über die nächste Anschaffung. Der amerikanische Publizist Alvin Toffler sprach bereits 1980 von «Prosumenten» statt «Konsumenten», von MiterzeugerInnen. Heute ist «Konsumentenarbeit» eher die Regel als die Ausnahme. Aber die neue Strategie, Lohnkosten auszulagern, geht darüber weit hinaus.

Bisher wurde die Ware nur vor dem Kauf ausgewählt und nach dem Kauf montiert oder zubereitet. Nun wird die Arbeit der Massen nicht nur am Ende der Kette in die Produktion eingebunden, sondern auf allen Stufen: Sie wird zum Bestandteil von Entwicklung, Gestaltung und, soweit es sich um digitalisierte Inhalte handelt, sogar der Herstellung. Manche Wirtschaftswissenschaftler sprechen von «interaktiver Wertschöpfung» oder «Peer Production». Ein deutscher Unternehmensberater nennt das blumig: «der Masse vertrauen». Der Antrieb der ZuarbeiterInnen ist dabei kaum Gelderwerb, sondern der Wunsch nach Anerkennung, Spass an Herausforderungen und Stolz auf die eigene Leistung. Nicht zufällig werden viele Crowdsourcing-Aufgaben als Wettbewerbe gestaltet.

Billige Massenware Zeit

Oft arbeiten InternetnutzerInnen, ohne es zu merken: Sie versehen Bilder mit Schlagworten, diskutieren miteinander, bewerten Textbeiträge und schaffen so profitable Informationen - für andere. Ein amerikanischer Blogger stellte kürzlich, recht spät, die Frage: «Wenn wir einen Text indizieren, Lesezeichen setzen oder etwas von unserem Wissen teilen und dadurch Technorati oder Yahoo helfen, erfolgreichere Unternehmen zu werden - machen wir dann nicht unseres kostbarstes Gut - die Zeit - zur billigen Massenware?»

Wie viel Firmen durch Crowdsourcing einsparen beziehungsweise einnehmen, lässt sich nur ahnen. Einen Hinweis bietet die Geschichte von iStockphoto. Auf der Website konnten FotografInnen ihre Bilder laden, Zeitschriften und Magazine nutzen die Sammlung als Bildarchiv und zahlen für eine Fotografie höchstens fünfzig Franken, das ist ein Bruchteil des üblichen Preises. 2006 kaufte die Agentur Getty Images das Unternehmen für umgerechnet knapp sechzig Millionen Franken.

Kaum ein Text über Crowdsourcing kommt ohne den Hinweis auf «Schwarmintelligenz» und «die Weisheit der vielen» aus. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Rationalisierungsstrategie, die von der Internationalisierung des Wettbewerbs angetrieben wird. Konzerne senken so ihre Kosten für Entwicklung und Werbung und nicht zuletzt die Löhne. Die verschärfte Konkurrenz lässt den Firmen buchstäblich keine andere Wahl, als alle Rationalisierungsmöglichkeiten zu nutzen. Als die Computerfirma IBM Teile ihrer Produktion auf Open Source umstellte, um von der kostenlosen Mitarbeit zu profitieren, sagte der Leiter der Planungsabteilung: «Wenn du es nicht tust, werden es deine Konkurrenten tun. Und wo bleibst du dann?» Und Buchautor Don Tapscott betont, dass Wikinomics keineswegs idealistisch oder weltfremd ist: «Diese Art von Teilen hat nichts mit dem Wunsch zu tun, nett zueinander zu sein. Ich spreche vom gezielten Teilen von Informationen und Ressourcen, um seine Konkurrenz zu killen, um schneller zu wachsen als die anderen und profitabler zu sein.»


Don Tapscott, Anthony D. Williams: «Wikinomics: die Revolution im Netz». Hanser Verlag. München 2007. 330 Seiten. 36 Franken.