Kolonialgeschichte: Der afrikanische Impresario
Die Autorin Rea Brändle erzählt das Leben eines Togolesen, der Ende des 19. Jahrhunderts als Schausteller durch Europa zog - eine turbulente Geschichte aus der Spätphase des Kolonialismus.
Dieses Sachbuch schüttelt unseren eurozentrischen Blick kräftig durch. Es erzählt die Geschichte einer afrikanischen Familie, die jahrelang durch Europa tingelt, um in «Negerdörfern» und «Völkerschauen» aufzutreten. Hier ist aber nicht von Opfern die Rede, sondern von selbständig handelnden Subjekten. Das trifft zumindest auf den Prinzipal der kleinen Truppe zu, auf den Patriarchen der reisenden Familie: Nayo Bruce.
Der Sohn eines Königs in Togo hatte eine Missionsschule besucht, sprach mehrere afrikanische Sprachen, dazu Englisch und später auch Deutsch, und kam 1889 im Rahmen einer Werbetour für die neue Kolonie nach Deutschland. Wieder im «Togoland», arbeitete er als Dolmetscher und Agent für die deutsche Kolonialverwaltung, bis er 1896 einen eigenen Auftritt für eine Völkerschau in Berlin organisierte. Mit seinen zwei Ehefrauen, seinem Kind und 22 weiteren Personen führte er afrikanisches «Alltagsleben» so auf, wie er wusste, dass es die Deutschen sehen wollen.
Es ist dieser doppelte Blick des Nayo Bruce, sein Taktieren mit der Kolonialmacht, um die eigenen Ziele zu erreichen, den die Autorin Rea Brändle besonders hervorhebt. So weist sie auch auf die diplomatisch geschickten Antworten hin, die Nayo Bruce im Interview mit der «Kölnischen Zeitung» im Oktober 1896 gab. Auf die Frage etwa, ob es denn «wirklich notwendig» sei, «den Neger zu schlagen, zu misshandeln ...», schwieg er lange, um dann zu sagen: «Nein, über Afrika kann und will ich nicht sprechen. Sehen Sie, ich bin getauft - seither habe ich alles, was früher geschehen ist, hinter mich geworfen; ich will das Unrecht, das auch mir widerfahren ist, vergessen.» Um dann fortzufahren: «Von den weissen Jägern und Reisenden, die in den Busch gewandert sind, ist an den Negern viel Schreckliches verübt worden (...) Gott wird sie richten!»
Nayo Bruce wird John Calvert
Getauft wurde der Häuptlingssohn auf den Namen John Calvert, seither nannte er sich J. C. Nayo Bruce. Als er zwei Jahre nach dem Berliner Auftritt mit einer neuen Truppe wieder nach Europa kam, liess er sich im Anzug fotografieren und wurde zum eigenen Unternehmer. Mit unterschiedlichen Truppen tingelte Nayo Bruce mit seinen zwei bis drei Ehefrauen von Norddeutschland bis nach Südfrankreich, durch die Schweiz und die Niederlande und von England bis in den Balkan. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, zog die Bruce-Familie nach Russland und in den Kaukasus bis nach Baku. Dort endete die Tournee, Nayo Bruce starb am 3. März 1919. Seiner letzten Ehefrau nahm er das Versprechen ab, die Kinder in die Heimat Togo zurückzuführen.
Über zweihundert Stationen in ganz Europa werden im Anhang dokumentiert, eine unglaubliche Rechercheleistung, die aber zum Glück nicht verhindert, dass die Reisen und Auftritte, die Konflikte und Tragödien anschaulich und kurzweilig geschildert werden. Genau genommen erzählt Rea Brändle in ihrem Buch drei Geschichten: Zum einen sind da die Darbietungen dieses historischen Genres - vom Tableau vivant eines Familienidylls bis zur grossen Tanzshow mit «Amazonencorps», von der abendfüllenden Pantomime über die inszenierte Entführung einer schönen Missionarin bis zur Freakshow. Als Publikumsrenner erweist sich zunehmend die Albinofrau Amanoua Kpapo. Diese «weisse Negerin» oder auch «heilige Negerin» wollten die Leute überall sehen.
Zwischenspiel in Zürich
Zum Zweiten handelt das Buch von den Begegnungen zwischen den Schwarzen und den Weissen, also von Missionsgeschichte. J. C. Nayo Bruce war Christ, lebte dennoch mit mehreren Frauen, also gab es viele Taufen: Sohn Pietro wurde 1899 in Rom getauft, Ehefrau Yenoussi Johnson 1903 in der Zürcher Predigerkirche, Sohn Richard im gleichen Jahr im Berner Münster, Tochter Annie 1905 im norddeutschen Ulzburg, Tochter Lisa 1906 in Strassburg, gleich neun Truppenmitglieder im Kölner Dom.
In Zürich gab der Missionar Ernst Bürgi der taufwilligen Yenoussi Johnson Religionsunterricht, dann musste er wieder an seinen Dienstort in Togo zurückkehren. In einem eingeschobenen Kapitel - ein richtiges Spiegelkabinettstückchen - erzählt Rea Brändle die Geschichte dieses Missionars verschränkt mit jener von Nayo Bruce. Die beiden Gleichaltrigen wurden von Abenteuerlust und Fernweh angetrieben, der eine gelangte ins ferne Afrika, der andere nach Europa. Beide lernten viele Sprachen und kämpften um ihre Existenz in der Fremde. Mr. Bruce erregte ebenso viel Aufsehen wie Bürgi, wenn sie mit Familie und Hausrat an einem neuen Ort einzogen. Beide trugen zum kulturellen Austausch bei, beide litten an Heimweh.
Während Ernst Bürgi im Alter doch noch in die Schweiz zurückkehren konnte, war dies Nayo Bruce nicht vergönnt. Nur seine Kinder sahen Togo wieder - und das ist die dritte Geschichte in diesem Buch, die Familiensaga aus einer frühen Ära der Globalisierung. Ganz unterschiedlich sahen die Lebensläufe der Nachkommen aus: Die Kinder, die in der Sowjetunion aufgewachsen waren, liessen sich später meist in Frankreich nieder. Zwei Söhne und eine Tochter wuchsen in Nazideutschland heran, in adligen Familien oder bei einfachen Händlern. Manche, die nach Togo zurückkehrten, plagte das Heimweh nach Deutschland, aber nur Tochter Regina gelang die Rückkehr - als Gattin des Botschafters des unabhängigen Staates Togo in Bonn.
Aussagekräftig sind auch die Fotos: Sie zeigen die Veränderungen der Menschen während ihrer Fahrt durch Europa. In den Gesichtern ist das zu sehen, was Rea Brändle, die sich strikt an die Fakten hält, im Text ausspart, nämlich die möglichen Gefühle der ProtagonistInnen: Stolz, Demut, Resignation, fortschreitende Verhärtung.
Rea Brändle: Nayo Bruce. Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa. Chronos Verlag. Zürich 2007. 254 Seiten. 32 Franken