Joe Boyd: Neue Musik lässt die Stadt erzittern

Nr. 45 –

Die graue Eminenz unter den Musikproduzenten der sechziger Jahre blickt mit klarem Blick auf die Anfangszeiten des Rock 'n' Roll zurück.

«Die Sechziger begannen im Sommer 1956, endeten im Oktober 1973 und hatten während eines Auftritts von Tomorrow im Londoner UFO-Club kurz vor Sonnenaufgang des 1. Juli 1967 ihren Höhepunkt.» Joe Boyd

Die Texas Prison Worksong Group, eine Band, bestehend aus lebenslänglich Inhaftierten, erhielt die Erlaubnis, auf dem Newport Folkfestival im Jahre 1965 aufzutreten. Eine ihrer Hauptnummern war ein Holzfällerlied, in dem rhythmisch mit Äxten ein Baum auf der Bühne bearbeitet wurde. Der zerhackte Stamm war eine hübsche Analogie zu der entstehenden Kampfarena, auf der sich die PuristInnen der alten Garde mit den VertreterInnen des elektrifizieren New Folk prügeln sollten.

Das US-amerikanische Newport war noch in den Jahren zuvor der Versammlungsort all jener gewesen, die im Enthusiasmus der Kennedy-Jahre eine Welt jenseits der bestehenden Verhältnisse zum Greifen nah wähnten: ein musikalischer Selbstermächtigungsakt mit Bob Dylan als Galionsfigur. Umso grösser der Aufschrei, als dieser vom Thron des Politbarden stieg. Der legendäre Auftritt mit E-Gitarre war nicht nur sein ganz persönlicher Abgang als Protestikone, sondern auch der Wendepunkt der sechziger Jahre vom Idealismus zum Hedonismus, so Joe Boyd. Es war die Geburtsstunde des Rock. Und Boyd war - wie so oft - Zeuge eines historischen Moments.

Die Geburtsstunde des Rock 'n' Roll

Die Geschichte beginnt im Sommer 1956 mit einer Fernsehsendung. Der vierzehnjährige Boyd und sein Bruder Warwick verfolgen mit Begeisterung Bob Horns WFIL-TV-Bandstand, die jeden Nachmittag den staunenden Teenagern die Welt des Rhythm 'n' Blues und Rock 'n' Roll ins Wohnzimmer lieferte: Fats Domino, Chuck Berry, Little Richard. Weisse Teenager entdeckten millionenfach die Welt der schwarzen Musik. Bis Horn durch einen intriganten Coup von einem strahlenden Saubermann ersetzt, die Sendung auf Linie gebracht und zur Hitfabrik wurde. Die US-amerikanische Nation war beruhigt. Die Boyd-Brüder aber schon längst mit dem Virus infiziert.

In einem Heurekamoment mit der Erkenntnis, dass Rock 'n' Roll nur die andere Seite der Jazz- und Bluesmedaille ist, fasste der achtzehnjährige Joe Boyd den Entschluss, die neue graue Eminenz hinter den Reglern zu werden: Schallplattenproduzent. Geld und Ruhm. Erfolg und Frauen. Bis es aber tatsächlich so weit ist, müssen andere Dinge getan werden.

Joe Boyd am Mischpult

Dem in Vergessenheit geratenen Bluessänger Lonnie Johnson, der sich in einem Hotel als Koch verdingt, verschaffte er im Wohnzimmer der Nachbarn einen Auftritt. Von diesem Erfolg beflügelt, wird Boyd zukünftig immer dort zu finden sein, wo er als Krisenmanager, Produzent und Seismograf neuer Szenen und Bewegungen dienen kann.

Unter der Ägide des Musikproduzenten George Wein organisierte er hochkarätige Jazz- und Bluestourneen durch Europa, wurde Produktionsleiter beim Jazz- und Folkfestival in Newport. Er arbeitete in London für Elektra, wurde Betreiber des legendären UFO-Clubs und Produzent von The Incredible String Band, Fairport Convention, Nick Drake und anderen, hörte sich mehr englischsprachige SingerSongwriter an, «als für einen einzelnen Menschen gut ist». Später übernahm er die Leitung der Filmmusikabteilung von Warner, beteiligte sich am Jimi-Hendrix-Film. Zu Studienzwecken nahm er an Veranstaltungen der ScientologInnen teil und schien immer dann am glücklichsten, wenn er sich im Studio befand. «Die Arbeit am Mischpult war ein endlos faszinierendes Puzzlespiel, mit dem Lohn, ein wundervolles Stück Musik langsam wachsen zu sehen, als beobachte man einen Fotoabzug im Entwicklerbad.» Boyd schien immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort - schwebte dabei jedoch konsequent am ökonomischen Abgrund. Die Hits wurden von anderen abkassiert.

Boyds Verdienst besteht nicht nur darin, «nie zu stoned gewesen zu sein», um sich an alles erinnern zu können, nicht nur in den luziden, scharfsinnigen und uneitlen Beobachtungen des Musikgeschehens in den achtziger Jahren. Seine Biografie «White Bicycles» funktioniert auch als Schaubild des fortschreitenden technischen Wandels, als Vergrösserungsglas der Drogenkultur, als Erzählteppich US-amerikanischer und britischer Befindlichkeit. Sein Buch stellt die Klassengegensätze und emanzipatorischen Bewegungen dar und ist ein psychedelisches Sittengemälde.

«Im Allgemeinen gibt es zwei Phasen der weissen Faszination für schwarze Musik mit afrikanischen Wurzeln. Zuerst stürmen die Menschen, begeistert von einer neuen Form, ihren Hintern herumzuschwirren, die Tanzböden. Und dann, wenn eine neue Mode auftaucht und der Beat wechselt, treten Intellektuelle und Mauerblümchen auf den Plan, die Bewunderer der Vitalität und Originalität der Musik, die die Kunstform bewahren oder wieder ausgraben.»

Kreischen bei Chuck Berry

Juni 1964 in London: Weisse weibliche Teenager kreischen bei Chuck Berry und John Lee Hooker. Der US-amerikanische Albtraum ist im England dieser Tage Wirklichkeit. Anlass für Boyd, nach London zu gehen. Die Geschichte der sechziger Jahre ist auch die Geschichte von Rassismus, Diskriminierung und Ausbeutungsverhältnissen. 1964 reist Boyd in die Südstaaten der USA, um den Wurzeln schwarzer Musik nachzuspüren. Auf der Heimreise wird er über Schleichwege gelotst, um einer Begegnung mit Polizisten auf dem Highway zu entgehen. Drei Monate später werden nicht weit von dem Ort entfernt drei Bürgerrechtler ermordet. 1988 wurde die Geschichte unter dem Titel «Mississippi Burning» von Alan Parker verfilmt.

Die aus Weissen und Schwarzen bestehende Band Blue Notes, der unter anderem Dudu Pukwana, Chris McGregor, Louis Moholo angehörten, wurde von Boyd unter Vertrag genommen. Die vor der südafrikanischen Apartheid geflüchteten Musiker suchten in England Zuflucht, wurden aber von der britischen Jazzszene weitgehend ausgegrenzt. Mit dem Abflauen der Bürgerrechtsbewegung verflüchtigte sich auch die Begeisterung für schwarze Musik, wie Boyd 1966 nach einer desaströsen Tournee mit den Jazzgrössen Max Roach und Sonny Rollins konstatierte.

Im Zuge der sechziger Jahre veränderten sich auch die Moden des Drogenkonsums. Die Methoden der Bewusstseinserweiterung gingen von Gras und Haschisch bis LSD, Heroin und Kokain. Auch hier zog sich ein deutlicher Riss durch die gesellschaftlichen Vorgaben: «Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mittelstandsjugendlicher, der gelegentlich Drogen wirft, hochgenommen wird, ist genauso gross wie eine Reise zum Mond, die Rauschgiftgesetze werden in Amerika und England nur gegen die Unterschicht angewendet.»

Der Feind des Sequenzers

Aber nicht nur die Rauschmittel haben sich verschlechtert, auch die rasante Weiterentwicklung technischer Produktionsmöglichkeiten ist für ihn Anlass zum Unmut. Als Anhänger der Anti-Digital-Bewegung mokiert er sich über überkomprimierte, flache Sounds, die ihren individuellen Raumklang verloren hätten. Niemals hätte er Drumcomputer, Samples oder Sequenzer verwendet. Er verkennt dabei, dass die Anforderungen traditioneller Musikaufnahmen nicht den Produktionsweisen elektronischer Musik entsprechen. Überhaupt - im Zeitalter unlimitierter Verfügbarkeit von Informationen fehle der Jugend heute jedwede Form von Verwurzelung und Historie. Als graue Eminenz der sechziger Jahre sei ihm dieser Kulturpessimismus verziehen.

Joe Boyd: White Bicycles - Musik in den 60er Jahren. Antje Kunstmann. München 2007. 360 Seiten. Fr. 41.70