Gefängnis: «Da wird oft geflucht»

Nr. 8 –

Sexualstraftäter, psychisch gestörte und drogenabhängige Täter: Im St. Galler Massnahmenzentrum Bitzi leben unterschiedlich gefährliche Insassen. Wie sieht dieses Leben aus, Herr Gefängnisdirektor?

«Wir holen Sie in Lütisburg ab», sagte der Herr Gefängnisdirektor Näf am Telefon. An der Haltestelle, die im Nichts steht, wartet Sicherheitschef Zweifel. «Gefällt es Ihnen im Massnahmenzentrum Bitzi, Herr Zweifel?» «Es ist ein Paradieschen!» «Finden das alle?» Herr Zweifel lacht fröhlich.

WOZ: Hier gibt es nur einen sehr niedrigen Zaun. Sind schon viele darübergesprungen?

Leo Näf: Das kommt schon vor. Aber alle sind entweder von sich aus wieder zurückgekehrt oder wurden eingefangen. Es sind jeweils Leute aus der offenen Abteilung, von denen keine unmittelbare Gefahr ausgeht.

Weil sie harmlose Delikte begangen haben?

Nicht unbedingt. Wir haben Räuber hier, Mörder und Sexualstraftäter. Wenn aber ein Tötungsdelikt eine längere Vorgeschichte hat - zum Beispiel bei einem Beziehungsdelikt - , dann besteht keine unmittelbare Gefahr für Unbeteiligte. Die Leute aus der geschlossenen Abteilung, darunter ist momentan ein Verwahrter, können nicht einfach fliehen.

Wie gehen Sie mit Verwahrten um?

Verwahrte haben heute das Label, dass sie extrem gefährlich sind und nicht besserungsfähig, und die Gesellschaft will sie für immer und ewig wegsperren. Deshalb steigt ihre Zahl in den geschlossenen Anstalten, momentan sind in der Schweiz rund zweihundert Menschen verwahrt. Doch sie sind gar nicht immer so gefährlich. Wenn wir also bei einem Verwahrten aufgrund von Expertenberichten feststellen, doch, den kann man bessern, dann nehmen wir ihn auf. Oder wenn er schon betagt ist und seine Gefährlichkeit schon alleine deshalb stark abgenommen hat.

Wie steht es um die Delikte, die hinter Gitter begangen werden? Vor ein paar Wochen ermordete ein Verwahrter in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies einen Mithäftling. Könnte so etwas hier passieren?

Schwere Gewalttaten gab es bislang nicht. Wir haben ja auch nicht die ganz gefährlichen Straftäter. Aber Aggressionen sind schon ein grosses Problem. Wir begegnen ihnen mit Kontrollen und Gesprächen.

Und Schmuggel? Drogenhandel?

Wir sind sehr strikt, wir kontrollieren die Zimmer regelmässig. Wie ahnden auch Haschkonsum. Wir sind ja ein sehr offener Betrieb, da ist es einfach, Drogen reinzuschmuggeln. Wir machen deshalb regelmässig Urinproben und Alkoholtests. Jeder, der draussen war, muss ins Röhrchen blasen, das wissen sie auch. Wenn die Tests positiv sind, dann gibt es Disziplinarstrafen. Die schärfste Strafe ist der Arrest.

Wie sieht so ein Arrest aus?

Wir haben hier eine spezielle Arrestzelle, die ist momentan gerade belegt. Da ist man 23 Stunden alleine eingeschlossen, eine Stunde darf man alleine auf den Hof. Und man darf nur beschränkt rauchen. Der Arrest kann für bis zu zwanzig Tage angeordnet werden.

Wie reagieren die Leute auf diese Isolationshaft?

Das macht schon Eindruck.

Sie sind derjenige, der straft. Wie fühlt man sich dabei?

Das macht mir keine Probleme, ich war fünfzehn Jahre lang Jugendanwalt und musste ebenfalls Strafen aussprechen. Wichtig ist einfach, dass man die Strafen begründet, dass man die Leute anhört. Ein Beispiel: Vor Weihnachten sind drei Männer abgehauen. Zu ihnen habe ich danach gesagt, jeder hier fühlt sich doch als Idiot, wenn ich euch nicht bestrafe. Das leuchtet dann schon ein. Gerne mache ich es natürlich nicht.

Kennen Sie die Insassen gut?

Ich kenne sie ziemlich gut, schon bevor sie herkommen. Ich kenne ja ihre Akte, ihr psychiatrisches Gutachten, ihre Vorgeschichte.

Was macht ihnen am meisten zu schaffen?

Dass sie dauernd kontrolliert werden. Und dass sie nicht rauskommen, obwohl sie sich ihrer Meinung nach gut benommen haben. Da wird oft geflucht. Wenn sie dann aber entlassen werden, dann kommen oft Ängste auf. Sie sind gut versorgt hier, haben Ärzte, Essen, eine klare Struktur. Die Hauptsorge ist: «Schaffe ich es draussen?»

Haben viele Insassen Beziehungen mit Menschen draussen? Und halten diese?

Wenn es bereits enge Kontakte gab, wenn einer zu uns kommt, dann halten sie meistens auch, Schwierigkeiten gibt es eher danach, wenn die Partner wieder zusammenleben. Uns machen diejenigen Sorgen, die niemanden haben, das sind oft die schweren Gewalttäter. Oder sie haben nur Milieukontakte, und die schätzen wir nicht. Von hier aus ist es schwer, neue Kontakte zu finden. Internet und Natels erlauben wir nicht. Wir haben ja Sexualstraftäter hier. Es ist eine Horrorvorstellung, dass von hier aus mit Kinderpornografie gehandelt würde.

Was ist sonst noch verboten?

Sex. Wenn sich zwei Männer im Zimmer aufhalten, müssen sie die Türe offen lassen.

Auch wenn beide Sex miteinander möchten?

Ja. Wir wollen nicht, dass Sexualstraftäter anfangen, andere zu umwerben. Wir sind wachsam, dass es keine Übergriffe gibt. Denn wir können uns nicht darauf verlassen, dass uns Zeugen etwas verraten würden. Die Insassen bauen instinktiv eine Welt auf, wir gegen euch.

Können die Inhaftierten mit ihren Partnerinnen schlafen?

Einen Kontaktraum haben wir hier nicht.

Wie lebt man ohne Sexualität?

Das ist nicht einfach. Es gibt nur die Selbstbefriedigung. Wir lassen Sexheftchen zu, die am Kiosk erhältlich sind. Allerdings erlauben wir nicht, dass Bilder von nackten Frauen an den Zimmerwänden kleben.

Was ist privat hier?

Die Kleider sind privat, und natürlich haben sie Privatsachen im Zimmer, einen Fernseher, Radio oder Bücher. Allerdings keine eigenen Möbel, aus Sicherheitsgründen.

Gibt es eigentlich nur Männer hier?

Ja, bei den Insassen schon. Es gibt sehr viel weniger Frauen im Vollzug. Ich hätte nichts gegen gemischte Gruppen, das würde vieles entkrampfen. Es gäbe sicher auch Probleme: Bei uns helfen die Insassen mit, sie kochen und putzen und waschen. Anfänglich maulen sie furchtbar, aber sie gewöhnen sich daran. Wenn es Frauen in der Gruppe hätte, würden die Männer wohl die Putzlappen wieder niederlegen. Und das Sexuelle wäre auch heikel. Aber wir haben Frauen hier, die als Betreuerinnen arbeiten. Das verbessert das Klima. In reinen Männergruppen gibt es mehr Provokationen, mehr körperliche Auseinandersetzungen. Aber man macht sich natürlich schon Gedanken über die Sicherheit der Mitarbeiterinnen, auch wenn es bislang noch keinen sexuellen Übergriff gab. Nur hie und da einen zotigen Spruch, aber das stoppen wir sofort.

Existiert eine Knasthierarchie?

Einer will immer der Chef sein. Aber das versuchen wir abzuklemmen. Es hilft, dass wir auf 52 Insassen 50 Angestellte haben. Wir sind also nicht nur viel kleiner als Strafanstalten, sondern haben auch viel mehr Betreuungspersonal, Sozialpädagogen und Psychiatriepfleger.

Ist diese Hierarchie beeinflusst von den begangenen Delikten?

Die Mörder sind die Grössten, die Pädophilen stehen am tiefsten. Da müssen wir schauen, dass sie nicht unterdrückt werden.

Was sind die ungeschriebenen Regeln unter den Insassen?

Das schlimmste Vergehen im Knast ist das Verpetzen. Als besonders verwerflich gilt auch das Klauen untereinander, darüber sind Insassen unglaublich empört und finden es das Hinterletzte. Häftlinge werden hinter Gittern zu Gerechtigkeitsfanatikern, das ist ganz erstaunlich. Und nachtragend sind sie auch.

Die Insassen werden hier therapiert. Wie muss man sich das vorstellen?

Uns ist die Gruppentherapie, wir nennen sie Milieutherapie, sehr wichtig. Sie findet mit der Wohngruppe statt, in der die Insassen leben. Viele lernen ja erst hier, wie man reflektiert und kommuniziert. Hilfreich sind auch Therapiegruppen, in denen Insassen zusammen sind, weil sie die gleichen Delikte begangen haben. Schliesslich sind sie die eigentlichen Experten dafür. Da kommt es dann vor, dass einer dem anderen Heuchelei vorwirft, weil er ihm etwas nicht abkauft.

Wie häufig werden Medikamente eingesetzt?

Die psychisch Gestörten bekommen die notwendigen Medikamente. Manche machen damit Fortschritte.

Gibt es Insassen, die sich weigern?

Die meisten nehmen die Tabletten. Notfalls müssen wir Druck aufsetzen, etwa, indem wir Ausgang oder Urlaube nicht gewähren.

Werden denn oft Medikamente gegen Depressionen verschrieben?

Nein. Es geht eher um die Behandlung von aggressivem Verhalten oder von klassischen psychischen Krankheiten wie Schizophrenie. Depressionen sind gar nicht so häufig.

Seitdem die Verwahrungsinitiative 2003 angenommen wurde, kommen Verwahrte nie mehr in Freiheit. Nach dem Mord in Pöschwies wurden sofort rigorose Haftverschärfungen gefordert, etwa eine permanente Isolationshaft ...

Ja, die Gesellschaft ist strenger geworden, der politische Druck hat zugenommen. Man fordert eine absolute Sicherheit, auch wenn man sonst überall die Risiken trägt. Nehmen Sie nur mal den Strassenverkehr. Oder einen Chirurgen: Wenn Sie von ihm verlangen, dass er nie mehr einen Fehler machen darf, dann wird er nie mehr arbeiten.

Eine aktuelle Studie des Bundesamts für Statistik zeigt, dass Sexualstraftäter gerade mal in einem Prozent der Fälle rückfällig werden, Diebe hingegen in über der Hälfte der Fälle. Warum also schauen alle gebannt auf diese Einzelfälle?

Die Fälle sind halt spektakulärer. Es scheint, als ob unsere Gesellschaft auf ihren eigenen Schatten starrt.

Führt der gesellschaftliche Druck dazu, dass Straftäter im Zweifelsfall härter angepackt werden?

Wir spüren diesen Druck schon ein bisschen im Nacken, das kann man nicht verneinen. Wir sind eher noch vorsichtiger und restriktiver.

Verwahrte gelten als untherapierbar. Sie werden als Menschen gesehen, die aufgrund ihrer Veranlagung schlecht handeln müssen. Steht zunehmend nicht mehr die Tat im Vordergrund, sondern die Psyche?

Bei uns eher nicht. Wir gehen von einer deliktorientierten Behandlung aus, bei der die Rückfallgefahr bekämpft wird. Wir sagen nicht, das ist ein schlechter Mensch. Verwahrte sind abgestempelt, aber das kommt nicht von uns, die mit diesen Leuten zu tun haben, das kommt von aussen. Manchmal denke ich, die Gesellschaft ist zu moralisch. Es kann doch so schnell etwas mit einem passieren. Aber klar: Gefährliche Täter müssen gesichert bleiben.

Gibt es auch Glück hinter den Gittern?

Ja. Es wird viel und gut gearbeitet. Es gibt Leute, die gut kochen. Die gut zu den Tieren sind, die wir hier im landwirtschaftlichen Betrieb haben. Und auch wir machen eine wichtige Arbeit. Es ist manchmal etwas deprimierend, dass dies kaum gewürdigt wird.

Glauben Sie an das Gute im Menschen?

Ein bisschen muss man das, sonst macht man diesen Job nicht. Man muss auch pragmatisch sein. Es ist auf jeden Fall eine spannende Aufgabe, all diese Menschen, diese Schicksale. Und der Job lehrt einen Bescheidenheit. Es gibt viele, die es wirklich schwer hatten im Leben. Die sich Mühe geben, aber die von ihrer Persönlichkeitsstörung her keine Chance haben. Und die Gesellschaft will sie nicht. Wir hatten einmal einen Doppelmörder hier, der hat über hundert Telefonate gemacht, um einen Job zu finden, und die Leute haben einfach den Hörer aufgelegt, als er ihnen sagte, er sei zwanzig Jahre im Gefängnis gewesen.

Sie bewegen sich unter Mördern und Sexualstraftätern. Haben Sie manchmal Angst?

Nein, die Scheu, die ich anfangs hatte, habe ich verloren. Auch wenn es Fälle gibt, die einem schon nahegehen. So etwa der Fall eines Insassen, der einem Menschen aus nächster Nähe ins Gesicht geschossen hat. Wichtig ist, dass man mit den Tätern darüber redet. Dass man sie fragt, was sie dazu meinen.

Wie gehen Mörder denn mit ihrer Tat um?

Es gibt solche, die das sehr belastet, die jeden Tag daran denken. Andere verdrängen es. Das sind die gefährlicheren.

Am Schluss führt der Gefängnisdirektor durch die Anlage. Ein Exjunkie mistet den Schweinestall aus. Eine Kuh hängt in den Seilen, damit man ihre Hufe reinigen kann. Im Fitnessraum hat es keine Spiegel, es soll hier keine Muskelschau geben. Ein schmächtiger, scheuer, stummer Mann klebt in der Werkstatt EDU-Wahlplakate auf Ständer. Das Schulzimmer ist leer, auf der Wandtafel stehen die Namen Wilhelm Busch, Stefan Zweifel, Hitler. Ein Brandstifter saugt Staub in der Kantine.

In der offenen Abteilung sagt Gruppenleiter Dorf, er habe keinen gerne im Rücken. Bereits jetzt im Februar wird es heiss hinter den dicken Glasscheiben. Im Hof steht ein metallischer Körper aus kleinen Pfeilen, «Quo vadis» heisst das Objekt, wohin gehst du. Im Raum der Stille ist ein goldener Kreis an die Wand gemalt, als Zeichen der Vollkommenheit. Bundesrat Blocher, der bei der Einweihung vor einem Jahr da war, habe sich furchtbar darüber aufgeregt, sagt Direktor Näf.

Eine Psychiatriepflegerin füllt im Arztzimmer eine ganze Menge Tablettendispender auf. In den Zellen kann ein handbreites Fenster einen Spalt weit geöffnet werden. Schlägt man aufs Panzerglas, wird ein Alarm ausgelöst. Draussen liegt die Landschaft im Licht. Still ist es. Nachts sind die Sicherheitsleute allein, sie bleiben im Sicherheitstrakt. Jeder Mitarbeitende trägt einen Notrufauslöser auf sich. Bevor man eine Zelle in der geschlossenen Abteilung betritt, guckt man durch das Sichtfenster in der Tür. An Geburtstagen schreibt der Gefängnisdirektor jeweils eine Karte.





Der Gefängnisdirektor

Leo Näf, 60, leitet seit elf Jahren das Bitzi im Kanton St. Gallen, das früher eine Strafanstalt war und vor einem Jahr in ein Massnahmenzentrum umgewandelt und in einem Neubau untergebracht wurde. Er hat vier Semester Theologie studiert, bevor er zur Jurisprudenz wechselte. Näf war fünfzehn Jahre lang Jugendanwalt. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

Das Massnahmenzentrum Bitzi

Das vor einem Jahr neu eröffnete Bitzi im toggenburgischen Mosnang ist eines von insgesamt drei Schweizer Massnahmenzentren für Erwachsene und damit eine Mischung aus Strafanstalt und psychiatrischer Klinik. Eine strafrechtliche Massnahme wird gesprochen, wenn die Delinquenten entweder Suchtprobleme haben oder psychisch gestört sind. Im Unterschied zu einer Strafe, die in der Strafanstalt verbüsst wird, ist eine Massnahme zeitlich nicht begrenzt, eine Entlassung nicht garantiert. Das Ziel im Bitzi ist die Resozialisierung. In der offenen Abteilung leben 36 Insassen, sie sind im betriebseigenen landwirtschaftlichen Betrieb, in der Schreinerei, der Schlosserei oder der Gärtnerei beschäftigt. Sie erhalten zwischen zwanzig und dreissig Franken Entgelt pro Tag. Die sechzehn Insassen der geschlossenen Abteilung arbeiten im Haus. Nach einigen Monaten kommen sie entweder in die offene Abteilung oder werden in eine geschlossene Anstalt oder in eine psychiatrische Klinik überführt.

Ursprünglich stand an diesem Ort ein Hotel, das von EngländerInnen frequentiert wurde. 1871 wurde das Gebäude in eine Arbeitsanstalt umgewandelt. In den fünfziger Jahren legte eine Insassin Feuer, das Gebäude brannte vollständig nieder. Danach wurde die Strafanstalt aufgebaut und 1952 in Betrieb genommen.