«Das Gute»: Oboistin im Abseits

Nr. 24 –

Der Zürcher Kaspar Schnetzler erzählt in seinem Roman eine Familiengeschichte und, auf spezielle Art, über 1968 und Feminismus.

Wilhelm II. winkt vom Balkon des «Baur au Lac». Wie Meinrad Inglins berühmter «Schweizerspiegel» beginnt der dicke Roman von Kaspar Schnetzler mit dem Besuch des deutschen Kaisers in Zürich. Und beide Autoren haben den Anspruch, ein ganzes Zeitalter chronologisch auszurollen; im Fall von Schnetzlers «Das Gute» ist dies ein volles Jahrhundert. Manches erinnert auch an «Alles in allem», das mehrbändige Hauptwerk von Kurt Guggenheim (1896-1983). Mit ihm teilt der sechsundsechzigjährige Schnetzler profunde ortsgeschichtliche Kenntnisse, eine Vorliebe für sparsam, aber präzis platziertes Lokalkolorit und für unaufgeregtes Erzählen.

Ständische Barrieren

«Das Gute» liest sich über weite Strecken als Chronik aus dem Mittelstand. Erzählt wird, wie die Vorfahren der Hauptfiguren, alle aus kleinen Dörfern stammend, in Zürich ihr Auskommen fanden, ohne hier jemals völlig akzeptiert zu werden, weil merkwürdig ständische Faktoren sich auf ihr Leben auswirkten. Konkret: Wie Ernst Frauenlob aus dem Klettgau sich genötigt sah, seinen Milchladen im Enge-Quartier aufzugeben und Kondukteur zu werden. Und wieso er sich ja nicht einbilden soll, seinen Sohn ins Lehrerseminar schicken zu können, wo doch eine kaufmännische Lehre für seinen Sprössling weiss Gott einen beträchtlichen Aufstieg bedeutet.

So durchläuft man, in flottem Tempo, einen sozialgeschichtlichen Parcours durch die Jahrzehnte. Doch je weiter man in die Gegenwart vorstösst, desto unberechenbarer werden die Geschichten. Sie kapseln sich ab, werden familiär. Denn anders als seine vermeintlichen Vorbilder ist «Das Gute» ein heutiger Roman und erliegt zum Glück nicht der Versuchung, didaktisch zu funktionieren und zeitgeschichtliche Entwicklungen anhand eines Mikroorganismus spiegeln zu wollen. Und erst noch so zu tun, als ob es das absolut sozial Zwangsläufige immer noch gäbe.

Unzeitgemässe Biografien

Schon Hanni Gerber, verheiratete Frauenlob, führt ein merkwürdig unzeitgemässes Leben. 1913 als Polizistentochter geboren, machte sie das Handelsdiplom an der Höheren Töchterschule, ohne berufstätig zu werden. Man brauchte sie in der eigenen Familie, dann heiratete sie. Noch seltsamer hören sich die Lebensläufe ihrer drei begabten Kinder an. Der Älteste wird Journalist und Spargelbauer in Niederbayern, der Jüngste unterbricht sein Medizinstudium, um Hilfslehrer zu werden, legt sich mit den Erziehungsbehörden an und endet auf dem Platzspitz. Berührt hat mich das Schicksal von Regula, der Tochter. Mitte der sechziger Jahre hat sie ihr Diplom als Oboistin erworben, findet aber wegen des damaligen Selbstverständnisses der Orchester keine professionelle Anstellung. Als sie, gelegentlich für Begleitmusik an gesellschaftlichen Anlässen engagiert, bei einem derartigen Anlass ungefragt das Wort zugunsten der Frauen ergreift, manövriert sie sich ins Abseits. An privat organisierten Hausmusikabenden stellt sie in den nächsten Jahren verkannte Komponistinnen vor, ohne von den politisch Engagierten ernst genommen zu werden. Obwohl sie sehr intelligent ist und sich fürs Aufklärerische einsetzt, übersieht sie die Anzeichen eines Diabetes am eigenen Körper.

Und während man dies liest, will einem die Frage nicht mehr aus dem Kopf, ob die Tragik von Regula Frauenlob nur darin bestand, dass sie vier, fünf Jahre zu früh geboren wurde. Macht dies die Spannung aus? Oder rührt sie daher, dass Kaspar Schnetzler von einer wahren Geschichte ausging?

Kaspar Schnetzler: Das Gute. Bilgerverlag. Zürich 2008. 623 Seiten. 44 Franken