Finanzkrise: Ab ins Geschichtsbuch
Die neoliberale Ära von Margaret Thatcher und Ronald Reagan geht zu Ende. Das haben selbst Thatchers Fans in der britischen Regierung erkennen müssen. Aber was folgt daraus?
Die Talfahrt hält an. Letzte Woche wurde bekannt, dass der deutsche Staat nochmals 1,2 Milliarden Euro in die bloss mittelgrosse Bank IKB buttern muss; der Finanzminister bangt mittlerweile um seinen Haushalt. In den USA stehen nicht nur zwei Millionen Häuser zum Verkauf, sondern möglicherweise bald fünfzehn Millionen, weil ihre BesitzerInnen aufgrund des dramatischen Wertverlusts ihrer Immobilie die nun eingeforderte Differenz zwischen Hypo-Darlehen und Buchwert nicht aufbringen können. Die Krise könnte die Kreditinstitute nicht bis zu 800 Milliarden US-Dollar kosten, wie bisher angenommen wurde. Sondern bis zu zwei Billionen.
Und so rufen alle nach einem Rettungsring. Nicht nur Josef Ackermann von der Deutschen Bank hat nach dem Zusammenbruch des Hedgefonds Carlyle Capital und dem Fastabsturz der Investmentbank Bear Stearns seinen Glauben an die Selbstheilungskraft des Marktes verloren (siehe WOZ Nr. 12/08). Auch der IWF appelliert mittlerweile an die Verantwortung der Staaten - und vollzieht damit einen Kurswechsel von 180 Grad. US-Ökonomen wie Joseph Stiglitz, Robert Reich oder Paul Krugman, die schon lange ein Umdenken fordern, finden immer mehr Gehör. Und selbst Franklin D. Roosevelts staatsinterventionistische Massnahmen im Rahmen seines New-Deal-Programms in den dreissiger Jahren gelten in den USA nicht mehr als Teufelswerk.
Thatchers erste Amtshandlung
Am weitesten eingreifen musste bisher jedoch die Regierung ausgerechnet jenes Staates, von dem die Liberalisierung der Finanzmärkte ausging: Britannien. Monatelang hatte Labourpremier Gordon Brown die angeschlagene Northern Bank mit Notkrediten und staatlichen Garantien in Höhe von umgerechnet 110 Milliarden Franken zu retten versucht. Vergebens: Die Hypothekenbank musste verstaatlicht werden.
Dabei war es Browns Vorbild Margaret Thatcher gewesen, die in ihrer ersten Amtshandlung 1979 die staatliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs aufhob. Heute kann man sich kaum vorstellen, dass eine solche Kontrolle überhaupt möglich war - und der Kapitalismus trotzdem funktionierte. Brown ging dann noch einen Schritt weiter: Seine erste Amtshandlung als Schatzkanzler der Labourregierung von Tony Blair 1997 bestand darin, der Regierung die Kontrolle über die Bank of England zu entziehen.
Brown und die anderen Zauberlehrlinge, die das Finanzsystem an den Rand des Abgrunds getrieben haben und jetzt nach dem Staat rufen, werden nach Ende der Krise - so es denn ein für sie glückliches Ende geben sollte - die Probleme schnell vergessen. Und zu ihrer alten Position zurückkehren wollen: Der Staat, werden sie dann sagen, hat in der Wirtschaft nichts zu suchen. Doch so einfach wird das diesmal nicht werden. Denn auch in einer anderen, noch viel grundsätzlicheren Frage, gibt es ohne staatliche Regulierung kein Überleben. Die Klimakatastrophe ist mit der «unsichtbaren Hand des Marktes» (Adam Smith) nicht zu bewältigen.
Es spricht noch mehr dafür, dass ein neues Zeitalter anbricht. Die Krise der siebziger Jahre (Ölpreisschock und galoppierende Inflation) hat nicht nur den alten wohlfahrtsstaatlichen Konsens ins Wanken gebracht und der von Thatcher und Ronald Reagan vorangetriebenen neoliberalen Revolution den Weg geebnet. Er hat auch kurzfristig die Machtverhältnisse verschoben - weg von den Industriestaaten, hin zu den ölproduzierenden Ländern.
Die heutige Umschichtung ist grundsätzlicherer Natur: Der Westen verliert seit Jahren an Einfluss; die asiatischen Schwellenländer (vor allem China und Indien) gewinnen dank ihres staatlich gesteuerten Wachstums auch geopolitisch an Kraft. Die aktuelle Systemkrise wird diesen Wandel beschleunigen - und für die USA dieselbe Folge haben wie die Wirtschaftskrise Anfang der dreissiger Jahre für das britische Empire: Der Verlust ökonomischer Vorherrschaft führte in der Geschichte stets auch zum Niedergang des politischen Imperiums - mitsamt der Ideologie, die es unterfütterte.
Thatchers Ideologie vom freien Spiel der Marktkräfte war schon letztes Jahr ein heftiger Stoss versetzt worden. Ausgerechnet in der Schifffahrt, die sich schon vor fünfzig Jahren globalisiert hatte und durch die Einführung der Billigflaggen alle staatlichen Kontrollen über Bord warf, hatten sich Reedereien und die Internationale Transportarbeiter-Föderation ITF auf eine globale Re-Regulierung der Arbeitsverhältnisse der Seeleute verständigt.
Unterirdische Gewalten
Ideen für eine Re-Regulierung des Finanzkapitals gibt es ebenfalls genug: Seit Jahren kämpfen GlobalisierungskritikerInnen und Bewegungen wie Attac für die Einführung einer Spekulationssteuer, die - den politischen Willen vorausgesetzt - ebenso problemlos umzusetzen wäre wie die vom Tax Justice Network geforderten internationalen Steuerregeln, die Steuerflucht ebenso schnell beenden würden wie den Unterbietungswettlauf der Staaten und Kantone (vgl. www.taxjustice.net und www.evb.ch). Selbst die wirtschaftspolitisch eher neoliberal gestrickte «Süddeutsche Zeitung» empfahl letzte Woche staatliche Sofortmassnahmen, um das «Marktversagen» zu beheben. Die Regierungen müssten von den Kreditinstituten mehr Transparenz einfordern, eine globale Banken- und Finanzaufsicht institutionalisieren und von den FinanzinvestorInnen eine minimale Eigenkapitalbeteiligung verlangen.
«Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse», schrieben Karl Marx und Friedrich Engels vor 160 Jahren im «Kommunisten Manifest», gleichen «dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor». Sie glaubten damals an die Kraft des entstehenden Proletariats, das sich dann aber doch nicht als gar so revolutionär erwies. Aber sie schrieben auch: «Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst ... Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht ...»
Wer, wenn nicht wir?
Heutzutage glaubt niemand mehr - von den meisten Ökonomen, Politikerinnen und einem Grossteil der Medienleute mal abgesehen - an die neoliberalen Verheissungen. In allen Umfragen und Referenden lehnen Menschen überall auf der Welt Privatisierung und Liberalisierung ab; die Ideologie vom freien Spiel des Marktes hat nur noch wenige FreundInnen.
Aber was dann? Die Linke hat dieses Vakuum bisher kaum nutzen können. Doch wer könnte den Mangel an visionären Vorstellungen und zukunftsträchtigen Utopien beheben, wenn nicht wir? Ein relevanter Teil der globalisierungskritischen Bewegung - dies zeigen die Debatten an vielen Sozialforen - beschäftigt sich weiterhin mit der endlos langen Liste von Schurkereien, die auf das Konto des globalen Kapitalismus gehen: Vom Patentregime zur Gentechnologie, vom zunehmenden Hunger in der Dritten bis zur wachsenden Präkarisierung der Arbeitsverhältnisse und Ausbeutung in der Ersten Welt.
Wir beklagen die Folgen der thatcherschen Revolution, als wäre sie erst gestern über uns hinweggerollt. Dabei ist ihre Zeit vorbei. Und kümmern uns zu wenig um die Fragen der neuen Epoche: Welchen Staat wollen wir eigentlich? Und wie kämpfen wir dafür?