Arbeitskampf bei Toblerone: Schluss mit Swissness
In der Berner Toblerone-Fabrik stellen sich die Arbeiter:innen quer. Selbst das Undenkbare wird denkbar: ein Streik. Die Geschichte einer Ermächtigung.
Am 1. Mai wird der Betriebselektriker Urs Brunner auf dem Bundesplatz stehen. Nicht im Publikum, sondern oben auf der Bühne, wo er eine Rede halten soll. Es wird eine Rede aus ungewohnter Perspektive geben: kein Politiker, keine Funktionärin, die den Tag der Arbeit erklärt – sondern ein Arbeiter, der für sich selbst und seine Kolleg:innen spricht.
Brunner hat ein bisschen Bammel vor seinem Auftritt, sagt er. Aber gemessen an dem, was schon hinter ihm liegt, und dem, was vermutlich noch kommt, ist es nur eine Kleinigkeit.
Die Bosse sitzen in Chicago
Urs Brunner ist das Gesicht des Widerstands in der Berner Toblerone-Fabrik. Dort kämpft die Belegschaft seit gut sechs Wochen für mehr Lohn. Sie verlangt einen generellen Aufschlag von 6 Prozent, womit die Teuerung und der Anstieg der Krankenkassenprämien abgedeckt wären und zusätzlich eine kleine Lohnerhöhung für die gestiegene Belastung im Betrieb herausschauen würde. Der Stand nach vier Verhandlungsrunden: 1,8 Prozent, aber nicht für alle, sondern auf individueller Basis. Das würde noch nicht einmal den Kaufkraftverlust aufwiegen. Dennoch hat die Geschäftsleitung die Gespräche für beendet erklärt. «Wir sind trotz intensiver Bemühungen leider nicht zu einem gemeinsamen Abschluss gekommen», schreibt eine Sprecherin des Konzerns. Vorbei ist der Streit damit aber noch lange nicht. Die Stimmung im Betrieb: «Anhaltend kämpferisch», versichert Brunner.
Urs Brunner ist Mitglied der Personalkommission und war als solches an allen Verhandlungen dabei. Seit 21 Jahren arbeitet er im Betrieb, aber das, was jetzt passiere, habe er noch nie erlebt, sagt er. Tatsächlich geschieht Unerhörtes im Berner Aussenquartier Brünnen, in der Produktionsstätte der weltberühmten Schokolade. Das wird schon an der Konstellation des Konflikts deutlich. Auf der einen Seite die Leute in der Toblerone-Fabrik, 220 Angestellte, davon rund 180 Arbeiter:innen, die am Band stehen, die Lastwagen beladen oder Maschinen reparieren. Auf der anderen Seite einer der grössten Lebensmittelhersteller der Welt: Mondelez mit Hauptsitz in Chicago, mit 80 000 Angestellten, Dutzenden weltbekannten Marken, mit einem Reingewinn von 2,7 Milliarden US-Dollar im letzten Jahr und Dividendenauszahlungen und Aktienrückkäufen in Höhe von 4 Milliarden.
«Endlich kämpft jemand!»
Es ist eine Konstellation, die das Leben des Gewerkschafters Johannes Supe nicht einfacher macht, denn Multis sind schwierig zu packen. Der Unia-Mann ist für die Lebensmittelbranche zuständig und seit Beginn des Lohnstreits oft in Bern-Brünnen. «Es ist ein bisschen wie bei Hase und Igel. Egal wen du gerade brauchst – nie ist diejenige Person da, die zuständig ist», sagt er. Er höre oft vom Management, man würde ja gerne die Forderungen erfüllen, aber die Ebene darüber wolle nicht. «Das erzeugt ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit», beklagt Supe. Doch die Arbeiter:innen haben sich davon bislang nicht vereinnahmen lassen. Das liege auch an Mondelez’ generell schlechtem Umgang mit den Angestellten. «Es hat sich hier einiges aufgestaut», sagt Supe.
So entliess der Konzern mehrere Mitarbeiter, die kurz vor der Pension standen und zudem gesundheitlich angeschlagen waren. Ausserdem führte das Unternehmen ein sogenanntes Absenzenmanagement ein: Wer länger krank ist, muss darlegen, wie er oder sie schnell wieder fit zu werden gedenke. Mittlerweile habe es Änderungen im Kader gegeben, und die Situation habe sich gebessert, sagt Supe, doch vergessen seien die Kündigungen nicht.
Dann wurde die Belegschaft letzten August in ein Vierschichtsystem gezwungen. Toblerone ist gefragt, produziert wird sie deshalb seit Sommer rund um die Uhr. Für diejenigen, die Schicht arbeiten, heisst das, nur eines von vier Wochenenden ist frei. Sieben Arbeitstage am Stück sind keine Seltenheit. Elektriker Urs Brunner, der bis vor kurzem selber im Schichtbetrieb arbeitete, sagt: «Es macht die Leute müde, es macht sie krank. Es führt zu Fehlern.» Ein Sozialleben sei nicht mehr möglich, die Familie leide darunter.
Doch der Weckruf war die Lohnverhandlung im vergangenen Jahr. Nach jahrelangem Stillstand liess sich die Geschäftsleitung auf eine minimale allgemeine Aufbesserung ein. «Das hat etwas ausgelöst», sagt Brunner. Die Personalkommission wurde verstärkt, die Unia konnte in der Fabrik Mitglieder gewinnen. Als dann in diesem März die Geschäftsleitung in der ersten Verhandlungsrunde erklärte, es werde erst mal kein Lohnangebot des Konzerns geben, schlossen sich die Reihen. Supe erzählt aus einer Versammlung: «Wir haben lange diskutiert, dann ruft von ganz hinten ein jüngerer Arbeiter, dass endlich jemand für sie kämpfe.» Das Gefühl, nicht alleingelassen zu werden, weitete sich in eines der Zusammengehörigkeit aus.
Eine gemeinsame Bewegung wuchs – und damit das Bewusstsein, dass nicht Gewerkschaft und Personalkommission allein den Kampf führen können, sondern nur alle zusammen. «Es ist eine verdammt gute Belegschaft, wirklich, wirklich gut», sagt Supe. Eine Belegschaft, die ihren Wert kenne. Nach der dritten Verhandlungsrunde versammelten sich zwanzig Arbeiter:innen vor dem Sitzungszimmer und lärmten mit Trillerpfeifen. Mondelez befürchtete danach, es könnte zum Streik kommen. In einem Brief an die Unia warnte der Konzern, dass damit die im Gesamtarbeitsvertrag festgelegte Friedenspflicht verletzt würde. Die Unia antwortete, Mondelez könne im Fall der Fälle gerne ein Schiedsgericht anrufen. «Der Konzern verletzt selber den GAV, indem er die Teuerung nicht erstattet», sagt Supe. Ein Gerichtsverfahren, glaubt er, würde dem Konzern aufgrund der grossen Aufmerksamkeit so oder so schaden.
Schweizerisch nur im Lohnstreit
Bislang sind es Mondelez und Toblerone eher gewohnt, dass mediale Aufregung ihrem Geschäft gratis Werbung beschert. So war es, als das Unternehmen nach dem Brexit vorübergehend ein paar Zacken aus dem in Grossbritannien vertriebenen Schokoladenriegel entfernte. So war es auch jetzt wieder, als der Konzern ankündigte, Toblerone nicht mehr nur in Bern, sondern künftig auch in der Slowakei zu produzieren. Toblerone muss deshalb, das verlangt das Swissness-Gesetz, das Matterhorn aus dem Logo entfernen. «New York Times», «Spiegel» und «Guardian» berichteten darüber, die neuen Verpackungen wurden wochenlang in den Medien gezeigt. Marketingexperten und Historikerinnen wurden beigezogen, Nationalrät:innen mussten Stellung beziehen. Es dauerte nicht lange, da stand die nationale Identität auf dem Spiel. Ob als Nächstes die Neutralität falle, wollte «Le Temps» eher spasseshalber wissen. «Das ist nicht meine Toblerone!», meinte «20 Minuten»-Leser Miki377.
Zeitgleich mit der Matterhorndebatte machten die ersten Meldungen über den Lohnstreit die Runde. Das Interesse am Arbeitskampf blieb vergleichsweise klein. Vielleicht, weil sich im Gebaren der Firmenleitung Swissness pur zeigt: Das Unternehmen erwartet eine höhere Arbeitsleistung bei gleichbleibendem Salär – so läufts in der Schweiz. Und damit kommt ein internationaler Konzern hierzulande meistens durch. Andernorts erfüllt Mondelez dagegen Lohnforderungen. In Grossbritannien hob das Unternehmen die Saläre in zwei Stufen um 17,5 Prozent an, in Frankreich generell um 5 Prozent und in Belgien um über 10 Prozent. Am deutschen Standort Lüneburg, wo Mondelez den Streichkäse Philadelphia herstellt, streikten die Angestellten gleich vier Mal. Der Konzern knickte schliesslich ein und gewährte einen Lohnzuschlag von 250 Euro monatlich pro Person.
Keine Angst vor der Eskalation
Gewerkschafter Johannes Supe ist überzeugt, dass es hart auf hart kommen muss, damit sich Mondelez bewegt. «Jedes Mal, wenn die Leute ihre Muskeln als Arbeiter gezeigt haben, war etwas möglich», sagt er. Dass diese Muskeln nun in einem Schweizer Industriebetrieb zu spüren sind, ist aussergewöhnlich. Auch für die Unia, die viele Ressourcen in den Arbeitskampf in Bern-Brünnen investiert. Weil sie dort zeigen kann, wozu gute gewerkschaftliche Arbeit dringend nötig ist: zur Ermächtigung der Arbeiter:innen im Kampf für die eigenen Interessen.
Wie weit dieser Kampf in Bern noch geht, ist offen. Doch vor einer Eskalation, das machen Johannes Supe und Urs Brunner klar, scheuen sich die Arbeiter:innen der Toblerone-Fabrik nicht.
Nachtrag vom 11. Mai 2023 : Stolze Arbeiter:innen
Für ein paar Wochen glaubten sie daran, arbeiteten sie furchtlos und in grosser Intensität darauf hin, die Personalvertreter:innen der über 200 Angestellten in der Berner Tobleronefabrik: dass sie den Weltkonzern Mondelez in die Knie zwingen würden. Sechs Prozent mehr Lohn wollten sie als Ausgleich für gestiegene Lebenshaltungskosten und neue Zumutungen in der Schichtarbeit.
Das Angebot von Mondelez: gar nichts obendrauf. Die Arbeiter:innen pfiffen das Management aus, organisierten sich, bündelten ihren Ärger. Zuletzt standen die Zeichen sogar auf Streik – eine Seltenheit in einem Schweizer Industriebetrieb. Und nun? Alles abgeblasen. Nach mehreren Verhandlungsrunden beschloss der US-Multi, dass alle Angestellten generell 1,8 Prozent mehr Lohn erhalten, dazu kommen individuelle Zulagen.
Die Gewerkschaft Unia, die den Widerstand in der Fabrik eng begleitete, teilt mit, sie und die Betriebskommission hätten dem Angebot nicht zugestimmt. Das sei keine Verhandlungslösung, denn das Angebot von Mondelez bedeute letztlich eine Reallohnsenkung. Aber das Ergebnis zeige, dass der Einsatz der Beschäftigten etwas bewegt habe, meint die Unia: «Die Arbeiter sind stolz darauf, das bis jetzt durchgezogen zu haben.» Im nächsten Jahr wolle man mehr herausholen.
Das Ergebnis in Bern passt zu einer generell mauen Lohnrunde. Zwar fehlt eine umfassende Übersicht, aber eine Auswertung durch den Gewerkschaftsbund, die der WOZ vorliegt, zeigt, dass in vielen Betrieben und Branchen noch nicht mal die Teuerung kompensiert wird. Vor allem in Sektoren, in denen die Löhne sowieso schon eher niedrig sind, in der Agrar- und Holzindustrie, im Metall- oder Holzbau etwa, bleiben die Lohnerhöhungen bescheiden. Die grössten Erfolge erzielten Angestellte dort, wo sie den Arbeitskampf nicht scheuten: So gelangen Beschäftigten der Fluggesellschaft Swiss sowie des Flughafenbetreibers Swissport mit über vier Prozent Aufschlag die höchsten Lohnanpassungen.