Wie das Schreiben die Erinnerung formt «Welten auseinander»: Julia Franck rekonstruiert ihre grelle Familiengeschichte zwischen Ost und West.

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Wie erzählt man eine Familiengeschichte, die sich kaum erzählen lässt? Wie erinnern wir uns an unsere eigene Kindheit? «Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander. Wir erinnern uns an Ereignisse und unsere nächsten Menschen vollkommen unterschiedlich», schreibt Julia Franck auf der ersten Seite ihres neuen Buchs «Welten auseinander»: «Daher wird sich keine reale Person in einer der Figuren dieses Buches wiedererkennen […]. Es ist gerade das Andere und die Sicht des Anderen, die uns fasziniert […]. Die Fremde bin ich selbst.»

Schon in ihren früheren Romanen hat die 52-jährige Berliner Autorin Ereignisse aus ihrer aufregenden Familiengeschichte fiktionalisiert wiedergegeben. In «Die Mittagsfrau» (2007) erzählt sie die Geschichte ihres leiblichen Vaters, dessen Mutter den Siebenjährigen zu Kriegsende 1945 einfach auf einem Bahnhof im Osten stehen liess. «Lagerfeuer» (2003) schildert das Leben von DDR-Übersiedler:innen im Notauffanglager Marienfelde, wo die Autorin als Achtjährige selbst fast ein Jahr verbracht hat. Seit Francks letztem Roman sind zehn Jahre vergangen. «Es brauchte mein Älterwerden», kommentiert die Autorin die lange Entstehungszeit des neuen Buches. «Welten auseinander» ist die Lebensbeschreibung ihrer ersten 23 Jahre, die auf Fiktionalisierung ganz verzichtet. Franck erzählt sinnlich und konkret von ihrer Kindheit und ihrer Familie und reflektiert dabei beständig, was dieses Schreiben vom eigenen Leben mit der Erinnerung anstellt.

Julia Franck kommt 1970 mit ihrer Schwester in Ostberlin zur Welt. Die zu früh geborenen eineiigen Zwillinge überfordern ihre Mutter Anna, Schauspielerin, restlos. Sie hat schon eine Tochter, und vom Vater der Zwillinge, einem Filmregisseur, will sie nichts wissen. Schon Julias jüdische Grossmutter, Ingeborg Hunzinger-Franck, überzeugte Kommunistin und bekannte Bildhauerin, hatte Anna und ihren Bruder Gottlieb allein aufziehen müssen, nachdem deren Vater, den sie als Jüdin nicht hatte heiraten dürfen, in den letzten Kriegswochen eingezogen und an der Front sogleich erschossen worden war.

Beziehung zum Tagebuch

Anna, traumatisiert vom Suizid des geliebten Bruders kurz nach dem Mauerbau 1961, bewegt sich in der Ostberliner Kulturszene der siebziger Jahre. Wie viele will sie in den Westen, stellt immer wieder Ausreiseanträge. 1978 kann sie mit ihren inzwischen vier Töchtern übersiedeln. Nach Monaten im Notaufnahmelager Marienfelde bezieht sie im Norden von Schleswig-Holstein ein verlottertes Bauernhaus. Die Mädchen besuchen eine Waldorfschule. Die Mutter vernachlässigt sich und ihre Töchter in unvorstellbarem Masse, kümmert sich mehr um Tiere und Pflanzen. Francks Schilderungen von Armut, Chaos und Verwahrlosung lesen sich beklemmend und verstörend.

Was der Protagonistin widerfährt, schreibt sie schon als Kind im Lager in ihre Tagebücher: «Die einzige verlässliche Beziehung, die ich in meiner Kindheit entwickelte, war die zu meinem Tagebuch», heisst es einmal. Doch zunehmend sinnt sie auf Entkommen, entwickelt Todeswünsche, schwänzt die Schule. Mit dreizehn kann sie mausallein zurück nach Westberlin, kommt in einer Dachkammer bei einem befreundeten Paar unter, schlägt sich durch in der Gesamtschule und mit Gelegenheitsarbeiten, lebt bald in Wohngemeinschaften mit viel Älteren. Keine Sekunde bereut sie, das Chaos bei der Mutter, das Gezänk, den Mangel und die fehlende Geborgenheit eingetauscht zu haben gegen die Einsamkeit im fremden Westberlin. Nur selten sieht sie die kämpferische Grossmutter Inge in Ostberlin.

Eine verpasste Beziehung

Das zentrale Motiv dieses furiosen Buches sind die wiederkehrenden Schamgefühle: Scham über ihre Herkunft aus dem Osten und aus einem ungelebten Judentum – Scham über die prekären Familienverhältnisse und über ihre Armut. «Das Mädchen schämt sich, obwohl es nicht weiss, wofür», schreibt Franck einmal. Sie erzählt meist in der ersten Person, wechselt aber oft in die distanzierende dritte Person, was die Eindringlichkeit steigert. Als sie fünfzehn ist, meldet sich erstmals ihr Vater. Sie treffen sich gelegentlich, allerdings unterstützt er sie kaum. Als er an Krebs erkrankt, besucht und betreut sie ihn – der Vater stirbt 49-jährig, da ist sie siebzehn. Es bleibt eine verpasste Beziehung.

Die Schule hat sie ausgesetzt, sie arbeitet in der Pflege, kellnert. Mit achtzehn geht sie zurück ans Gymnasium – und legt später ein Einserabitur hin. Hier in der Schule lernt sie Stephan kennen; er verliebt sich sofort in sie, während sie zwar nächtelang mit ihm redet, aber erst mit neunzehn, kurz vor dem Mauerfall, zur Liebe bereit ist. Zwei Menschen finden zusammen, deren Lebensverhältnisse wahrhaftig «Welten auseinander» liegen: er aus bürgerlicher Westfamilie in Charlottenburg, sie mit einer Familiengeschichte, die sich «kaum erzählen liesse, so unwahrscheinlich grell», wie sie war. Die Geschichte dieser grossen Liebe, die drei Jahre später mit dem Unfalltod Stephans abrupt endet, bildet den Rahmen für die nicht chronologisch erzählten, subtil und suggestiv gegliederten Kindheitserlebnisse. Der verlorene Geliebte erscheint als eigentlicher Adressat dieses Textes, der mit dem Bericht von einer Mexikoreise nach Francks 23. Geburtstag endet. Im Flugzeug, während eines Gewitters, den Popocatépetl im Blick, bilanziert sie: «Die Fremde lag hinter mir. Unterwegs, allein, fand ich mich angekommen.»

Tastende Rekonstruktion

Julia Francks Erzählen ist eine Wucht. Gerade die absolut auf die individuellen Gefühle und Gedanken pochende Darstellung der Autorin lässt Zusammenhänge erkennen. Franck schreibt unbestechlich, ohne Besserwisserei, in einer geschmeidig kraftvollen Sprache und mit traumwandlerischer Kompositionskunst.

Francks subjektive Annäherung an ihr Leben im Kleinen und an die deutsche Geschichte im Grossen erinnert an Agota Kristofs Zwillinge in «Das grosse Heft», aber auch an Per Olov Enquist. Der 2020 verstorbene Autor hatte sein Schreiben als tastende «Rekonstruktion» verstanden, in Romanem wie «Ein anderes Leben» und «Das Buch der Gleichnisse». Nur Literatur vermag derart komplex und anschaulich von Fakten und Deutungen, Ambivalenzen und persönlichem Schmerz zu berichten.

Julia Franck liest in Solothurn am Freitag, 27. Mai 2022, um 15.30 Uhr und am Samstag, 28. Mai 2022, um 16 Uhr.

Podiumsdiskussion unter anderem mit Julia Franck zum Thema «Woran wir uns erinnern» am Samstag, 28. Mai 2022, um 11 Uhr an den Solothurner Literaturtagen.

Julia Franck: Welten auseinander. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2021. 368 Seiten. 36 Franken

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