Nestlé in Russland: Bonbons, Blut und Pralinen

Nr. 18 –

Seit fünf Monaten fordern Beschäftigte eines Nestlé-Werks im Ural anständige Löhne - ihnen galoppieren die Preise davon. Doch davon will der Konzern nichts wissen: Über Löhne verhandelt man nicht.

Vor der Verwaltung des Nestlé-Konzerns in der Moskauer Innenstadt läuft eine zwei Meter grosse Ratte mit blauem Plüschfell. Das Tier hält ein grünes Nestlé-Emblem, auf dem nur ein Wort steht: «Schamlos». Mit der Ratte protestieren Nestlé-Beschäftigte, die aus dem Zweigwerk in Perm am Ural angereist sind, gegen die Weigerung der Werksleitung, über eine Lohnerhöhung zu verhandeln. Auf ihren Schildern stehen Sätze wie: «Wir geben dem Land Kitkat, bekommen aber keinen anständigen Lohn.»

Der Streit im fernen Perm hat mittlerweile auch die Moskauer Medien erreicht. Sie berichten immer wieder über die vielen Aktionen der Belegschaft und auch über den Protest des Internationalen Gewerkschaftsdachverbands IUL. Doch die Werksleitung bleibt hart. Man verhandle nicht über Löhne, sagt Nestlé-Geschäftsleiter Martin Ruepp in Perm.

Ausländische KorrespondentInnen kommen selten nach Perm. Die Ural-Stadt liegt drei Flugstunden von Moskau entfernt. Dort, so mag sich Nestlé gedacht haben, schaut niemand genau hin. Doch dann traten immer mehr der rund tausend Beschäftigten der Gewerkschaft bei. Denn von den Löhnen, die Nestlé in Perm zahlt, kann man - so die Betriebsrätin Larisa Selivanova - kaum leben.

Hohe Inflation

Das Grundgehalt der ArbeiterInnen im Permer Werk, das Schokoriegel, Bonbons und Pralinen herstellt, liegt derzeit bei umgerechnet rund 260 Franken im Monat. Mit Prämien wie Überstundenzuschläge kommt eine Arbeiterin - bei Nestlé in Perm arbeiten vor allem Frauen - auf maximal 560 Franken. Die Werksleitung macht eine andere Rechnung auf. Laut ihren Angaben beträgt der Durchschnittslohn rund 740 Franken. Dabei sind allerdings die hohen Gehälter der leitenden Angestellten mit einberechnet. Die Nestlé-Löhne lägen «über dem branchenüblichen Durchschnittslohn in der Stadt», sagt Unternehmenssprecherin Marina Zibarewa.

In den letzten zwölf Monaten hat Nestlé die Löhne zwar dreimal erhöht, doch die Steigerungen reichten bei weitem nicht aus, um die hohe Inflationsrate in der Region auszugleichen. Sie liegt offiziell bei 16,5 Prozent, tatsächlich aber weitaus höher. Eine Reallohnerhöhung, sagt Selivanova, habe es seit Jahren nicht mehr gegeben. Viele Arbeiterinnen müssten Blut spenden, um über die Runden zu kommen. Fleisch komme zu Hause fast gar nicht mehr auf den Tisch.

Es geht nicht nur um Lohn

Deshalb forderte die Gewerkschaft im Dezember eine Lohnerhöhung von vierzig Prozent. Die Betriebsleitung stellte darauf alle Gespräche mit der Gewerkschaft ein. Doch auch als diese ihre Forderung auf 21,5 Prozent reduzierte, kehrte die Unternehmensleitung nicht an den Verhandlungstisch zurück, erhöhte aber am 1. Januar die Löhne um 15 Prozent. Jetzt fordert die Gewerkschaft einen Nachschlag von 6,5 Prozent - dafür demonstrierten die Beschäftigten in Perm und in Moskau.

Doch es geht um mehr als nur ein paar Prozente. Nestlé verfolge eine «gewerkschaftsfeindliche Politik», sagt die ehemalige Englischlehrerin Selivanova, die sich im Wirtschaftschaos der neunziger Jahren als Markthändlerin durchschlug und vor sieben Jahren bei Nestlé als Bandarbeiterin begann. Jetzt ist sie freigestellte Gewerkschaftssekretärin. Die Geschäftsleitung hielt anfangs grosse Stücke auf sie - bis sie die Gewerkschaftsarbeit intensivierte und die Mitgliederzahl verdoppelte. «Sie dachten, dass ich mich unterordne.»

Am 11. April erklärte das Unternehmen, man werde an den Verhandlungstisch zurückkehren, und unterbreitete ein Angebot: 1,5 Prozent mehr Lohn, alles andere sei «wirtschaftlich nicht begründet». Daraufhin setzte die Gewerkschaft die Protestaktionen für vier Tage aus. Doch schon Tage später gab es wieder Streit. Nachdem die Betriebsgewerkschaft eine Belegschaftsversammlung angekündigt hatte, erklärte die Werksleitung überraschend, ein Grossteil der Beschäftigten sei unabkömmlich und müsse am Arbeitsplatz bleiben. Statt der erwarteten 200 TeilnehmerInnen kamen nur 50.

Mit harten Bandagen

Die Gewerkschaft sei starkem Druck ausgesetzt, sagt Selivanova. Bei einer Umfrage im Betrieb liess die Firmenleitung die politische Meinung und die Haltung der Beschäftigten zu den Protesten ermitteln. Das sei nur auf Anordnung der Gebietsverwaltung geschehen, argumentiert die Direktion - und sperrte Selivanovas Intranetzugang, weil sie darüber zu einer Kundgebung in der Stadt mobilisiert hatte. Die Gewerkschafterin würde das Unternehmen «verleumden», begründet Unternehmenssprecherin Marina Zibareva die Massnahme. Der Schweizer Werksleiter Ruepp versuche die Belegschaft einzuschüchtern, indem er mit Betriebsschliessung drohe, sagt Selivanova. «Das stimmt nicht», entgegnet die Unternehmenssprecherin.

Der 35-jährige Ruepp, der zuvor im englischen York ein Nestlé-Werk geführt hatte - und dabei mit seinem harten Kurs gegen die Gewerkschaft gescheitert sei, wie man sich in Perm erzählt - , lehnt auch die von der Gewerkschaft geforderte automatische Lohnanpassung ab. Das Unternehmen werde die Löhne wie bisher nach eigenem Ermessen festlegen.

Auf einer Pressekonferenz in Moskau fuhr der Vorsitzende des russischen Gewerkschaftsdachverbandes FNPR, Michail Schmakow, schweres Geschütz auf. Für einen «arbeiterfeindlichen» Konzern wie Nestlé gebe es keinen Platz in Russland. Während Nestlé die Dividenden erhöhe, gingen die ArbeiterInnen in Russland leer aus. Schmakow kündigte eine Klage bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris an und erklärte, notfalls werde man auch streiken. Nestlé hat in Russland dreizehn Fabriken mit insgesamt 10 000 Beschäftigten. Aber nur in vier Fabriken gibt es eine gewerkschaftliche Interessenvertretung.

Am Dienstag letzter Woche kam es in Moskau erneut zu einer Solidaritätskundgebung: Ein Dutzend ArbeiterInnen der Moskauer Tabakfabrik Liggett Dukat demonstrierte vor der Nestlé-Zentrale. Und selbst im fernen Kalifornien solidarisierten sich Nestlé-Beschäftigte mit den KollegInnen in Perm.