Affäre Tinner: Von Zierfischen und Zentrifugen

Nr. 23 –

Nach dreissig Jahren Schweizer Atomschmuggel gab es zum Jubiläum eine Aktenvernichtungsaktion. Zwischenbilanz eines Thrillers zwischen Grabs SG und Islamabad. Und was weiss der Bundesrat wirklich?

«Eine seltsame Sache», sagt Christa Markwalder, FDP-Nationalrätin und Präsidentin der parlamentarischen Gruppe Green Cross. Die gleichnamige Umweltorganisation setzt sich für die Bewältigung der Folgeschäden von Industrie- und Militärkatastrophen ein. «Der Atomwaffensperrvertrag enthält keine Bestimmung, aus der sich das Recht oder die Pflicht der Schweiz zur Aktenvernichtung ableiten lässt. Und dann auch noch mit dem Kriegsartikel zu kommen!»

Es ist Montagabend, im Nationalrat ist eben die Fragestunde zu Ende gegangen. Elf detaillierte Fragen zur Affäre Tinner waren eingegeben, doch Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf hat sie gleich in globo beantwortet. Und dabei nicht mehr gesagt als Bundespräsident Pascal Couchepin an einer ausserordentlichen Pressekonferenz vor eineinhalb Wochen: Im Zuge der Ermittlungen gegen Friedrich Tinner und seine Söhne Urs und Marco hat die Bundesanwaltschaft umfangreiche Dokumente und elektronische Datenträger sichergestellt, insbesondere Baupläne für Nuklearwaffen, für Gas-Ultrazentrifugen und für Lenkwaffensysteme. Am 14. November 2007 hat der Bundesrat beschlossen, die Baupläne zu vernichten. Nicht betroffen waren die übrigen Strafakten wie Einvernahmeprotokolle, Rechtsschriften et cetera.

Die Verletzung der Gewaltentrennung – der Fall der Tinners liegt beim eidgenössischen Untersuchungsrichter - rechtfertigt der Bundesrat mit dem Atomwaffensperrvertrag (siehe «Die drei Lügen von Pascal Couchepin», WOZ Nr. 23/08 ). Ausserdem beruft er sich auf Artikel 183, Absatz 3 der Bundesverfassung. Dieser besagt, dass der Bundesrat bei schweren Störungen jederzeit Verordnungen zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit treffen kann. Mit Absatz 4 könnten dann gleich die Truppen aufgeboten werden.

Nur eine Neuigkeit gibt Widmer-Schlumpf bekannt, auf Nachfrage von SVP-Nationalrat Christian Miesch. Er will wissen, warum kein Strafverfahren gegen allfällige Geheimnisverräter eingeleitet worden sei. Schliesslich handle es sich bei der Aktenvernichtung um eine «Aktion der höchsten Geheimhaltungsstufe». Sie werde noch diese Woche eine Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung einreichen, so Widmer-Schlumpf.

Eine Million Informationshonorar

«Lässt Schweiz Beweise verschwinden?» Anfang Februar dieses Jahres machte der «Blick» die Aktenvernichtung publik, noch mit einem Fragezeichen versehen. Im März bestätigte der eidgenössische Untersuchungsrichter Andreas Müller gegenüber der Nachrichtenagentur AP, dass im Tinner-Dossier «offensichtlich Akten fehlen». Müller hatte das Dossier erst im Februar von der Bundesanwaltschaft übernommen und festgestellt, dass das Aktenverzeichnis nicht mit den tatsächlichen Akten übereinstimmte. Am 17. Mai meldete die «Basler Zeitung», dass von fast 200 Bundesordnern nur noch 93 vorhanden seien. Eine Woche später trat Couchepin vor die Presse.

Dort bestätigte er nicht nur den Beschluss der Aktenvernichtung im November. Sondern er erwähnte auch, dass der Bundesrat bereits im August eine Ausweitung der Strafverfolgung der Tinners abgelehnt hatte – ausser wegen Verstosses gegen das Kriegsmaterialgesetz hätte die Bundesanwaltschaft auch wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit ermitteln wollen.

Dass er mit dem US-amerikanischen Geheimdienst CIA kooperiert hatte, gibt Urs Tinner selbst zu. Seit Oktober 2004 sitzt er in Untersuchungshaft. Bei einem Antrag auf Haftentlassung im Oktober 2007 machte er vor dem Bundesgericht bezüglich Fluchtgefahr geltend: Er beabsichtige nicht, in die USA zu fliehen, deren Behörden er bei der Aufdeckung und Zerschlagung des libyschen Atomwaffenprogramms behilflich gewesen sei. Der «SonntagsZeitung» liegt eine Übereinkunft vor, wonach die Tinners für den Informationsaustausch eine Million US-Dollar erhalten haben.

Die Berner Aktenvernichtung hat mit der CIA-Verbindung der Tinners zu tun. Und mit dreissig Jahren Rheintaler Atomschmuggel. Diese lassen sich in drei Phasen einteilen: eine verschwiegene, eine turbulente – und eine, die heute noch nicht etikettiert werden kann.

Siebziger Jahre: Die verschwiegene Phase

Von 1978 bis 1980 lieferte die Firma VAT Vakuum-Apparate-Technik in Haag SG Vakuumventile an das zu dieser Zeit noch nicht nuklearbewaffnete Pakistan. Die Ventile gehören nebst Zentrifugen zu den wichtigsten technischen Komponenten bei der Urananreicherung.

Bei der Urananreicherung wird der Anteil des durch thermische Neutronen spaltbaren Isotops U 235 erhöht. Beim natürlich vorkommenden Uran beträgt er gegenüber dem schwereren Isotop U 238 nur 0,71 Prozent. Für ein Kernkraftwerk ist ein Anteil von 5 Prozent und für eine Atombombe einer von 90 Prozent nötig. Die Trennung der Isotope wird erreicht, indem Uranhexafluorid in eine Gaszentrifuge geleitet wird. Die Anreicherung wiederum gelingt nur, wenn Hunderte von Zentrifugen in einer Kaskade miteinander gekoppelt werden.

Die High-Tech-Lieferungen werden vom Bund alle anstandslos bewilligt. Das Rheintal geniesst den vielversprechenden Ruf eines «Vacuum-Valley». Niemand denkt an eine Verwendung für Atombomben, nur an die Kernenergie. Friedrich Tinner, ein Ingenieur und Vakuum-Spezialist, leitet bei der VAT den Export, bis er wegen undurchsichtiger Geschäfte 1982 gefeuert wird. Er gründet seine eigene Firma, die Cetec mit Sitz in Haag SG.

Ebenso im Geschäft wie die VAT ist die Cora Engineering Chur AG, eine Tochtergesellschaft der EMS-Chemie. Christoph Blocher war damals bereits in leitender Stellung für die Firma tätig, aber noch nicht ihr Eigentümer. Die Cora baute und lieferte Einspeissysteme für Gaszentrifugen nach Pakistan. Auch sie wurden durchgewunken, im Interesse hoch qualifizierter Arbeitsplätze und florierender Spezialunternehmen in einer wirtschaftlich bisher nicht sehr starken Randregion.

Einzig den USA gefiel das nicht. Zwar hatten sie Pakistan seit der Unabhängigkeit 1947 finanziell und militärisch unterstützt. Indien orientierte sich derweil stärker an der Sowjetunion und war ab 1974 im Besitz der Atombombe. Die Beziehungen der USA zu Pakistan verschlechterten sich aber während der Militärdiktatur von Mohammed Zia ul-Haqs ab 1977, als dieser die Islamisierung des Landes einleitete. Erst durch die sowjetische Invasion in Afghanistan gewann der Staat am arabischen Meer erneut an Bedeutung für die amerikanische Aussenpolitik.

Die USA intervenierten beim Schweizer Bundesrat gegen die VAT und gegen die Cora. Die Ausfuhren waren nach der damals geltenden Atomverordnung jedoch völlig legal. Die USA drohten daraufhin, die Schweiz auf die CoCom-Liste setzen zu lassen. Diese Liste war während des Kalten Krieges von Bedeutung, weil sie verhindern sollte, dass Staaten des Warschauer Paktes in den Besitz westlicher Hightech gelangen. Wer auf die Liste kam, wurde boykottiert und trug fortan den Stempel «Feindesland». Der sozialdemokratische Aussenminister Pierre Aubert reiste 1979 in die USA und versprach, die Sache wieder ins Lot zu bringen.

1980 erfolgte ein Sprengstoffanschlag auf das Haus eines Cora-Ingenieurs in Chur. Dabei kam niemand zu Schaden. Der Anschlag blieb unaufgeklärt. Lange hielt sich das Gerücht, dass der israelische Geheimdienst Mossad den «Chlapf» veranstaltet habe, um eine «islamische Bombe» zu verhindern. In der Folge erhielt die Cora keine Bewilligungen mehr für ihre brisanten Exporte. Auch das Atomgesetz wurde künftig ein wenig restriktiver angewandt.

Achtziger Jahre: Die turbulente Phase

Gotthard Gerhard Lerch kommt 1982 als Topmann des deutschen Industriekonzerns Leybold-Heraeus in die Schweiz. Er sucht ausserhalb von Deutschland Spezialunternehmen für den Bau von Komponenten zur Urananreicherung, die nach Pakistan exportiert werden sollen. In Deutschland ist das eine längst verbotene Sache. Über die liechtensteinische Kesselfabrik Merimpex wird Lerch mit führenden Leuten der Metallwerke Buchs (MWB) zusammengebracht. Lerch lässt sich als «Offshore-Manager» der Leybold-Heraeus in Grabs nieder und bekommt von den Schweizer Behörden sofort eine unbefristete Arbeitsbewilligung sowie die Erlaubnis, an seinem neuen Wohnort ein stattliches Haus zu bauen.

Lerch organisiert und beaufsichtigt den Bau von drei Gaszentrifugen bei den MWB. Dazu werden Vakuumventile der VAT benötigt. Nach verschärftem Atomgesetz können die Anlagen nur noch mit Bewilligung ausgeführt werden, und nach Pakistan sicher nicht. Trotzdem gehen sie 1985 – falsch deklariert – auf die Reise, werden aber bereits in Basel gestoppt. Der Zoll fällt auf den Schmuggel nicht herein.

In der Folge stellt sich heraus, dass die Zentrifugen nach Plänen gebaut worden sind, die beim halbstaatlichen deutsch-holländisch-britischen Konsortium Urenco in den Niederlanden gestohlen wurden. Das Konsortium beschäftigte sich mit der Urananreicherung für zivile Zwecke. Des Diebstahls bezichtigt wird der in Deutschland ausgebildete pakistanische Ingenieur Abdul Qadeer Khan. 1975, ein Jahr nach dem indischen Atomtest, war Qadeer Khan mit den gestohlenen Blaupausen nach Pakistan zurückgekehrt, um sein Heimatland beim Bau der Atombombe zu unterstützen. 1998 wurde sie in unterirdischen Tests erstmals gezündet.

Gotthard Lerch hatte Qadeer Khan kennengelernt, als er für die Kontakte der Leybold-Heraeus zur Urenco zuständig war. Auch Friedrich Tinner soll später mit ihm zu tun gehabt haben. Qadeer Khan war ein paar Mal bei der VAT und hat dort Vakuumventile bestellt. Im November 1997 hat sich Qadeer Khan das letzte Mal in der Schweiz blicken lassen. Darauf weist ein Einreisevisum hin.

1987 findet vor dem Bezirksgericht Werdenberg gegen vier MWB-Verantwortliche ein Prozess wegen Verstosses gegen das Atomgesetz statt. Die Angeklagten werden mit je 4500 Franken gebüsst. Gegen Lerch werden die Ermittlungen in diesem Strafverfahren sehr rasch eingestellt und die MWB kurz darauf geschlossen. Nach der Verschärfung des schweizerischen Atomgesetzes steigt die VAT aus der Nukleartechnologie aus. Die Cora in Chur muss sich ebenfalls zurückziehen und wird 1994 aufgelöst.

Ist ein Atomdealer so anständig?

Doch Lerch und Tinner sind nur scheinbar aus dem Geschäft raus, wie Dokumente auf dem St. Galler Handelsregisteramt belegen. Tinners Cetec geht Mitte der Neunziger beinahe Konkurs. Doch 1997, nach einer Finanzspritze von 340 000 Franken durch die liechtensteinische Investorengruppe Terrafranc, aufersteht der Laden als PhiTec und zügelt nach Sax SG. Das Unternehmen stellt Vakuumventile her. Präsident des Verwaltungsrates ist Tinners Sohn Marco.

Friedrich Tinner, heute 72, gilt im Rheintal als kauziger Tüftler, der gern für sich allein arbeitet. So soll er vor Jahren einem Unternehmen für Edelbestattungen ein Vakuumventilsystem angeboten haben. Der Glassarg, in welchem die Verblichenen bis zu 10 000 Jahre in sterblicher Frische erhalten werden können, ist patentiert, aber noch nicht gebaut worden. Tinner lebt in bescheidenen Verhältnissen. Seine beiden Söhne Marco, 46, und Urs, 43, sind keine Ingenieure und schon gar keine Atomspezialisten, sondern Mechaniker und Geschäftsmann von Beruf. Der Ältere lässt 1990 eine Einzelfirma für Tierprodukte ins Handelsregister eintragen und betrieb ein Aquariumlädeli in Gams SG. Zeitweise arbeitet er auch für seinen Vater als Schweisser. In diesem Job sei er gut gewesen, sagen Bekannte, aber sonst sei er eine Null. 1998 zieht er nach Dubai.

Gotthard Lerch betreibt ab 1988 die Einzelfirma AVE Apparate, Verfahren und Engineering in Buchs SG, die er bald als AVE Consulting GmbH nach Grabs SG übersiedelt. Er soll vor allem Hersteller von Hightechkomponenten für Qadeer Khans Atomwaffenprogramm gesucht haben. Die Aufträge kann er weitgehend nur noch illegal abwickeln: in Südafrika, Malaysia und Dubai; teilweise soll dies aber auch bei der Cetec/PhiTec in Sax geschehen.

Lerch, 66, fährt einen Mercedes der S-Klasse und soll ein Vermögen zwischen sieben und acht Millionen Franken besitzen. «Lerch ist in Grabs bestens integriert und nimmt am Dorfleben teil», sagt ein Vorstandsmitglied des Lions-Clubs Werdenberg. Lerch war bis 2007 Mitglied des Clubs. Er habe auch darüber informiert, dass gegen ihn Untersuchungen laufen. «Ist ein Atomdealer so anständig?», fragt der Mann.

Ab 2000: Die Phase ohne Etikette

2003 brachten amerikanische Kriegsschiffe das deutsche Frachtschiff «BBC China» auf. Es war nach Libyen unterwegs und hatte hochsensible Komponenten für das dortige Atomwaffenprogramm an Bord. Qadeer Khan soll sein Wissen weiterverkauft haben – an Nordkorea, an Südafrika, an den Iran und eben auch an Libyen. Kurz darauf stellte Libyen seine Atomaktivitäten ein und übergab eine Liste mit Firmen und Personen der Internationalen Atomagentur (IAEA) in Wien. Gotthard Lerch, aber auch Friedrich Tinner und seine Söhne werden darin ins Zentrum des Netzwerkes von Bomben-Khan gestellt.

Urs Tinner wurde 2003 kurzfristig in Malaysia in Haft genommen und danach abgeschoben. Er soll in der Firma Scoope, die in Malaysia für Qadeer Khan arbeitete, in leitender Stellung tätig gewesen sein. Gotthard Lerch wurde 2004 in der Schweiz verhaftet, Urs Tinner in Deutschland. Die beiden Verdächtigen wurden ausgetauscht. Marco Tinner sitzt ebenfalls seit 2004 in der Schweiz. Der Vater der beiden ist nach fünf Monaten U-Haft wieder auf freiem Fuss. Ein erster Prozess gegen Lerch war 2006 in Mannheim nach vierzehn Verhandlungstagen aus formellen Gründen geplatzt. Lerch wurde darauf nach Hause geschickt. In der letzten Zeit habe der Wahl-Rheintaler Fronarbeit bei der Instandstellung des historischen Grabser Mühlebaches geleistet, weiss der Mann vom örtlichen Lions-Club.

Diesen Donnerstag beginnt vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart der zweite Prozess gegen Gotthard Lerch. Die Anklage verfügt dabei auch über Akten aus der Schweiz und aus Südafrika. Dort wurde ebenfalls gegen mutmassliche Beteiligte am Khan-Netzwerk ermittelt. Die Tinners sollen beim Verfahren in Stuttgart als Zeugen auftreten. Eine entsprechende Vorladung liegt beim Bundesamt für Justiz in Bern. Dabei, so sagt es jedenfalls Familiensprecherin Hedwig Tinner (Ehefrau und Mutter), kennen sie Lerch überhaupt nicht.

Der erste Prozess gegen Lerch hatte noch wenig Aufmerksamkeit gefunden. Allerdings schrieb Pulitzer-Preisträger Steve Coll für die US-amerikanische Zeitschrift «New Yorker» im August 2006 einen ausführlichen Artikel dazu, der auch einiges über das Khan-Netzwerk aussagt: «Die Regierungen und die Medien fassen Khans Geschäftspartner als kohärentes Netzwerk auf. Dabei haben jene, die mit ihm geschäfteten, untereinander nicht zusammengearbeitet. Sie waren sogar oftmals Konkurrenten», zitiert Coll beispielsweise einen weiteren Verdächtigen und Zeugen. Zu den Blaupausen schreibt Coll: «Sie zirkulieren weiterhin, und sie sind wie Kronjuwelen in früheren Zeiten. Die Motive der unternehmerischen Ingenieure wie Berufsstolz, Gier oder die Angst vor Enthüllung beeinflussen das nukleare Gleichgewicht.» Der CIA habe seit den siebziger Jahren Khans Geschäfte beobachtet.

2007: Den Fall zum Verschwinden bringen

Welche Rolle Urs Tinner spielte, als der CIA den Zeitpunkt gekommen sah, das Netzwerk auffliegen zu lassen, haben zwei andere amerikanische JournalistInnen, Douglas Frantz und Catherine Collins, in ihrem Ende 2007 erschienenen Buch «The Nuclear Jihadist» beschrieben. Gegenüber dem «Echo der Zeit» sagte Frantz, bis vor kurzem Chefredaktor der «Los Angeles Times», in einem Interview: Seit dem Jahr 2000 habe Tinner dem amerikanischen Geheimdienst Informationen über Qadeer Khan geliefert. Möglicherweise seien ausserdem CIA-Agenten in Tinners Haus eingebrochen. Die Informationen seien so wertvoll gewesen, dass sich die USA zu Dank verpflichtet gefühlt hätten und Tinner vor einer Strafverfolgung hätten schützen wollen. «Sicher ging es dem CIA auch darum, seine schmutzige Wäsche, ihre Quellen und Methoden, vor dem Publikum zu verbergen», sagte Frantz. Tinner habe nicht nur dem CIA, sondern auch der IAEA Informationen zukommen lassen – in der Hoffnung auf Straferlass. Als diese Rechnung nicht aufgegangen sei, habe das CIA die Schweiz unter Druck gesetzt, «um den Fall zum Verschwinden zu bringen.»

Ob tatsächlich nur nukleare Baupläne vernichtet wurden? Die sowieso «weiterhin zirkulieren», wie Coll schreibt? Oder auch die Spuren des CIA in einem neutralen Land? Oder die Beweise für das jahrzehntelange Laisser-faire der Schweizer Behören gegenüber der heimischen Nuklearindustrie: eine strahlende Altlast? Oder schliesslich ein Stück amerikanische Aussenpolitik im Krieg gegen Terror und Schurkenstaaten? Was weiss Christoph Blocher, was Micheline Calmy-Rey? All die Fragen bleiben auch nach der Fragestunde am Montag offen.

Draussen auf der Bundeshausterrasse steht Geri Müller, Nationalrat der Grünen, und erinnert sich an ein Gespräch mit Christoph Blocher nach dessen Aufenthalt in den USA im Sommer letzten Jahres. Stolz sei der gewesen, sich eine Stunde lang mit Justizminister Alberto Gonzales über die Bekämpfung des Terrorismus unterhalten zu haben. «Es ist ein Geben und Nehmen», habe Blocher gesagt.

Drinnen in der Wandelhalle sitzt Hugo Fasel, der Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation GPdel, welche die Nachrichtendienste überwacht. Er lächelt unter seinem Silberschnauz und sagt: «Wir haben Zugriff auf geheime Dokumente, wir können ZeugInnen einvernehmen. Unser Bericht zur Aktenvernichtung erscheint im Herbst.» Nachdem die GPdel die Aktenvernichtung schon nicht verhinderte, will sie diese nun wenigstens aufklären. Grüne und SP fordern weiterhin eine PUK.


Vom Luzerner Comiczeichner Melk Thalmann ist 2005 bei Agromix Comix der nukleare Thriller «Zwischenfall» erschienen. Er spielt vor dem Hintergrund der Schweizer Bemühungen um die Atombombe und endet mit dem Reaktorunglück in Lucens im Jahr 1969.