Europas Zerfall: Der bürgerliche Pakt mit dem Nationalismus

Nr. 8 –

Die Schweiz hat sich mit der Annahme der SVP-Einwanderungsinitiative als erstes Mitglied des europäischen Binnenmarkts gegen die Zuwanderung ausgesprochen. Der Nationalismus ist jedoch in ganz Europa wieder auf dem Vormarsch.

Gefahr für die europäische Idee: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit dem britischen Premierminister David Cameron und SVP-Vizepräsident Christoph Blocher.

Wenn der Abstimmungskampf um die kürzlich angenommene SVP-Initiative, die die Grenzen dicht machen soll, etwas über die Bürgerlichen in diesem Land gezeigt hat, dann dies: Kaum jemand von ihnen wagt es noch, gegenüber den WählerInnen für eine liberale Schweiz zu kämpfen. Wo waren die FDP-Köpfe, die, wie einst Franz Steinegger in den neunziger Jahren, laut für die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt und am freien Personenverkehr plädierten? Auch im übrigen Europa werden diese Stimmen immer rarer. Eine gehört dem 88-jährigen ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors, der kürzlich mit Blick auf die EU-Wahlen im Mai in europäischen Leitblättern wie der FAZ ein Plädoyer für eine «Grande Europe» hielt – für ein starkes, liberales Europa.

Dabei steht Delors gleichzeitig für die Zäsur, die den Niedergang des liberalen Europa einleitete.

Der französische Sozialist war der Architekt des europäischen Binnenmarkts, wie ihn der rechtslibertäre Vordenker Friedrich Hayek bereits 1939 in einem Aufsatz skizziert hatte. Delors, der als Wirtschaftsminister 1982 hinter dem «tournant de la rigueur» stand, der Kehrtwende zur Strenge, mit der Präsident François Mitterrand von seiner linken Wirtschaftspolitik abrückte, gelangte 1985 an die Spitze der EU-Kommission. Damals versuchten viele Regierungen in Europa, die Wirtschaftskrise, in die sie mit der Ölkrise 1973 geraten waren, durch wirtschaftsliberale Reformen zu bändigen. Auf der Grundlage eines Weissbuchs beschloss Delors, diese Liberalisierung auf EU-Ebene voranzutreiben: Im Vertrag, den er entwarf – die Einheitliche Europäische Akte – zeichnete er einen europaweiten Markt, in dem sich das Kapital frei bewegen konnte; in dem Firmen in jedes Land frei exportieren durften; und in dem ihnen der freie Personenverkehr Zugriff auf die nötigen Arbeitskräfte verschaffte.

Die Voraussetzungen waren günstig: Der damalige deutsche Kanzler Helmut Kohl hatte angesichts der wettbewerbsstarken Industrie seines Landes und der eigenen Liberalisierungspläne grosses Interesse an Delors’ Vorschlag. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die angeblich Hayeks Hauptwerk «Der Weg zur Knechtschaft» stets in ihrer Handtasche trug, begrüsste ohnehin jede Liberalisierung – insbesondere weil der Binnenmarkt der Finanzindustrie ihres Landes, die sie eben durch den Big Bang dereguliert hatte, neue Märkte versprach. Wie US-Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen schreibt: «Für Thatcher und ihre Anhänger bot der Binnenmarkt eine Liberalisierung britischen Stils auf europäischer Ebene.»

Kein Jahr nach Delors’ Amtsantritt war der Vertrag unter Dach. Bereits 1993 war aus Europa ein einziger grosser Markt geworden, dem sich die Schweiz zehn Jahre später mit bilateralen Verträgen anschloss. Kurz vor der Jahrtausendwende übernahmen zudem elf EU-Mitgliedstaaten den ebenfalls von Delors entworfenen Euro als ihre Währung.

Was auf Delors’ Einheitliche Akte 1986 folgte, war ein erbitterter Wettlauf zwischen Staaten um Kapital, das nun einfach über die Grenze in ein anderes Land abfliessen konnte. Zwischen 1980 und 2011 sanken in den EU-Mitgliedstaaten die Unternehmenssteuern von durchschnittlich 44 auf 27 Prozent. In der gleichen Zeit stiegen allerdings auch die Kosten des Wohlfahrtsstaats, da eine zunehmende Anzahl Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu wenig verdiente. Denn im Wettstreit um Firmen deregulierten viele Staaten zusätzlich auch ihre Arbeitsmärkte. Thatcher hatte bereits Anfang der achtziger Jahre begonnen, die Gewerkschaften zu bekämpfen; kurz nach der Jahrtausendwende pflügte schliesslich SPD-Kanzler Gerhard Schröder auch Deutschlands Arbeitsmarkt um.

Das Ergebnis unter dem Strich war ein Berg von Schulden: Die Verschuldung der (alten) EU-Staaten stieg zwischen 1980 und 2007 von durchschnittlich 41,5 auf 54 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – in Italien gar von 56 auf 103 Prozent. Andere Staaten zogen es vor, die Kreditvergabe für Privathaushalte zu erleichtern, in Britannien etwa explodierten deren Schulden von 37 auf 108 Prozent. In Frankreich stiegen die Schulden von Staat und Privathaushalten zusammen von 48 auf 127 Prozent, in Deutschland von 90 auf 129 Prozent.

2008 drohte die Blase zu platzen: Viele Privathaushalte konnten ihre Schulden nicht mehr tragen, erste Banken waren im Begriff zu kollabieren. Also liehen sich die Staaten noch mehr Geld, um die Finanzinstitute zu retten. 2010 drohte mit Griechenland dem ersten Staat der Bankrott.

Die europäischen Regierungen unter Führung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel hätten im Umgang mit Staaten wie Griechenland ein liberales Prinzip befolgen können, das besagt, dass im Fall eines Staatsbankrotts die Banken einen Kreditausfall hinnehmen müssen. Doch ihr Plan war ein anderer: Um die Schulden unter Kontrolle zu bringen, sollten in den darauffolgenden Jahren die Sozialleistungen gekürzt werden. Und auch die Arbeitsmärkte sollten weiter dereguliert werden, um Firmen anzulocken und die Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft zu steigern. All dies vor dem Hintergrund eines dramatischen Anstiegs der Arbeitslosigkeit.

Doch wie ist es in einer Demokratie möglich, solche Massnahmen durchzusetzen, ohne von den WählerInnen weggefegt zu werden?

Die Autoritären

Das war, so der Historiker Eric Hobsbawm, das Dilemma, mit dem die Bürgerlichen auch Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert waren, nachdem sie mit der industriellen und der Französischen Revolution von 1789 allmählich die politische Macht erobert hatten. Das Gleiche galt für den konservativen Adel, der vielerorts noch regierte. Spätestens ab 1870 hatte die Demokratie mit der Einrichtung gewählter Parlamente ihren ersten Durchbruch geschafft. Und gleichzeitig war neben dem Bürgertum eine weitere politische Kraft entstanden, die auf dem Vormarsch war: die Arbeiterschaft, die unter unsäglichen Bedingungen lebte.

Würde die Demokratie nicht auf direktem Weg in den Kommunismus führen, wie 1866 der spätere konservative britische Premierminister Lord Salisbury befürchtete?

Die Bürgerlichen und die Konservativen begegneten diesem Dilemma, indem sie sich gegen die Demokratie wandten. Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi schrieb 1944 in seinem Klassiker «The Great Transformation»: «Innerhalb und ausserhalb Englands (…) gab es keinen Liberalen, der nicht seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass die Volksherrschaft eine Gefahr für den Kapitalismus darstellte.» Es blieb nicht bei Worten: Reichskanzler Otto von Bismarck etwa beschnitt die Kompetenzen des Reichstags; in Britannien wurde das Parlament durch die zweite Kammer mit vererbten Sitzen beschränkt; und vielerorts durften nur jene Männer wählen, die einen höheren Beruf ausübten oder Eigentum besassen.

Dieser autoritäre Geist steckte auch im Entwurf eines Binnenmarkts mit freiem Kapitalverkehr, den Hayek in seinem Aufsatz «The Economic Conditions of Interstate Federalism» 1939 skizzierte. Hayek wollte die demokratischen Staaten entmachten: Um das Kapital in ihrem Land zu halten, so seine Prophezeiung, würden die Staaten ihre Steuern senken und den Arbeitsmarkt deregulieren müssen – sodass, wie Hayek sich etwas gar voreilig freute, sogar die «gesetzliche Beschränkung von Kinderarbeit oder die Regulierung der Arbeitszeit den Einzelstaaten schwerfallen» würde. Als Delors den Binnenmarkt mit der Einheitlichen Akte 1986 in die Wirklichkeit umsetzte, setzte sich diese Abwärtsspirale in Gang.

Die Kürzungspläne nach der Finanzkrise 2008 wurden von den europäischen Regierungen mit dieser Gefahr eines drohenden Kapitalabflusses gerechtfertigt – Kanzlerin Merkel forderte gar die «marktkonforme» Demokratie. Mit der Einführung der Einheitswährung 1999 waren die Mitgliedstaaten zusätzlich entmachtet worden, da sie die Option nicht mehr haben, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch die Abwertung ihrer Währung zu erhalten – es bleibt ihnen die Senkung der Löhne. In den stark verschuldeten Eurostaaten explodierten zudem die Risikozinsen, was sie zum Sparen zwang: Da nur die Europäische Zentralbank Geld drucken kann, es ihr jedoch verboten ist, Mitgliedstaaten in Not mit Krediten auszuhelfen, droht ihnen der Bankrott. Dadurch sollen die Mitgliedstaaten zur Disziplin gezwungen werden.

Als ab 2010 Griechenland, Irland und Portugal an den Rand des Staatsbankrotts gerieten, waren sie gezwungen, sich im Tausch gegen Kredite unter das autoritäre Diktat der EU zu stellen – eines bis heute undemokratischen Staatenbunds, dessen Regierungen das Parlament absichtlich schwach halten. Die Staaten wurden gezwungen, Staatsstellen zu streichen, Sozialleistungen zu kürzen, Löhne zu senken sowie Bahnbetriebe, Stromunternehmen oder Häfen zu privatisieren. Um Staatsbankrotten vorzubeugen, haben die europäischen Regierungen unter Bundeskanzlerin Merkel der EU mit der Schuldenbremse zudem die Kompetenz übertragen, die Budgets ihrer Parlamente zu überwachen.

Seit Ausbruch der Finanzkrise ist die Arbeitslosigkeit innerhalb der EU von 7 auf 11 Prozent angestiegen – in Griechenland und Spanien liegt sie bei über 25 Prozent. 27 Millionen Menschen sind ohne Job. Auf der Suche nach Arbeit wandert ein Teil dieser Menschen aus – etwa in die Schweiz, wo die Immigration auf die Löhne drückt.

Genau so, wie es in einem Binnenmarkt vorgesehen ist.

Die NationalistInnen

Als die Bürgerlichen und die Konservativen Ende des 19. Jahrhunderts begriffen, dass der Vormarsch der Demokratie nicht mehr aufzuhalten war, tauschten viele den geistlosen Autoritarismus gegen den flammenden Nationalismus ein, der zu jener Zeit geboren wurde. Mit ihm versuchten sie, die Massen, deren Groll sich in Revolten zu entladen drohte, als Nation hinter sich zu scharen, indem sie sie gegen ihre Nachbarn aufhetzten. Die Hetze verfing vor allem im Kleinbürgertum, etwa bei den kleinen Angestellten, die Angst hatten, ins Proletariat abzurutschen. Doch auch die Arbeiterbewegung war nicht immun. So schrieb Karl Marx bereits zu Beginn des Deutsch-Französischen Kriegs 1870 seinem Vertrauten Friedrich Engels: «Die Franzosen brauchen Prügel.» Anfang des 20. Jahrhunderts war ein Grossteil des Proletariats dem Nationalismus verfallen.

Es war dieser Nationalismus, der Europa 1914 ein erstes und 1939 ein zweites Mal in den Krieg trieb. Am Ende lag der Kontinent in Trümmern. Europas Bürgertum hatte seine wirtschaftlichen Interessen im eigenen Nationalismus ertränkt.

Angesichts der zunehmenden Armut, die Abstiegsängste weckt, versuchen Bürgerliche in den einzelnen Nationalstaaten derzeit, die Menschen erneut mit nationalistischen Parolen hinter sich zu scharen. Angetrieben werden sie von Rechtsaussenparteien wie dem Front National, der Alternative für Deutschland (AfD) oder der United Kindgdom Independence Party (UKIP), die in den EU-Wahlen laut Prognosen rund ein Fünftel der Sitze erobern könnten (vgl. «Die EU wählt» im Anschluss an diesen Text). Kurz bevor die rumänischen und bulgarischen Arbeitskräfte Anfang 2014 den vollen Zugang zum Binnenmarkt erlangten, lancierte die bayerische CSU, die zusammen mit SPD und CDU regiert, eine Tirade gegen «Armutsmigration». Sie folgte damit dem konservativen britischen Premierminister David Cameron, der seit Monaten mit der Abschottung des Inselstaats droht. Letztes Wochenende lobte schliesslich Frankreichs ehemaliger konservativer Premierminister François Fillon (vgl. «Ein übler Wind aus der Schweiz ») die SVP-Initiative als Vorbild für die EU.

Die Logik hinter dieser bürgerlichen Politik: Erst hat sie den demokratischen Nationalstaat entmachtet, um die Unternehmenssteuern zu senken, die Sozialwerke zu stutzen und den Arbeitsschutz auszuhebeln. Und nun präsentieren sich die Bürgerlichen als die Kraft, die dem Staat die verlorene Kontrolle zurückgibt – als AnwältInnen der inländischen Bevölkerung, deren Arbeit, Sozialgelder und Heimat sie gegen die Migrantinnen verteidigen. Nicht mit der Absicht, die Grenzen für Einwanderer zu schliessen, sondern mit dem Ziel, ihre Arbeitsrechte zu beschneiden.

Die SVP ist die Vorreiterin dieser Politik. Der Milliardär, Industrielle und Financier Christoph Blocher hat früh erkannt, dass sich Steuersenkungen für Firmen und Sozialabbau dem Kleinbürgertum, den ArbeiterInnen und der Landbevölkerung am besten verkaufen lassen, wenn man sie in ein nationalistisches Heimatgefühl bettet. Vor der Abstimmung polterte die SVP wochenlang gegen die Zuwanderung, die es mit Kontingenten zu beschränken gelte. Nun, da die Vorlage angenommen ist, will sich SVP-Präsident Toni Brunner auf keine Kontingentshöhe festlegen. Stattdessen will er portugiesischen Arbeitskräften den Familiennachzug verbieten, ihnen das Daueraufenthaltsrecht streichen und den Zugang zu Sozialgeldern erschweren. Schliesslich stellt er die flankierenden Massnahmen infrage, die auch die inländischen Arbeitskräfte schützen.

Die anderen bürgerlichen Parteien warfen sich bereits am Abstimmungssonntag der SVP an die Brust. Christophe Darbellay, Präsident der Familienpartei CVP, stellte unverzüglich den Familiennachzug infrage. FDP-Nationalrat Ruedi Noser liess über Twitter verlauten, nun seien die flankierenden Massnahmen überflüssig. Und die NZZ meinte in einem Kommentar, den Mindestlohn, über den im Mai abgestimmt wird, brauche es nun weniger denn je.

Die Sozialliberalen

Spätestens nach 1945 waren die Bürgerlichen zu einer neuen Einsicht gelangt: Um eine Wiederholung des Zweiten Weltkriegs zu verhindern, der letztendlich auch ihren eigenen wirtschaftlichen Interessen geschadet hatte, musste man statt mit den NationalistInnen mit den Linken einen Pakt schliessen. Es war die Geburtsstunde einer weiteren Sorte von bürgerlichen PolitikerInnen: den Sozialliberalen. Ihre Idee: Statt mit nationalistischen Parolen wollten sie die Menschen gewinnen, indem sie sie am Reichtum teilhaben lassen. Umso mehr, als mit der damals noch florierenden Sowjetunion erstmals eine für sie bedrohliche Alternative zum Kapitalismus existierte. Zur Ikone dieses «eingebetteten Liberalismus» wurde der britische Diplomat und Volkswirt John Maynard Keynes, einer der Architekten der Nachkriegsordnung.

Den neuen Konsens, der sich unter Bürgerlichen etablierte, skizziert der Harvard-Ökonom Rawi Abdelal in seinem Buch «Capital Rules» so: «Die neue Ordnung würde auf der Regulierung des Kapitals beruhen, nicht um den Kapitalismus zu untergraben, sondern um ihn zu retten.» Daraus ging das internationale Bretton-Woods-System hervor. Die Absicht: Nach dem freien Kapitalverkehr des 19. Jahrhunderts sollten die Staaten ihre Macht zurückerlangen, in die Wirtschaft einzugreifen, ohne mit einem Kapitalabfluss bestraft zu werden. In den Worten des damaligen US-Diplomaten Richard Gardner: «Sie wollten die Finanzwelt zum Diener statt zum Herrn über die Wünsche der Menschheit machen.»

Die Nachkriegszeit wurde zur Geburtsstunde des Wohlfahrtsstaats. Die britische Koalitionsregierung aus Konservativen und Labour legte bereits 1942 den Beveridge-Plan vor, der den «Welfare State» entwarf, der gleich nach dem Krieg errichtet wurde. In Frankreich war es der Konservative Charles de Gaulle, der als Präsident der Übergangsregierung kurz nach dem Krieg mit der Sozialversicherung das Fundament des «État-providence» legte. Und auch in Deutschland beugte sich der konservative Kanzler Konrad Adenauer der breiten Forderung nach einer «sozialen Marktwirtschaft».

EU-Kommissionspräsident Jacques Delors hat 1986 mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs, der die Nationalstaaten entmachtete, mit dieser Zeit gebrochen – und Friedrich Hayeks Neuauflage des Laissez-faire des 19. Jahrhunderts zum Durchbruch verholfen. Doch Delors’ Plan war ein anderer, wie Abdelal darlegt, er hatte eine sozialliberale Vision im Kopf: Er war von seiner Zeit als Wirtschaftsminister geprägt, als er mit dem «tournant de la rigueur» Mitterrands linke Wirtschaftspolitik beenden musste, weil die Investoren ihr Kapital abzogen – die Grenzen für das Kapital waren bereits porös geworden. Der Schluss, den Delors daraus zog: Wenn das Kapital den Staaten über die Grenze entwischt, so kann es nur auf europäischer Ebene wieder unter Kontrolle gebracht werden. Durch die EU. Dasselbe galt für die Personenfreizügigkeit: Wenn die Menschen ohnehin für Arbeit über den Kontinent migrierten – war es da nicht besser, sie auf EU-Ebene durch Rechte wie jenes auf Familiennachzug oder auf soziale Absicherung zu schützen?

Delors’ Projekt zu Ende zu führen, hiesse, die Unternehmenssteuern, die Sozialwerke und den Arbeitsmarktschutz zu harmonisieren – der EU eine «soziale Dimension» zu geben, wie Delors in seinem kürzlich publizierten Plädoyer fordert. Mit dem Ziel, die dreissigjährige Abwärtsspirale, die sich im Wettstreit um das Kapital ergeben hat, umzukehren. Damit würde sich Europa wieder vom Autoritarismus und vom Nationalismus lösen können, die den Kontinent zunehmend bedrohen.

Die Schweiz bräuchte nicht auf die EU zu warten: Als sicherer Hafen für Kapital gehört sie mit Deutschland zu den Gewinnern der Krise. So wie die Koalition unter der CDU, die gerade daran ist, einen Mindestlohn einzuführen, könnte sich auch die Schweiz den sozialpolitischen Alleingang leisten. Dazu bräuchte es einen neuen Pakt zwischen Bürgerlichen und Linken: Nur wenn die Integration der Schweiz in den europäischen Binnenmarkt durch eine starke soziale Absicherung flankiert wird, wird es der FDP wieder möglich sein, laut für eine liberale Schweiz zu plädieren, ohne von den WählerInnen abgewählt zu werden.

Der Pakt mit dem Nationalismus ist keine Alternative. Bereits jetzt nach der Annahme der SVP-Initiative, auf die die EU mit ersten Sanktionen reagiert, stellt sich die Frage: Sind die Bürgerlichen nicht gerade erneut dabei, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen im Nationalismus zu ertränken?

Die EU wählt

Für den kommenden 25. Mai sind die BürgerInnen der Europäischen Union dazu aufgerufen, ein neues EU-Parlament zu bestellen. Mit dem Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft getreten ist, muss der neue von den europäischen Regierungen vorgeschlagene EU-Kommissionspräsident erstmals vom Parlament bestätigt werden. Deshalb ziehen die Parteien zum ersten Mal mit SpitzenkandidatInnen in den Wahlkampf, die sich um das Kommissionspräsidium bewerben.

Die Europäische Volkspartei (EVP), der auch die deutsche CDU angehört, hat den Briten David McAllister dazu erkoren, die SozialdemokratInnen den derzeitigen deutschen Parlamentspräsidenten Martin Schulz, die Linke den Kopf der griechischen Syriza, Alexis Tsipras.

Grossen Zulauf werden laut Umfragen die rechtspopulistischen EU-SkeptikerInnen erhalten. Eine Studie der Deutschen Bank prognostiziert ihnen einen Sitzanteil von bis zu achtzehn Prozent.