Mindestlohn: 3500, 4000, 4500 Franken. Mindestens

Nr. 17 –

Die Gewerkschaften haben eine neue nationale Kampagne lanciert: «Faire Löhne für alle». Währenddessen tut sich auch in den Kantonen etwas. Verschiedene Initiativen für gesetzliche Mindestlöhne sind geplant.

«Keine Löhne unter 3500 Franken» - auch jene zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung, die trotz Arbeitsstelle als arm gelten, sollen von ihrem Gehalt leben können. Der Gewerkschaftsbund (SGB), die Gewerkschaft Unia und der linke Thinktank Denknetz wollen mit ihrer neuen Kampagne für faire Löhne an die Mindestlohnkampagne von 1998 anknüpfen. Vor zehn Jahren verlangten die Gewerkschaften noch «3000 Franken für alle». Mit medialem Erfolg: Die damalige Kampagne skandalisierte Löhne unter 3000 Franken derart, dass nicht nur einzelne Grossverteiler und das Gastgewerbe flugs ihre Löhne darüber hoben; bei einem Grossteil der Bevölkerung entstand der - falsche - Eindruck, die Schweiz habe einen gesetzlich verbindlichen Mindestlohn eingeführt.

Auch bei der zweiten Mindestlohnkampagne, die letzte Woche lanciert wurde, planen SGB und Unia keine Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Die vorgeschlagenen Mindestlöhne von 3500 Franken für Ungelernte und 4500 Franken für Ausgebildete sollen durch Gesamtarbeitsverträge (GAV) in den einzelnen Branchen durchgesetzt werden (vgl. unten). Ein gesetzlicher Mindestlohn, der etwa mit dem französischen Smic (Salaire minimum interprofessionel de croissance) vergleichbar wäre, wird momentan in der Schweiz noch nicht anvisiert.

«Die gesetzlichen Mindestlöhne sind in den meisten Ländern sehr tief angesetzt», begründet Andreas Rieger, Ko-Präsident der Gewerkschaft Unia. Zudem wäre er für alle gleich - damit würde die Tatsache vernachlässigt, dass das Lohnniveau genauso wie die Lebenskosten nicht überall in der Schweiz gleich hoch sind.

Rechnung statt Schätzung

In einzelnen Kantonen mobilisieren Linke und GewerkschafterInnen denn auch bereits für einen kantonalen Mindestlohn. Im letzten Herbst startete das Tessiner Movimento per il socialismo (MPS) seine kantonale Initiative «Per un salario minimo legale» - für einen gesetzlichen Mindestlohn von 4000 Franken. Die Unterschriften sind schon deponiert, die Sammlung sei blitzartig verlaufen, sagt Angelo Zanetti vom MPS und Tessiner Regionalsekretär der Gewerkschaft Kommunikation. Der Kanton Tessin habe auch besondere Bedürfnisse im ArbeiterInnenschutz: «Als Grenzregion ist das Tessin besonders von Lohndumping betroffen.» Die Initiative habe die Diskussion über Mindestlöhne angeheizt. «Das ist uns fast wichtiger als der Erfolg an der Urne», sagt Zanetti.

Die TessinerInnen möchten mindestens 4000 Franken Lohn, der SGB 500 Franken weniger. Und das, obwohl der Rest der Schweiz im Vergleich viel höhere Löhne als das Tessin hat. Warum? «Da müssen Sie den SGB fragen, nicht uns», sagt Zanetti. 4000 Franken seien das absolute Minimum, und er verstehe auch nicht, warum der SGB so tief staple. Eine Kritik, die auch gewerkschaftsintern zu hören ist. Die SGB-Forderung von 3500 Franken basiert allerdings auf einer Rechnung und nicht wie die Tessiner Zahl auf einer Schätzung: «Der Betrag entspricht 62 Prozent des Schweizer Medianlohnes, das heisst fünfzig Prozent verdienen mehr, die andere Hälfte weniger», sagt Véronique Polito, Unia-Sekretärin im Bereich Arbeitspolitik: «Und 3500 Franken sind ein realistisches Ziel.» Würde das flächen- und branchendeckend durchgesetzt, würden zehn Prozent der Arbeitenden in der Schweiz mehr verdienen als bisher.

Mit der Unterscheidung zwischen Löhnen für Gelernte und Ungelernte sei die nationale Kampagnenforderung ja gar nicht so weit von jener im Tessin entfernt, meint Polito. Der MPS zielt aber nicht nur auf einen höheren Mindestlohn, die TessinerInnen sind auch in der Durchsetzung radikaler. «Der SGB verhandelt lieber über die GAV. Ein gesetzlicher Mindestlohn, der auch vertragslose Branchen betreffen würde - immerhin mehr als die Hälfte der Stellen - steht zuletzt auf ihrer Forderungsliste. Ich glaube, das ist falsch. Gesetze sind dazu da, dass man sie benutzt», sagt Zanetti.

Nicht verfassungswidrig

Das denken auch einige WaadtländerInnen, vor allem seit sie wissen, dass das Gesetz Mindestlöhne erlaubt. Bisher habe es nämlich geheissen, kantonale Mindestlöhne seien verfassungswidrig, erklärt Jean Christophe Schwaab, Waadtländer SP-Kantonsrat und SGB-Sekretär. Mit einer parlamentarischen Initiative für kantonale Mindestlöhne im letzten Herbst sei dieser Zweifel aus dem Weg geräumt worden. Rechtsanwalt Jean-Michel Dolivo, Abgeordneter der SolidaritéS, hat den Text mitformuliert - der Kanton soll einen gesetzlichen allgemeingültigen Mindestlohn einführen, der «Arbeitenden würdige Lebensbedingungen garantiert». Ein genauer Betrag war im Initiativtext nicht aufgeführt, darüber sollte der Kantonsrat entscheiden.

Im Parlament wurde die Initiative von der bürgerlichen Mehrheit abgelehnt, und flugs machte die Linksbewegung À Gauche toute (POP, Solidarités und Alternative) gemeinsam mit Attac und den Gewerkschaften Comedia und Sud eine Volksinitiative mit exakt demselben Text. Die Unterschriftensammlung ist am 4. April angelaufen, bis Ende Juli müssen 12 000 Unterschriften zusammenkommen. Dolivo geht es dabei vor allem um eine Machtdemonstration.

Die Waadtländer SP hat sich dem Komitee nicht angeschlossen. Für deren Grossrat Schwaab ist die Volksinitiative ein Schnellschuss: «Die Lancierung ist zu kurzfristig und nicht breit abgestützt, uns wäre lieber gewesen, man hätte sich die Zeit genommen, mehr Leute einzubeziehen.» Denn wenn die Initiative bachab gehe, sei das eine Stärkung der UnternehmerInnen. Dolivo sieht das anders: «Wenn es klappt, werden damit die Machtverhältnisse im bürgerlichen Kanton grundsätzlich verschoben.» Wenn nicht, dann müsse man es halt noch einmal versuchen.

Auch Genf und Neuenburg

Versuchen will es À Gauche toute auch in den Kantonen Genf und Neuenburg. «Wir haben nur noch nicht beschlossen, ob vor oder nach der Sommerpause - aber dass die Volksinitiative kommt, ist bereits klar», sagt Marie-Eve Tejedor, politische Sekretärin von Solidarités im Kanton. Und genauso wie in der Waadt wollen sie sich nicht lange mit der gesamten Linken auf einen Text einigen. Der Impuls aus den Kantonen soll zu einem nationalen Mindestlohn führen, hofft Tejedor. In Neuenburg hat die Solidarités-Kantonsrätin Marianne Ebel Ende Januar eine Verfassungsinitiative lanciert. Sie verlangt, dass der Staat unter Berücksichtigung der GAV einen gesetzlichen kantonalen Mindestlohn festlege.

So weit wäre man im Jura eigentlich schon lange: Hier ist der Mindestlohn seit der Gründung des Kantons 1977 in der Verfassung verankert: «Jeder Arbeiter hat das Recht auf einen Lohn, der ihm einen würdigen Lebensstandard garantiert», heisst es unter Artikel 19. Das bedeutet aber nicht viel, solange die gesetzliche Handhabe zur Durchsetzung fehlt. Diese sei nun auch in Vorbereitung - ähnlich wie in der Waadt - heisst es bei den jurassischen GewerkschafterInnen.

«Wir unterstützen die kantonalen Initiativen», sagt Unia-Sekretärin Véronique Polito, «solange der anvisierte Mindestlohn die 3500 Franken nicht unterschreitet.» Denn genau dies sei der Grund, weswegen die Gewerkschaften im Moment noch darauf verzichteten. Gesetzlich sei diese Vorstellungen auf nationaler Ebene einfach noch nicht durchsetzbar. In den einzelnen Kantonen hingegen könnte das leichter erreichbar sein. Das findet auch der Tessiner Angelo Zanetti, und zwar aus einem einfachen Grund: Der MPS-Slogan für die - abgelehnte - Tessiner Steuerinitiative von 2005 passe doch auch zu den Mindestlöhnen ganz gut: «I soldi ci sono - das Geld ist vorhanden.»

«Faire Löhne für alle»

Die 1998 lancierte Mindestlohnkampagne sei eine Erfolgsgeschichte gewesen, meinen die Gewerkschaften: Im wichtigsten Schweizer GAV - dem des Gastgewerbes - seien damit die Mindestlöhne um vierzig Prozent erhöht worden. Gleiches gelte für die Verträge mit den zwei grössten Detaillisten Migros und Coop. Der Anteil der Beschäftigten mit einem Lohn unter 3000 Franken habe von 8,9 auf 3,7 Prozent verringert werden können. Allerdings sei noch lange nicht Feierabend: Vor allem teilzeitbeschäftigte Frauen würden immer noch für Hungerlöhne arbeiten. Die letzte Woche lancierte Kampagne verlangt einen Mindestlohn von 3500 für Ungelernte, 4500 Franken für Gelernte und Erfahrene oder 20 Franken pro Stunde plus Ferien. Der SGB möchte sein Ziel vor allem über Gesamtarbeitsverträge erreichen. Wo das nicht möglich ist, sollen die Behörden allgemein verbindliche Normalarbeitsverträge durchsetzen.