Emil Zbinden: «Alles Künstlerische muss ich weglassen»
Am 26. Juni jährt sich der Geburtstag des Holzschneiders, Zeichners und Typografen zum hundertsten Mal. In arme Verhältnisse geboren, wurde er zum herausragenden Vertreter einer proletarischen Kunsttradition, an die sich heute kaum jemand erinnert.
«Arbeiter» heisst ein später Holzstich von Emil Zbinden. Er zeigt fünf Männer aus verschiedenen Generationen an der Schwelle zum elektronischen Zeitalter. Frontal sehen sie der Zukunft ins Auge, mit gemischten Gefühlen, gebannt, etwa hilflos vielleicht, nicht ohne Besorgnis, aber sicher nicht feindselig. In Einerreihe stehen sie da und verstehen sich offensichtlich als Gruppe.
Das war 1978. Zbinden war siebzig und als Künstler schon fast ein halbes Jahrhundert lang mit Arbeitern und ihrer Welt beschäftigt. Mit Werkzeugen, Berufsmonturen, Maschinen, Fabriken, Grossbaustellen, und trotz einer offensichtlichen Faszination fürs Technische erzählen die Gesichter und Körperhaltungen seiner Arbeiterfiguren auch viel über die sozialen Hintergründe.
Mit siebzig Jahren nun, als neue Herausforderung, galt es, eine nahezu immaterielle Arbeitswelt darzustellen. Etwas Virtuelles, das den Werktätigen keine physische Kraftanstrengung mehr abverlangen würde - kein sehr inspirierendes Thema für einen gegenständlich geprägten Künstler. Umso verblüffender ist seine Lösung. In adäquater Leuchtschrift steht «Computer» am linken Bildrand. Unglaublich exakt stichelte Zbinden die Pixel ins Birnenholz, in allerfeinster Technik, wie er sie sich Jahrzehnte zuvor als Illustrator der Gotthelf-Ausgabe für die Büchergilde Gutenberg angeeignet hatte. Bei einem Satzspiegel von fünfzehneinhalb auf neun Zentimeter war es ihm gelungen, grossartige Emmentaler Landschaften, ja, ganze Alpenpanoramen auf einer halben Buchseite wiederzugeben.
Kindheit in der Matte
Gelernt ist gelernt! So sagte man immer noch, mit einem Berufsstolz, als wären in der Arbeitswelt keine traditionsreichen Metiers binnen Kürze zum Verschwinden gebracht worden. Der Buchdruck etwa, so wusste Zbinden aus Erfahrung und musste sich angesichts des Stichs von 1978 wohl auch fragen, wie lange es «seine» Arbeiter noch geben würde.
Seither sind wieder dreissig Jahre vergangen. Kaum mehr vorstellbar inzwischen, dass es im letzten Jahrhundert eine proletarische Kunsttradition gegeben hat - eine internationale Bewegung, und Emil Zbinden wurde zu einem ihrer bedeutenden Schweizer Vertreter. Wie von selber, so war er überzeugt, denn wie anders hätte einer mit seiner Herkunft Künstler werden können.
Als Fünftes von acht Geschwistern wurde Emil Zbinden am 26. Juni 1908 in Niederönz bei Herzogenbuchsee geboren. Der Vater war Postillion, ein aussterbender Beruf, deshalb wechselte er zu einer Speditionsfirma und zog 1916 mit seiner Familie nach Bern, ins Arbeiterquartier, die Matte. Die Mutter, als Verdingkind im Emmental aufgewachsen, trug als Wäscherin, Putzfrau und Zeitungsverträgerin zum Familienunterhalt bei; auch für Emil war es selbstverständlich, morgens vor Schulbeginn den «Bund» auszutragen. Er besuchte die Sekundarschule, ein Privileg für Mätteler, und fand eine Lehrstelle als Typograf. Glück gehabt, kommentierte er rückblickend, der Betrieb sei bürgerlich solid, der Lehrmeister aber ein Linker gewesen. Was die Gewerbeschule nicht bieten konnte, lernte man bei Meister Ruppli, daneben zeichnete Lehrling Zbinden und gewann mit einem Holzschnitt den ersten Preis im Wettbewerb der Pro Juventute. Kein Geld zwar, doch eine Audienz bei Regierungsrat Joss von der BGB (was heute SVP wäre), dieser riet ihm zu einem Auslandsaufenthalt und half auch, die nötigen Genehmigungen zu beschaffen.
Im August 1928 reiste Zbinden nach Berlin, um als Schriftsetzer zu arbeiten und nebenher Kurse an der Kunstgewerbeschule Neukölln zu besuchen. Die Verhältnisse im Grossbetrieb waren jedoch so schlimm, dass er sich als Erstes nach einer andern Arbeitsmöglichkeit umsah. Was sich für ihn als Ausländer als schwierig erwies, erst im folgenden Jahr durfte er die Stelle wechseln und intensivierte seine Weiterbildung an der Neuköllner Volkshochschule, in politischen Abendkursen und mit Ausstellungsbesuchen.
Kunst oder Handwerk - das anfängliche Dilemma löste sich wie von selbst: «Jetzt weiss ich, was ich zu tun habe. Einfach, klar, Schrift, Papier und Farbe wirken lassen, alles Künstlerische weglassen», notierte er am 28. Januar 1929. Aufmerksam beobachtete er den Alltag, hatte immer den Skizzenblock bei sich und erwies sich als sehr hellsichtig. Über den 1. Mai 1929 in Berlin schrieb er einem Freund nach Bern: «Die Polizei hat wie Verrückte auf die Menschen losgeschlagen. Was die Zeitungen, wahrscheinlich auch in Bern, geschrieben haben, ist falsch. Ich habe die Sache mit eigenen Augen gesehen. Es ist immer so, dass die Kommunisten schuld sein müssen ... Schade für Deutschland, dass eine Hakenkreuzdiktatur kommen wird.»
Aus Bern bekam er ein kleines Stipendium und den Auftrag, das Titelblatt für eine Broschüre des kantonalen Arbeitsamts zu gestalten. Und mittlerweile hatte er so viel vom Mund abgespart, dass er ganztags studieren konnte. Er bewarb sich an der Staatlichen Akademie für Grafische Künste und Buchgewerbe in Leipzig und wurde am 14. Oktober 1929 in die Meisterklasse von Professor Georg Belwe aufgenommen. Er trat der «Association revolutionärer bildender Künstler» bei, half mit bei der Organisation einer IFA-Ausstellung (der Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur) und lernte Bruno Dressler kennen, den Leiter der deutschen Büchergilde Gutenberg.
Wie bereichernd die Jahre von 1928 bis 1931 waren, merkte Zbinden erst, als er nach Bern zurückgekehrt war, in der Absicht, das Gelernte hier anzuwenden. Er engagierte sich bei der «antifaschis - tischen Jugend» und war Mitbegründer der «Vereinigung werktätiger Künstler». Der Versuch hingegen, als freischaffender Grafiker ein Auskommen zu finden, war entmutigend. Mehr als ein paar Briefköpfe für Schulfreunde lagen nicht drin. Und mit seinen politischen Karikaturen - gegen den militärischen Vorunterricht etwa und die disziplinierende Lex Häberlin - exponierte er sich am linken Rand. Das kleine Bern war nicht Berlin, sozialkritisches Engagement musste auf Schweizer Verhältnisse redimensioniert werden. Als Künstler mit dem Skizzenblock unterwegs zu sein, wie Heinrich Zille, Käthe Kollwitz und Georg Grosz dies in deutschen Metropolen getan hatten, das konnte auch in der behäbigen Bundeshauptstadt zu aufschlussreichen Beobachtungen führen. Zwar gab es hier kein Industrieproletariat, dafür aber verarmte ZuzügerInnen vom Land, den Markt der arbeitslosen Knechte, viele Rucksackbauern, Marktfrauen, Dienstmädchen. Mit solchen Figuren beschäftigte er sich auf etlichen Titelblättern des «Jahresberichts für das kantonale Arbeitsamt Bern».
Spannende Auftragsarbeiten
Inzwischen war Bruno Dressler mit der Büchergilde Gutenberg aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Zürich emigriert. Er suchte Stoffe für eine breite Schweizer Leserschaft. So kam Zbinden zum Auftrag, eine Gotthelf-Ausgabe zu illustrieren. Fünfzehn Bände wurden es insgesamt, mit einer Auflage von 300 000 Exemplaren. Es war eine gut bezahlte Arbeit und garantierte während der nächsten siebzehn Jahre auch künstlerisch eine Perspektive. Zbinden verbrachte viel Zeit an den Schauplätzen, weil er zu Gotthelfs Texten etwas Eigenes beisteuern wollte. Keine Frage, dass er sich von Sozialkritischem wie «Erlebnisse eines Schuldenbauers» oder «Wassernot im Emmental» direkt angesprochen fühlte. Wo er hingegen mit Gotthelf seine Mühe hatte, stellte er sich selbst konkrete Aufgaben. Er beschäftigte sich in «Uli, der Knecht» mit bäuerlichen Arbeitsgeräten oder mit der Pflanzenwelt in «Käthi, die Grossmutter».
Besonders in der Darstellung von bäuerlichem Personal und ländlichen Menschengruppen konnte Zbinden seinen Gotthelf-Auftrag gut mit eigenen Interessen verbinden. Weil überdies beim Publikum seine Landschaftsdarstellungen so beliebt wurden, korrigierte sich sein schlechter Ruf aus den frühen dreissiger Jahren - auch dies ein hübscher Nebeneffekt.
Trotzdem war Emil Zbinden erleichtert, als er 1953 die Gotthelf-Arbeit abschliessen konnte. Er hatte andere Prioritäten, auch als Illustrator für die Büchergilde, von der er in den nächsten Jahren immer wieder mal einen interessanten Auftrag bekam. Als Gründungsmitglied der schweizerischen Holzschneider-Vereinigung Xylon organisierte er mehrere Ausstellungen und begann mit farbigen Holzschnitten zu experimentieren; in einem Berner Schulhaus hatte er Wandbilder zu gestalten.
Den wohl schönsten Auftrag seines Lebens indessen hatte er 1951 von der Zeitschrift «du» erhalten. Zusammen mit Eugen Jordi und Rudolf Mumprecht sollte Zbinden sich als Zeichner mit dem Arbeitsalltag auf der riesigen Baustelle Grimsel-Oberaar-Staumauer beschäftigen. In den nächsten paar Jahren lebten die drei Künstler jeden Sommer mehrere Wochen in den Baracken vor Ort; sie wurden richtiggehende Spezialisten und deshalb 1959 vom Zürcher Elektrizitätswerk ins Bergell eingeladen, um den Bau der Albigna-Staumauer zu dokumentieren. Die Zürcher Verwaltung organisierte anschliessend eine Ausstellung im Stadthaus und kaufte ein paar Werke an. Kein Gehör hingegen fand Zbindens Vorschlag, einen Holzschnitt vom Mauerbau in Auftrag zu geben und allen beteiligten Arbeitern einen Abzug zu schenken.
Merkwürdige Parallelen
Auf die Frage, wie er sich mit mageren Einkünften habe durchschlagen können, antwortete Zbinden, dass er erst in fortgeschrittenem Alter eine Familie habe gründen können. 1952 war es so weit. Bald schon begann die Hochkonjunktur, es wurde selbstverständlich, dass Arbeiterfamilien im Sommer ans Meer fuhren. Und - welch merkwürdige Parallele - auch Emil Zbinden reiste zu Studienzwecken in den Süden. Er zeichnete und malte in Italien, auf Korsika und Kreta, vor allem historische Gebäude und Landschaften, die seltsamerweise etwas Privates an sich haben. Sie waren bisher selten an Ausstellungen zu sehen. Inzwischen hatten verschiedene Gruppierungen ihren Zbinden entdeckt: die Kunstverständigen sein grafisches Werk, die neuen Linken engagierte Kunst, das breite Publikum die Landschaften und Jahreszeiten, Gewerkschaften die politischen Karikaturen der frühen Jahre, ethnologisch Versierte die Studien hiesiger Werkzeuge und Bräuche - höchste Zeit also, sein Werk erstmals in seiner Gesamtheit auszustellen. Bald ist es endlich so weit, anlässlich seines hundertsten Geburtstages, im kommenden Herbst im Berner Kunstmuseum.