«Ein Sommer, der bleibt»: Die Poesie des Banalen
Der Autor Peter Kurzeck lässt in seinen Romanen das einfache Leben wie Musik erklingen. Sein neustes Werk erscheint nur in gesprochener Form.
Ein Schriftsteller in Frankfurt am Main, von seiner Frau getrennt, in einer Dachkammer lebend. Davon handeln die letzten beiden Romane aus Peter Kurzecks grossem autobiografischem Zyklus, an dessen Anfang «Kein Frühling» stand, die Geschichte des Dorfes seiner Kindheit. «Kein Frühling», ursprünglich 1987 erschienen, ist in diesem Herbst in einer erweiterten Fassung neu aufgelegt worden. Zeitgleich erscheint «Ein Sommer, der bleibt», eine Vier-CD-Box, auf der Kurzeck von einem Sommer in seiner Kindheit erzählt, der die helle, fröhliche Gegenseite zum dunklen «Kein Frühling» bildet.
Keinen Moment seines Lebens lässt dieser Autor unbeleuchtet. Und doch fehlt es in seinen Texten völlig an Höhepunkten, an Momenten, die gemeinhin als literaturwürdig gelten. Die Banalität des Alltags wird hier minuziös wiedergegeben, ein Zahnarztbesuch erstreckt sich über Seiten, als würde man ihn in Echtzeit miterleben. In Kurzecks Romanen fehlt all das, was die jüngere Erinnerungsliteratur so erfolgreich macht: Es gibt keinerlei Hinweise auf zeitgeschichtlichen und popkulturellen Dekor, keine Details über erste Zungenküsse, keine Tapetenmuster und Barclay-James-Harvest-Platten. Kurzeck blendet den ganzen historischen Datenschrott von Fussballergebnissen, TV-Sendungen, LP-Charts und Wohnungseinrichtungen aus und bleibt radikal persönlich.
Schreiben wie ein Jazzmusiker
Durch das ständige Wiederaufgreifen von Motiven, Sätzen und Situationen über mehrere Bücher hinweg gelingt es Kurzeck, ein fugenartig komponiertes Geflecht aus Bezügen zu schaffen, dank dessen der Mikrokosmos einiger weniger Strassen und Personen zum exemplarischen Abbild der Conditio humana wird. Als Wesentliches bleibt der Einzelne, nackt, ängstlich und trotz scheinbar bedingungslos vorherrschender Subjektivität zugleich exemplarisch.
Was Kurzecks Bücher trotz ihrer Ereignislosigkeit so lesenswert macht, ist ihre Musikalität. Kurzeck arbeitet wie ein Jazzmusiker mit der Improvisation über stets wiederkehrende Themen, verwendet knappe, oft verkürzte Sätze, die ganz im Gegensatz zur auf der Stelle tretenden Handlung stehen. «Am Anfang des Abends. Immer der gleiche Moment. Noch eben hell. März, eine Amsel singt.» Solche sich über Seiten ausbreitende Sätze sorgen für eine Verlangsamung beim Lesen, die gewollt anstrengend ist, sich jedoch schnell zu einem suggestiven Strudel entwickelt. Damit gelingt es dem Autor, das Banale so genau von allen Seiten zu umkreisen, dass es plötzlich zum Spektakulären wird. Sprache erhebt die Ereignislosigkeit zu etwas Besonderem und macht deutlich, worauf es in der Literatur ankommt: Es ist nicht unbedingt eine Kunst, mit Hilfe von Sex and Crime einen spannenden Roman zu entwickeln, sehr wohl aber, einen Roman konsequent dem Leben folgen zu lassen und selbst den Kauf einer Tüte Milch so fesselnd zu beschreiben, als stünde hier gerade die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel.
Zerstörte Idylle
Das Musikalische zeichnet auch Kurzecks Vortrag auf der CD «Ein Sommer, der bleibt» aus. Diese mehr als vier Stunden dauernde Beschreibung eines Sommers ist «oral history» im besten Sinne, eine aus dem Stegreif entwickelte Erzählung, die in dieser Form nie als Buch erscheinen wird. Im Booklet zur CD-Box wird die Form mit der «improvisierten Vortragskunst der legendären schwarzen Bluessänger» verglichen, die Kurzeck «in den sechziger Jahren in hessischen Army-Clubs gehört hat».
Kurzeck erzählt von den einfachen, kleinen Dingen, die er als Kind in einem hessischen Dorf namens Staufenberg erlebte, vom Brausepulver, dem Baden im See, der Dorfschule, der Fleischwurst beim Metzger. Einzelne Bilder werden aufgegriffen, wieder fallen gelassen, an anderer Stelle erneut, aber unter einem anderen Blickwinkel eingestreut.
Zeitlich dreht sich alles um einen Sommer, den «Sommer, der bleibt». Dieser Titel hat mehrere Bedeutungsebenen: Zum einen erzählt Kurzeck, wie er als Kind am Anfang des Sommers gehofft hatte, dass dieser Sommer «bleibt», also nie zu Ende geht, zum anderen handelt es sich aus der Rückschau um einen Sommer, der tatsächlich geblieben ist, da Kurzeck sich genau an ihn erinnern kann - und um einen Sommer, der uns allen bleiben wird, nachdem Kurzeck von ihm erzählt hat. Kurzecks Beschreibungen sind von Glücksgefühlen durchdrungen. Die ganze Welt, jede Kleinigkeit wirkt auf den Jungen wie ein Wunder. Beinahe ist man geneigt, von einem Idyll zu sprechen. Doch im Lauf der Erzählung erfahren wir auch, dass dieses Idyll längst zerstört ist, dass sich inzwischen eine Autobahn durch das Tal zieht, das damit so unwiederbringlich verloren ist wie die Kindheit selbst. Da plötzlich verlässt Kurzeck die Zeit seiner Kindheit und stimmt eine lange, beissende Kritik gegen alle an, die ihr Leben sinnlos im Auto auf solchen Strassen verbringen, weil irgendein Lebensmittel in einem am Stadtrand liegenden Supermarkt billiger ist als im Laden nebenan. Und er schimpft darüber, wie all diese Menschen die Strassen verstopfen, weil sie alle wieder zum Vorabendkrimi zu Hause sein müssen.
Der staunende Blick
Bei anderen AutorInnen hätte daraus leicht ein reaktionäres Gejammer über den Fortschritt und den Verlust von Werten werden können. Doch Kurzeck geht es um etwas, das sich nicht mit herkömmlicher Fortschrittskritik fassen lässt: Letztlich beklagt er, dass der Welt der poetische Blick abhanden gekommen ist, jener staunende Blick, der all seine Bücher auszeichnet. Es handelt sich um einen Blick, der keinen Konsum benötigt. Darum hat Kurzeck das Dorf seiner Kindheit auch verlassen, das zu einem «autogerechten Ort» geworden ist, «damit man im vierten Gang durchfahren kann». Für einen Schriftsteller ist dort kein Platz mehr.
In «Kein Frühling» bezeichnet Kurzeck das heutige Staufenberg als einen «Ort, in dem du ohne Auto, Bankkonto und Versicherung jeglicher Art nicht mehr leben kannst». Das Kind hingegen zog Glück aus ganz anderen Dingen. Etwa aus der Eisenbahnlinie, die am Dorf entlang führte. Die Kinder winkten den Reisenden zu, die in Richtung Meer fuhren. Kurzeck erzählt, was für ein aufregendes Gefühl es war, einem Menschen zugewinkt zu haben, der noch am selben Abend das Meer sehen wird, das man selbst noch nie gesehen hatte. Stellen wie diese machen «Ein Sommer, der bleibt» so ergreifend, dass man für diese CD-Box vielleicht doch einmal eine Ausnahme machen und sie konsumieren sollte.
Peter Kurzeck: Kein Frühling. Stroemfeld Verlag. Frankfurt a. M. und Basel 2007. 590 Seiten. 49 Franken
Peter Kurzeck: Ein Sommer, der bleibt. Supposé Verlag. Berlin 2007. 4-CD-Box. Fr. 61.90
Peter Kurzeck wurde 1943 in Tachau in Böhmen geboren, wo er und seine Familie 1946 vertrieben wurden. Er zog mit Mutter und Schwester nach Staufenberg bei Giessen, 1977 verliess er die Provinz, um nach Frankfurt am Main zu ziehen. Heute lebt er abwechslungsweise in Frankfurt und in Uzès in Frankreich.
1979 erschien Kurzecks erster Roman «Der Nussbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst. Die Idylle wird bald ein Ende haben». Es folgten «Das schwarze Buch» (1982) und «Kein Frühling» (1987). Peter Kurzecks Werke sind stark autobiografisch geprägte Romane und Erzählungen, in denen er detailliert und in eigenwilliger Sprache das Leben in der Provinz und in Frankfurt am Main beschreibt. Er wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderen erhielt er 1991 den Alfred-Döblin-Preis für einen noch unveröffentlichten Text und 1994 den Joseph-Breitbach-Preis.