20 Jahre Unia: «Niemand soll weniger als 4500 Franken verdienen»

Nr. 28 –

Die grösste Gewerkschaft der Schweiz feiert ein Jubiläum und sich selbst. Präsidentin Vania Alleva über Spannungen mit anderen Gewerkschaften, die Bilateralen III und den Mitgliederschwund.

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Vania Alleva mit Unia-Fahne vor dem Unia-Sitz in Bern
«Die zunehmende Individualisierung macht es schwieriger, die Leute zu organisieren»: Vania Alleva vor dem Unia-Sitz in Bern.

WOZ: Vania Alleva, von Aufbruchstimmung kann in der Linken derzeit keine Rede sein. Die Unia hat aber gerade ein Buch zu ihrem zwanzigjährigen Bestehen veröffentlicht und lobt ihre eigene Erfolgsgeschichte. Wie begründen Sie diese?

Vania Alleva: Wir haben viele der Ziele, die wir uns bei der Gründung gesetzt haben, erreicht. Die Unia ist heute eine interprofessionelle Gewerkschaft und kann so der Mobilität auf dem Arbeitsmarkt Rechnung tragen. Wir sind nahe bei den Leuten, sind in der Fläche präsent, haben achtzig Sekretariate in der ganzen Schweiz. Wir sind im Dienstleistungssektor – vor zwanzig Jahren noch eine Gewerkschaftswüste – erheblich gewachsen. Wir sind weiblicher geworden. Und schliesslich sind wir heute referendums- und initiativfähig. Das waren unsere Vorgängergewerkschaften nicht. Also ja: Unsere Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte. Aber wir sind deswegen nicht betriebsblind. Uns ist bewusst, dass wir, gerade im Dienstleistungssektor, immer noch einen höheren Organisationsgrad brauchen.

WOZ: Die Unia kämpft mit Mitgliederschwund. Heute zählt sie rund 170 000 Mitglieder, in den nuller Jahren waren es noch 200 000.

Vania Alleva: 2023 hatten wir es geschafft, die Zahl zu stabilisieren. Doch im letzten Jahr verloren wir wieder 1,6 Prozent unserer Mitglieder, obwohl es gewerkschaftspolitisch eigentlich ein sehr erfolgreiches war. Das ist schmerzhaft.

WOZ: Was sind die Gründe?

Vania Alleva: Einerseits der Strukturwandel. Die Beschäftigtenzahl in den historischen Bereichen des zweiten Sektors – Bau, Gewerbe, Industrie – geht zurück, gleichzeitig wachsen wir in den Dienstleistungsberufen weniger schnell, als wir in den anderen Sektoren verlieren. Andererseits verlieren wir Mitglieder, die nach Erreichen des Rentenalters in ihr Herkunftsland zurückziehen. Das bedeutet auch: Wir haben recht wenige Rentner:innen, rund zehn Prozent. Das Gros unserer Mitglieder ist aktiv im Berufsleben. Aber klar, es gibt diese strukturellen Umwälzungen, es gibt auch gesellschaftliche Veränderungen. Die zunehmende Individualisierung macht es schwieriger, die Leute zu organisieren.

WOZ: Gilt das besonders für Junge?

Vania Alleva: Nicht unbedingt. Wir haben viele Mitglieder in den Dreissigern, insbesondere im Dienstleistungsbereich und im Gewerbe. Leute, die auf dem Bau arbeiten, sind eher älter – bei uns, aber auch in der Branche selbst. Für den Bau wird der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren eine grosse Herausforderung, wenn sich die Arbeitgeber nicht bewegen. Rund die Hälfte der Jungen, die eine Maurerlehre abgeschlossen haben, verlassen die Branche. Das ist ein ähnliches Problem wie in der Pflege.

WOZ: Wie steht es um die Zusammenarbeit mit anderen Gewerkschaften? Im Gewerkschaftsbund treten Sie geeint auf, in einzelnen Branchen scheint es aber Spannungen rund um Zuständigkeitsfragen zu geben. Eben etwa in der Pflege.

Vania Alleva: Mir ist es wichtig, dass wir uns nicht bekämpfen. Ich bin überzeugt, dass wir mit einer Allianzlogik und gemeinsamen Kampagnen und Projekten besser vorankämen. Zum Beispiel mit dem VPOD im Pflegebereich.

WOZ: Derzeit gibt es das nicht?

Vania Alleva: Nur punktuell. Wir führen aber entsprechende Gespräche. Der Bereich ist ja riesig. Wir sind aktiv in der privaten Langzeitpflege, der VPOD organisiert das öffentliche Gesundheitswesen. Diese Kräfte zu bündeln, wäre sinnvoll. Die Reibereien, die es da zum Teil gegeben hat, bringen niemandem etwas.

WOZ: Ein anderes Beispiel ist die Plattformwirtschaft, wo es immer wieder zu Reibereien mit der Syndicom kommt.

Vania Alleva: Die Grenzen zwischen den Branchen sind heute nun einmal fliessend. So greifen zum Beispiel Gastronomie, Lieferservices, Detailhandel und Foodlogistik immer enger ineinander. Man kann sie nicht so klar wie früher aufteilen, so funktioniert der Arbeitsmarkt nicht mehr. Die Gewerkschaften dürfen nicht in eine bürokratische Gärtchenlogik zurückfallen. Unsere Aufgabe ist es, die Perspektive der Arbeitnehmenden einzunehmen und ihre Interessen kooperativ zu vertreten.

WOZ: Hat sich der Fokus der Gewerkschaften auch aufgrund dieser strukturellen Veränderungen vermehrt hin zur institutionellen Politik verschoben?

Vania Alleva: Nein, unser Fokus hat sich nicht verschoben. Die Arbeit in den Betrieben und in den Branchen bleibt zentral. Die politische Arbeit kann sie nicht ersetzen, aber wir müssen auch dort handlungsfähig sein. So mussten wir in den letzten zwanzig Jahren zum Beispiel immer wieder Referenden gegen die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten ergreifen. Insgesamt waren es gegen dreissig. Drei Viertel davon haben wir gewonnen. Im letzten Jahr mussten wir uns in drei wichtigen Abstimmungen zur Altersvorsorge bewähren. Da konnten wir uns nicht raushalten. Aber klar: So viele Abstimmungskämpfe zu führen, ist eine grosse Herausforderung. Dieses Jahr konnten wir unseren Fokus bisher voll auf die Branchenarbeit legen. Das heisst aber nicht, dass wir die politische Situation aus den Augen verlieren dürfen. Im Parlament werden laufend Angriffe auf die Arbeitsrechte diskutiert. Wo nötig, werden wir dagegen das Referendum ergreifen müssen.

WOZ: Der Nationalrat hat sich erst vor wenigen Wochen für die Übersteuerung kantonaler Mindestlöhne ausgesprochen. Was für Folgen hat das für Ihre Mindestlohnkampagne?

Vania Alleva: Wir werden das vehement bekämpfen und sind überzeugt, dass wir gewinnen werden. Die kantonalen Mindestlöhne sind soziale Mindestlöhne – ein Sicherheitsnetz, das dort greift, wo es Gesamtarbeitsverträge nicht tun. Wir werden auch weiterhin zweigleisig fahren, uns für bessere Gesamtarbeitsverträge (GAVs) wie auch für gesetzliche Mindestlöhne einsetzen. Das Ziel ist klar: Niemand soll weniger als 4500 Franken verdienen.

WOZ: Spricht die Tatsache, dass Sie sich so intensiv um gesetzliche Mindestlöhne bemühen, nicht vor allem dafür, dass Sie in wichtigen Branchen keinen ausreichenden Organisationsgrad erzielt haben? Sonst wäre es ja möglich, in Arbeitskämpfen bessere Löhne auszuhandeln.

Vania Alleva: Das Problem ist, dass nur die Hälfte der Beschäftigten von einem GAV geschützt sind, die anderen nicht. Ein GAV für den Detailhandel war zum Beispiel eines der Ziele, die wir uns bei der Unia-Gründung gesetzt haben, das wir aber nicht erreicht haben.

WOZ: Wieso nicht?

Vania Alleva: Der schwache Organisationsgrad ist sicher eine Schwierigkeit. Vor allem aber scheitern wir daran, dass die Arbeitgeber nicht organisiert sind. Es gibt kein Gegenüber, mit dem man verhandeln könnte. Ein grosser Erfolg war der neue GAV für Tankstellenshops. Auch in den Verhandlungen mit Coop gelingt es uns, Schritt für Schritt Verbesserungen zu erzielen. Die Migros hingegen ist gewerkschaftsfeindlich – und bietet, etwa im Onlinebereich, extrem schlechte Arbeitsbedingungen. Unsere Strategie müssen wir auf die jeweiligen Kräfteverhältnisse abstimmen: Wo möglich, erkämpfen wir GAVs und mit ihnen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Für die Bereiche, wo das nicht möglich ist, braucht es die gesetzlichen Mindestlöhne. Und schliesslich gibt es Ausnahmefälle. Im Gastgewerbe etwa gibt es zwar einen GAV. Der dort festgehaltene Mindestlohn liegt aber unter dem Mindestlohn, den Genf verabschiedet hat.

WOZ: Und wieso haben Sie den GAV dennoch unterzeichnet?

Vania Alleva: Weil er trotzdem einen wichtigen Schutz bietet. Wir hatten in den Verhandlungen mehrmals gefordert, dass in Genf und Zürich höhere Mindestlöhne als andernorts gelten sollen. Wir konnten uns damit nicht durchsetzen. Trotzdem sind GAVs in derart prekären Branchen enorm wichtig. Letztlich beweist das alles vor allem, wie wichtig es ist, die GAVs mit übergeordneten gesetzlichen Mindestlöhnen zu ergänzen und zu stützen. Das eine schliesst das andere nicht aus.

WOZ: Zurück nach Bern: Die Sozialpartner und der Bundesrat haben sich kürzlich auf flankierende Massnahmen geeinigt. Diese sollen dereinst die Folgen der Bilateralen III abfedern. Jetzt muss das Parlament darüber befinden. Was erwarten Sie von der Debatte?

Vania Alleva: Für uns ist klar, dass die Massnahmen, die wir ausgehandelt haben, das Minimum dessen sind, was es braucht, um den Bilateralen zustimmen zu können. In über siebzig Sitzungen haben wir an diesem Paket gefeilt. Wir glauben, dass damit das bestehende Niveau des Lohnschutzes in der Schweiz knapp gehalten werden kann. Sollte das Parlament nun einzelne dieser Massnahmen rausstreichen, sind die Löhne gefährdet. Das wäre für uns nicht akzeptabel.

WOZ: Besonders umstritten ist die Stärkung des Kündigungsschutzes. Worum geht es da?

Vania Alleva: Insgesamt besteht das Paket aus vierzehn Massnahmen. Auf dreizehn davon haben wir uns mit den Arbeitgebern geeinigt. Die von uns geforderte Verbesserung beim Kündigungsschutz hat der Bundesrat eingebracht. Es geht dabei um den Schutz aktiver Gewerkschafter:innen und Personalvertreter:innen. Der ist derzeit unzureichend; die Internationale Arbeitsorganisation hat die Schweiz dafür schon mehrmals gerügt. Nun hat der Bundesrat einen Schritt auf uns zu gemacht. Ob auch die Arbeitgeber diese Verbesserung mittragen werden, ist derzeit noch unklar. Aus unserer Sicht ist sie Teil des Pakets.

WOZ: Und erwarten Sie wirklich, dass das alles durchs Parlament kommt?

Vania Alleva: Ja klar. Ausser die FDP entscheidet sich dafür, im Schlepptau der SVP die Bilateralen III zu begraben. Aber das wäre ja Wahnsinn. Wie könnte sie sich noch «Wirtschaftspartei» nennen, wenn sie geregelte Beziehungen mit dem wichtigsten Wirtschaftspartner der Schweiz aufs Spiel setzt? Ich erwarte deshalb, dass sie den Kompromiss mittragen wird.

WOZ: Sie selbst feiern dieses Jahr auch eine Art Jubiläum. Sie sind seit zehn Jahren alleinige Präsidentin der Unia. Worauf sind Sie besonders stolz?

Vania Alleva: Darauf, dass die Unia eine so vielfältige und demokratische Organisation ist, die mit starken aktiven Mitgliedern vor Ort den Arbeitnehmenden eine starke Stimme in den Betrieben und in der Arbeitswelt gibt. Das ist nicht mein persönlicher Erfolg, aber es macht mich sehr stolz.

WOZ: Das ist eine arg diplomatische Antwort.

Vania Alleva: Aber so ist es wirklich! Es gibt keine andere Organisation in der Schweiz, die so viele Leute verschiedener Herkunft und aus verschiedenen Branchen gemeinsam organisiert.

Vania Alleva (55) ist seit 2015 alleinige Präsidentin der Unia, nachdem sie zuvor drei Jahre als Kopräsidentin amtete. Vor dem Zusammenschluss der vier Vorgängergewerkschaften zur neuen Unia arbeitete die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin für die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI).