Bellinzona: Streik mit vier Gegentoren
Der Cargo-Streik wurde gewonnen, zum Sieg im Schweizer Fussballcup hat es dann doch nicht gereicht. Ein Wochenende in der angriffigsten Stadt der Schweiz.
Der Schaffhauser Sänger GUZ im Radio. Das Lied passt ganz gut zu Bellinzona und zu allen anderen Kleinstädten, wo erheblich Stellen abgebaut werden und dabei nicht viel zurückbleibt ausser bereits tagsüber gespenstisch leere Gassen. GUZ: «Die Stadt ist leer, und alle sind weg, nur wir stehen hier, am Gogo-Snack! Die Wurst auf dem Karton und Senf auf dem Papier, die Füsse im Matsch und in der Hand das Bier. Man hat uns in dieser Stadt vergessen, und nun stehen wir hier rum und hauen uns in die Fressen!»
Während wir durch den Gotthard brettern, wird in Bern eine Lösung erzielt. Alles begann am 7. März, als die SBB ein «Restrukturierungsprogramm» ankündigten. Bei der Güterbahn SBB Cargo sollten 401 Stellen gestrichen werden, 126 im Industriewerk Bellinzona, der Officina. 80 davon sollten nach Yverdon verlagert werden. Das Programm baut auf dem 1999 von FDP, SVP und CVP verabschiedeten Beschluss auf, die SBB seien nach «betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu führen». Die Belegschaft trat umgehend in den Streik. Die SBB-Spitze verurteilte den Streik, wollte am Abbau festhalten. Jetzt, einen Monat später, gibt Bundesrat Moritz Leuenberger bekannt, dass ein runder Tisch zustande kommt. Die SBB verzichten auf den Stellenabbau, die Betriebsversammlung soll im Gegenzug den Streik abbrechen. Den grössten Streik seit dem Generalstreik von 1918.
Wer in der Deutschschweiz vor allem Zürcher Printmedien als Grundlage für die tägliche Information nutzt, konnte den Eindruck bekommen, der Streikkonzern Unia sei nach Bellinzona gekommen, um ein paar Arbeiter aufzuwiegeln, die eigentlich nichts lieber gehabt hätten, als ihre Stelle zu verlieren. Vor Ort zeichnete sich ein völlig anderes Bild. Der Streik wurde von verzweifelten Arbeitern angeführt, von einem Teil der einheimischen Bevölkerung. Nur deswegen konnte sich eine derart grosse Bewegung entwickeln. Die Unia lieferte logistische Unterstützung. Am Sonntag, 30. März, wurde ab Mittag zu einer Demonstration aufgerufen, die um 17 Uhr in der Innenstadt stattfinden sollte. Es kamen 12 000 Personen, um zu protestieren.
Langsam wurde die Situation unübersichtlich, die Tessiner waren erzürnt - und das schien nach mehreren Interventionen seitens der Tessiner SP auch Bundesrat Moritz Leuenberger allmählich zu realisieren. Als wir am frühen Samstagabend die vollbesetzte Werkhalle der Officina betreten, sagt ein freudiger Werner Carobbio, Tessiner SP-Übervater und Gewerkschafter: «Die Kröte ist SBB-Chef Meyer im Hals stecken geblieben.» Auf den Schultern trägt er ein kleines Mädchen, wohl seine Enkelin, und schüttelt Hände. Die Arroganz der SBB, die Region vor vollendete Tatsachen zu stellen, habe die Leute mobilisiert. Auf neueren Organigrammen der SBB sei Bellinzona bereits verschwunden gewesen, sagt Carobbio.
Ein Volksaufstand
Im Tessin zeichnen Einheimische und VertreterInnen der Politik das Bild eines Volksaufstandes, der relativ kurz davor war, ausser Kontrolle zu geraten. Überall in der Stadt hängen Transparente mit der Streikparole: «Giù le mani dall' Officina!» - «Hände weg von der Werkstätte!» Und überall Solidaritätsbekundungen: Die Grundschule: Mit euch! Die MitarbeiterInnen vom Altersheim: Mit euch! Die KollegInnen aus Lugano: Mit euch! Die Frau vom Quartierladen: Mit euch! Der Coiffeur: Mit euch! Die Spieler des AC Bellinzona: Mit euch! Die Hausfrau, die auszog, um für die Eisenbahner einen Hungerstreik zu machen: Mit euch! Alle Parteien (natürlich auch die lokale SVP): Mit euch!
Die Bevölkerung spendete in vier Wochen 1,5 Millionen Franken. Es gab seltsame Verwischungen: Die Linke führte den Streik an, aber Giorgio Giudici etwa, Bürgermeister von Lugano und eine wichtige Figur der kantonalen FDP, spendete 80 000 Franken.
Auf der Bühne in der Werkhalle spielt eine Band Covers von Iggy-Pop-Stücken. Alt Nationalrat Franco Cavalli sagt im Gespräch: Die nationale SP suche nach einem Programm, «aber das hier ist das Programm». Tatsächlich sind nicht nur lokale SP-Exponenten wichtige Exponenten der Gewerkschaften, auch die nationale SP stellte sich hinter die Streikenden. Während die FDP und die SVP, die sich lokal auch für die Werkstätte einsetzten, auf nationaler Ebene ein sofortiges Ende des Streiks forderten. Die SP war im Tessin bei den Leuten wie keine andere Partei.
Wären die Verhandlungen gescheitert, hätten am Montag Streikende die Gotthard-Bahnlinie blockiert. Die Regierung hätte aufgrund der Lage niemals die Polizei aufmarschieren lassen, ist Franco Cavalli überzeugt. «Und wer wäre dann gekommen? Die Urner Kantonspolizei? Die Armee?» Spätestens dann wäre die Dramatik, die die Situation in Bellinzona seit dem ersten Tag hatte, schweizweit nicht mehr wegzuschreiben gewesen. Giuliano Bignasca von der rechten Lega dei Ticinesi wollte mit seinen Leuten die Autobahn blockieren. Der Einfluss der Lega war aber vor Ort minim, und so konnte Bignasca überzeugt werden, von der Autobahnblockade abzusehen.
Am Spendentisch kann man Pins kaufen und Fahnen und Aquarelle und eine Büste von Lenin für 400 Franken. Auf einer Lokomotive steht: «Hände weg von meinem Vater.» Ein Arbeiter führt durch das Werk. Er wäre mit seinen fünfzig Jahren nicht frühpensioniert worden, und für ihn, der kein Wort Französisch spricht, wäre Yverdon keine Option gewesen. Er wäre, sagt er, nach Hause geschickt worden. Der stämmige, grosse Mann ist nicht gerade eine Emotionskanone, aber die Freude über den Entscheid kann er nicht verbergen. Mittlerweile herrscht in der Werkstatt Feststimmung, Reporter Filadoro bringt Grappa.
Die Festnacht
Streikführer Gianni Frizzo betritt um 22.09 Uhr die Halle. Er kommt soeben aus Bern - und die ganze Halle singt: «Die Arbeiter der Werkstätte, das sind wir!» Es ist ein aus dem Fussball entlehnter Gesang, und sie singen ihn Minuten lang. Und Frizzo sagt: «Wir haben diesen Sieg gemeinsam errungen.» Und die Bevölkerung und die Arbeiter und ihre Familien applaudieren und skandieren den Namen des Streikführers. Und dieser sagt durch das Megafon: «Ich hätte nicht darauf gewettet, dass wir es schaffen!» Und dann: «Die Fronten waren hart, Meyer war verzweifelt, wir müssen die Deckung oben halten.»
Die Menge buht den SBB-Chef aus, und dann skandiert sie, dass die Gerechtigkeit gesiegt habe. Spätestens jetzt ist man sich nicht mehr sicher, was passiert wäre, wenn die Verhandlungen keinen Erfolg gebracht hätten. Frizzo sagt: «Dieser Streik war auch ein Appell, eine Randregion nicht einfach zu vergessen auf Kosten des Dreiecks Bern, Basel und Zürich, auf das in diesem Land alles konzentriert werden soll!»
Jetzt tauchen Fussballfans der AC Bellinzona in der Werkstätte auf. In der Stadt haben sie sich auf das morgige Cupspiel eingetrunken, nun singen sie Schlager italienischer Kommunisten. Nach Mitternacht kommt auch noch ein Brautpaar hinzu. Sie hatten während der feierlichen Zeremonie vom Verhandlungserfolg gehört und sind jetzt mit der Gemeinde gekommen, um zu gratulieren und sich mit Gianni Frizzo ablichten zu lassen. Die Kapelle spielt einen Hochzeitsmarsch, und es ist bereits weit nach zwei Uhr in der Nacht auf Sonntag, als die ganze Halle «Bella Ciao» anstimmt.
Das Spiel
Um neun Uhr morgens am Sonntag versammelt sich die Bevölkerung der Stadt am Bahnhof. Tausende, in den Farben der AC Bellinzona (und vereinzelt mit Streikflaggen): Rosarot. Dann fährt ein Extrazug vor, dann fahren sechzig Cars vor, dann Hunderte Autos - die Bevölkerung fährt davon, und danach wirkt die Stadt tatsächlich vergessen.
Die übrigen 400 Bellinzonesi, die nicht zum Spiel nach Basel gefahren sind, haben sich in der Werkhalle versammelt. Der Cupfinal wird auf Grossleinwand übertragen. Jeder erkämpfte Ball wird beklatscht. Und die AC Bellinzona spielt eine Stunde lang, wie die Arbeiter streikten. Sie spielen wunderbar offensiv und unerschrocken und wild entschlossen: Riesenchance! Pfostenschuss! Lattentreffer! Riesenchance! Trainer Vladimir Petkovic, der aussieht wie ein italienischer Weltmeistertrainer und hauptberuflich Caritas-Sozialarbeiter ist, hatte sein Team optimal eingestellt. Doch Basel - wo die SBB im Rahmen der Restrukturierung 249 Stellen streichen und nicht gestreikt wurde - hatte mit dem an diesem Tag überragenden Costanzo einfach den besseren Torwart. Dann doch der Ausgleich! Riesenjubel! Aber dann: Zu wild! Zu blauäugig! (Nett formuliert: Zu romantisch!) Drei Gegentore in drei Minuten! Ein enttäuschtes Raunen geht nach dem 1:4 durch die Werkstätte.
Doch nach den harten Kämpfen um die Lebensgrundlage (und dem wichtigen Sieg!) nimmt man diese sportliche Niederlage relativ gelassen. Am Montag beschliessen die Cargo-Arbeiter einstimmig, den Streik abzubrechen.
Fest für alle UnterstützerInnen der Officina: Samstag, 12. April, 17-22 Uhr, Piazza Collegiata, Bellinzona.
Kooperation mit der SNCF
Soll die defizitäre Güterbahn SBB Cargo mit der Berner BLS fusionieren oder sich von der Deutschen Bahn (DB) kaufen lassen? Weder noch, meint die WOZ und schrieb am 13. März 2008: «Näher läge in dieser Situation eine Partnerschaft von SBB Cargo mit der französischen Staatsbahn SNCF. Statt einer unheiligen Allianz von Schiene und Strasse oder einem neuen Bahnmonopol, bestehend aus der Deutschen Bahn und ihren Schweizer Juniorpartnern BLS und SBB, entstünde im alpenquerenden Verkehr ein ausgewogenes Duopol zwischen DB/BLS und SNCF/SBB.»
Drei Wochen nach der WOZ entdeckten auch andere Medien die SNCF als potenzielle Partnerin. Am 4. April schrieb der «Tages-Anzeiger»: «Oder aber SBB Cargo tut sich mit jenen zusammen, die wie sie im Alpenbogen beheimatet sind: also mit der französischen Staatsbahn SNCF und der RAC, der Gütergesellschaft der österreichischen Bahn ÖBB.» Interesse an einer engeren Partnerschaft zeigt die SNCF selber. Ihr Konzernchef, Guillaume Pepy, sagte in einem Interview, das die Zeitung «Figaro» am 7. April veröffentlichte: «Ich habe SBB Cargo, die im Herzen Europas ist, signalisiert, dass ich wünsche, dass unsere Kooperation sich intensiviert.»
Bleibt nur noch ein Problem - die WOZ fuhr am 13. März fort: «Um eine Partnerschaft mit der französischen SNCF zu verwirklichen, ist der frühere DB-Angestellte und heutige SBB-Chef kaum der richtige Mann.» Kommt Zeit, kommt Rat. Denn mittlerweile fragen sich immer mehr Leute, ob der gut verdienende und schwach agierende Andreas Meyer der richtige Mann im Führerstand der SBB ist.