Das Beispiel Neuenburg: Und von der Westschweiz aus ins ganze Land

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Seit 2017 kennt mit Neuenburg der erste Schweizer Kanton einen gesetzlichen Mindestlohn. Die Erfahrungen sind durchwegs positiv – der Kampf um faire Löhne ist allerdings noch lange nicht zu Ende.

Im schweizweiten Vergleich ist Neuenburg relativ arm. Die Wirtschaft der Grenzregion ist industriell geprägt, und jedes Jahr erhält der Westschweizer Kanton Millionen aus dem interkantonalen Finanzausgleich. Lange Zeit hatte Neuenburg die landesweit höchste Arbeitslosenquote und die höchste Dichte an SozialhilfeempfängerInnen.

Als Marianne Ebel und ihre Partei, die linke SolidaritéS, im Jahr 2008 die Situation der in Armut lebenden Menschen analysierten, stellten sie fest: «Viele der Personen, die Sozialhilfeleistungen erhielten, hatten zwar einen Job, verdienten damit aber nicht genug, um zu überleben.» Davon waren im Kanton Neuenburg überdurchschnittlich viele Frauen betroffen.

Mit dem Ziel, die Situation der sogenannten Working Poor zu verbessern, beantragte Ebel die Aufnahme eines Mindestlohns in die Neuenburger Kantonsverfassung. Um nicht mit der bundesrechtlich garantierten Wirtschaftsfreiheit in Konflikt zu geraten, musste die Lohngrenze allerdings so festgelegt werden, dass sie klar als sozial- und nicht als wirtschaftspolitische Massnahme galt. «Wir orientierten uns daher an der Sozialhilfe und wählten einen Betrag, der nur leicht darüber lag», erinnert sich Ebel. Konkret bedeutete das: zwanzig Franken pro Stunde.

Sechs lange Jahre

«Das war ein historischer Moment», sagt die heute 72-Jährige über den 27. November 2011, an dem die Mehrheit der Neuenburger Stimmbevölkerung Ja zur Einführung eines kantonalen Mindestlohns sagte. Eine Sensation in der bürgerlichen Schweiz, wo bis zu diesem Zeitpunkt alle ähnlichen Vorhaben gescheitert waren. Der Abstimmung vorausgegangen war ein parlamentarischer Vorstoss der damaligen Grossrätin Ebel. Nach dem denkwürdigen Abstimmungstag sollte es noch sechs weitere Jahre dauern, bis die Regelung tatsächlich in Kraft trat.

Obwohl der Gesetzesentwurf von Bürgerlichen mitausgearbeitet wurde und die zwanzig Franken für Schweizer Konsumpreise tief bemessen sind, legten Arbeitgeberverbände beim Bundesgericht Beschwerde ein. In seinem Urteil kam das Gericht im Juli 2017 zum Schluss, es handle sich beim Mindestlohn gerade aufgrund der tiefen Bemessung um eine sozialpolitische Massnahme, die ein «würdiges Leben» ermöglichen solle und weder die Wirtschaftsfreiheit noch das Arbeitsrecht verletze.

Wenige Monate nach der Verkündung des Urteils trat das revidierte Gesetz in Kraft. Seither gilt der Mindestlohn für alle Beschäftigten – eine Ausnahmeregelung ist lediglich für die Landwirtschaft vorgesehen. BranchenvertreterInnen argumentierten, dass in diesem Sektor üblicherweise ein Teil des Lohns in Naturalien ausbezahlt werde, was einen tieferen Mindestlohn von siebzehn Franken rechtfertige.

Jetzt verdienen alle mehr

Wie hat sich die Einführung der Lohnuntergrenze seither auf den Neuenburger Arbeitsmarkt ausgewirkt? Unia-Regionalleiterin Silvia Locatelli hebt hervor, was nicht passiert ist: «Die Behauptung, dass der Mindestlohn der Wirtschaft schaden würde, wie von Arbeitgebern und der Rechten im Vorfeld geäussert, hat sich überhaupt nicht bewahrheitet.»

Tatsächlich lässt sich eine gegenteilige Tendenz beobachten: Zu diesem Schluss kommt etwa eine ausführliche Studie der Universität Neuenburg zur Gastronomie – einer klassischen Tieflohnbranche, die von der Gesetzesrevision besonders betroffen war. Vor Einführung des Mindestlohns verdienten knapp zwanzig Prozent der Angestellten in Neuenburger Restaurants weniger als zwanzig Franken pro Stunde. In der Studie wurden Arbeitsverhältnisse, Löhne und Preise in über hundert Restaurants vor und nach der Einführung des Mindestlohns verglichen. Eine deutliche Preissteigerung konnte im beobachteten Zeitraum nicht festgestellt werden.

Stattdessen kommt die Studie zum Schluss, dass die Zahl von TieflöhnerInnen etwa im gleichen Umfang zurückging, wie die Anzahl der Personen stieg, die knapp mehr als den Mindestlohn verdienen – dass also Firmen, anders als von rechts behauptet, nicht mit Entlassungen auf die erhöhten Lohnkosten reagierten. Auch Personen, die bereits knapp mehr als den Mindestlohn verdienten, erhielten Gehaltserhöhungen, das Lohnniveau stieg also insgesamt. Laut Silvia Locatelli sind das Beobachtungen, die auch in anderen Bereichen gemacht werden konnten. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit im ganzen Kanton seit der Einführung des Mindestlohns markant gesunken: von 5,6 Prozent 2017 auf 3,5 Prozent 2019. Auch die Zahl der SozialhilfebezügerInnen hat im gleichen Zeitraum abgenommen.

National (noch) chancenlos

Trotz der positiven Erfahrungen sieht Gewerkschafterin Locatelli noch Nachholbedarf, denn der Mindestlohn sei auf einem sehr tiefen Niveau. Für sie ist klar, dass es eine Regelung auf nationaler Ebene brauche, «wenn wir weiterkommen wollen». Gerade dort hatte das Begehren für einen Mindestlohn bisher aber keine Chance. 2014 schmetterte die Stimmbevölkerung eine Initiative von SP und Gewerkschaften für einen Mindestlohn von 22 Franken mit einer überwältigenden Mehrheit von 76,3 Prozent ab. Sogar in Neuenburg überwogen die Neinstimmen, obwohl die Bevölkerung drei Jahre zuvor dem kantonalen Mindestlohn zugestimmt hatte.

Locatelli kann sich dieses Ergebnis nicht so recht erklären. Neuenburg sei ein progressiver Kanton, aber auch hier bräuchten Veränderungen ihre Zeit: «Schritt für Schritt.» Mindestens ein erster Schritt ist gemacht, denn das Neuenburger Modell hat eine schweizweite Erfolgswelle ausgelöst.

Ein «unhaltbarer» Angriff

Zwei Jahre nach der Abstimmung in Neuenburg entschied sich auch der Nachbarkanton Jura für einen Mindestlohn. Nach einer zweijährigen Anpassungsfrist sind Firmen seit Februar 2020 verpflichtet, mindestens zwanzig Franken Lohn pro Stunde zu bezahlen – allerdings mit einer Reihe von Ausnahmen, etwa bei Branchen, in denen ein GAV ausgehandelt wurde. Auch im Tessin sprach sich die Stimmbevölkerung für die Einführung eines kantonalen Mindestlohns aus, der seit Anfang Jahr schrittweise eingeführt wird. Im vergangenen September wurde im Kanton Genf die Einführung des bisher höchsten Mindestlohns von 23 Franken an der Urne angenommen, und mit Basel-Stadt steht voraussichtlich im Juni erstmals eine Abstimmung in einem Deutschschweizer Kanton an.

Die Erfolge haben die GegnerInnenschaft auf den Plan gerufen: Seit der Niederlage am Bundesgericht versuchen bürgerliche PolitikerInnen, den Mindestlohn in den Kantonen auf Bundesebene zu bodigen. Im Dezember wurde in beiden Räten eine Motion mit dem Titel «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen schützen» eingereicht, mit der erreicht werden soll, dass Gesamtarbeitsverträge über kantonalen Regelungen stehen. Denn, so behaupten die MotionärInnen in der Begründung: Die Einführung des allgemeinen Mindestlohns im Kanton Neuenburg sei eine «schwere Belastungsprobe für die bewährte Sozialpartnerschaft in der Schweiz».

Für Gewerkschafterin Locatelli ist der erneute Angriff auf das erfolgreiche Neuenburger Modell «unhaltbar». Fest steht: Im Kampf um faire Löhne ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.