Demenz: Dernière im Heim

Nr. 44 –

Das Leben im Demenzaltersheim ist nicht gar so tragisch, wenn man Demenzkranke sich selber sein lässt. Im Doldertal in Zürich geht das Pflegepersonal auch mal auf Augenhöhe mit den PatientInnen.


Hier braucht es Geduld. Ehrlich gesagt, viel Geduld. Nur schon für die Morgentoilette. Frau N. sitzt auf dem Bettrand mit einem Plüschtier auf dem Schoss, hinter ihr im Bett eine Puppe, die sie fürsorglich zudeckt, immer wieder. Die Pflegefachfrau tritt ins Zimmer und nimmt Kontakt auf. Dafür geht Nicole Haas-Clerici in die Hocke, begrüsst Frau N. deutlich mit ihrem Namen, berührt sie, streichelt sie und blickt sie intensiv an. Nach der Kontaktaufnahme geht es ans Zähneputzen. Frau N. ist ständig abgelenkt, widmet sich ihrer Puppe, streicht das Nachthemd glatt oder blickt irgendwohin. Zwischendurch murmelt sie vor sich hin, ein «Jajajajaja» in sinkender Tonfolge, das sich wie ihr Versuch anhört, am Geschehen teilzunehmen. Oder wie ein Ausdruck des Erduldens ihres Alltags. Nicole Haas-Clerici versucht immer wieder, die Aufmerksamkeit auf die Morgentoilette zu lenken, und erklärt den nächsten Schritt. Ab und zu macht sie vor, was zu tun sei, mit der Absicht, dass Frau N. es nachmacht. Zum Beispiel die Handbewegung beim Zähneputzen. Der Aktivierungsversuch fruchtet nicht immer, was der Pflegefachfrau gelegentlich ein Schmunzeln entlockt. «Wenn ich hier zur Arbeit antrete, muss ich mich innerlich entschleunigen», sagt Haas-Clerici. Auf Tempo und Drängeln reagierten die demenzkranken Menschen mit Unruhe und Aggressionen, dann gehe eben gar nichts mehr. Sie zwingen eine Langsamkeit auf. Nachdem Frau N. ihre Kleider angezogen hat, ihr Haar gekämmt und der Schmuck angelegt ist, geht es hinunter in den Saal zum Frühstücken.

Im Stadtzürcher Altersheim Doldertal leben 28 Menschen mit Demenz. Sie sind zwischen 58 und 96 Jahre alt und hier, weil sie entweder nicht mehr alleine oder nicht mehr zusammen mit den pflegenden Angehörigen leben können. Zwanzig von ihnen sind Frauen. Der höhere Frauenanteil ist einfach erklärt: Frauen werden älter als Männer, und Demenzkrankheiten nehmen mit dem Alter zu. Das Gebäude ist in den zwanziger Jahren als Pension für russische Medizinstudentinnen errichtet worden und liegt am Zürichberg, dort, wo die Menschen lieber für sich leben und nicht gerne mit Fremdem konfrontiert werden. Seit 1996 richtet sich das Altersheim ganz auf demenzkranke Menschen und ihre manchmal eigenartigen Bedürfnisse ein. Zu diesen Bedürfnissen gehört, sich viel zu bewegen - möglichst ohne sich zu verlieren. Im Doldertal haben die Gänge auf jedem Stockwerk eine andere Farbe, Toiletteneingänge sind blau gestrichen und wie alle Räume mit grossen Lettern beschriftet. An den Wänden hängen Fotografien mit Wiedererkennungseffekt: der brennende Sechseläuten-Böögg, das Grossmünster, der Zirkus Knie. Durch einen kleinen Wintergarten gelangt man hinaus in einen hübschen, eingezäunten Garten mit dem sogenannten Rundgang. Der Rundgang ist ein schmaler Fussweg, der sich rund um die Sonnenseite des Altersheims schlängelt und hinten durch die Lingerie wieder ins Heim führt. Auf diesem Weg gelangen die BewohnerInnen nach ihrem «Ausflug in die Stadt» automatisch wieder nach Hause zurück. BesucherInnen wiederum sind erstaunt, wie offen sie über die automatische Schiebetüre empfangen werden und wie schwierig es dann ist, das Haus wieder zu verlassen.

Zurück in die Kinderstube

Möglichst frei machen zu können, wozu sie Lust haben und noch fähig sind, ist der grosse Luxus für Menschen, die mit ihrem Tun und Lassen anderen zur Last fallen, sich selber oder andere gefährden. Im Doldertal wohnen fast alle in einem Einzelzimmer, das mit ihren privaten Möbeln und Gegenständen eingerichtet ist. Doch das eigene Zimmer verliert an Bedeutung. Die Bewohnerinnen und Bewohner sehnen sich nach Gesellschaft. Zweimal pro Woche kocht ein kleines Grüppchen im «Stübli» ihr Mittagessen. Praktisch alle halten sich unten im Gemeinschaftsraum auf oder schreiten die Gänge auf und ab. In der Nacht geht hin und wieder jemand an den Kühlschrank im Speisesaal. Einer der Bewohner schläft nachts oft lieber auf dem Sofa im «Stübli». Für Raucherinnen und Raucher ist im Wintergarten eine Raucherecke eingerichtet, Brandlöcher übersäen die Tische, die Feuerzeuge sind angekettet. Das Doldertal soll für alle ein schönes letztes Zuhause sein, wo Menschen bis zum Schluss möglichst sie selber sein können, so die Heimleiterin Brigitte Meister.

Denn jede und jeder lebt hier in ihrer, seiner eigenen Welt. Oder genauer gesagt: in einer eigenen vergangenen Welt. Die Fachsprache nennt dies Retrogenese, das schrittweise Zurückfallen in die Kindheit, früheste Kindheit. Dort ist Frau K. angekommen. Sie lebt in der «Oase», einem Viererzimmer für BewohnerInnen in einem fortgeschrittenen Stadium der Demenz. Im Gegensatz zu anderen Winkeln im Heim ist es hier bewusst ruhig und gedämpft. Vieles erinnert an ein Kinderzimmer: die gelben Wände, die dunkelblaue Zimmerdecke, die Bilder mit Katzenmotiven, die Baldachine aus transparentem Stoff, die Schaukel auf dem verglasten Balkon, die Puppen und Plüschtiere. Die Körperpflege geht bei Frau K. nur noch im Liegen, begleitet von einer Melodie aus einer Spieldose. Über dem Bett dreht sich ein Mobile mit rosaroten Federn. Es bringt etwas Bewegung in ein Leben, das sich oft in stundenlangem Starren an die Decke erschöpft. Zum Frühstücken hebt Nicole Haas-Clerici Frau K. aus dem Bett und setzt sie an den Tisch nebenan. Frau K. wirkt sehr steif und hat ihre Augen zugekniffen, als wolle sie von ihrer Umgebung nichts mehr wahrhaben. Die Pflegefachfrau reicht ihr ein Milchfrappé in einem fluoreszierenden roten Plastikbecher. Sie drückt ihn in ihre Hand und führt diese langsam zum Mund, woraufhin Frau K. selbstständig kleine Portionen schluckt. Vanillegeschmack, möglichst süss, das erinnert ein wenig an die Muttermilch. Danach ein Birchermüesli. Den Löffel lässt Haas-Clerici plötzlich im Mund von Frau K. stecken und erklärt: «Ich könnte sie schnell füttern und fertig. So aber versuche ich, die noch vorhandenen Ressourcen zu aktivieren.» Was diesmal nicht klappt: Der Löffel bleibt im Mund, Frau K. will ihn heute nicht selber herausnehmen.

Die Rollen mitspielen

In der Demenzbetreuung verabschiede man sich heute vom Realitätsbezug, erklärt Bernadette Meier, Pflegeleiterin im Doldertal. Demenzkranke werden nicht zurechtgewiesen, ihnen muss nichts mehr beigebracht werden, man tadelt sie nicht. Vielmehr fragt man sich: In welcher Welt steckt sie oder er, wo muss ich die Person abholen? Meier gibt ein Beispiel: Herr M. war jahrzehntelange Patron einer Firma. Jetzt lebt er ausschliesslich in seiner Arbeitswelt, für ihn pressierts, für ihn müssen Menschen chrampfen. Entsprechend spitz fallen seine Bemerkungen aus. «Wir bestätigen seine Ansichten, klagen mit ihm darüber, wie faul alle sind und so weiter», so Meier. Kranke sollen ihre Defizite nicht mehr spüren, eine möglichst grosse Autonomie erfahren und sich wohl fühlen. Dazu gehört auch der massvolle Einsatz von Medikamenten, seien es beruhigende oder schmerzstillende.

Die meisten Menschen sind in einen Lebensabschnitt zwischen zwei und 25 Jahre zurückversetzt, was auch erkläre, weshalb sie ihre eigenen Kinder meist nicht wiedererkennen, dafür oft zu ihren Eltern nach Hause wollen. Für Meier ist der Alltag eine Herausforderung, manchmal traurig, aber auch schräg und erheiternd. Jedenfalls kräftezehrend: Mit den Demenzkranken ist der für uns übliche, von der Vernunft geprägte Umgang nicht mehr möglich. Eine Beziehung lässt sich oft nur noch über den Austausch von Gefühlen herstellen, was dem Pflegefachpersonal viel abverlangt. Die meisten Angestellten arbeiten daher Teilzeit und brauchen zwischendurch eine längere Auszeit. «Es geht hier den ganzen Tag zu wie auf der Theaterbühne, und wir spielen die Rollen mit, in die unsere Bewohner geschlüpft sind», so Bernadette Meier.

Zum Mittagessen kommen fast alle in den grossen Speisesaal. Eine Bewohnerin wartet dort schon seit einer Stunde artig und beinahe regungslos. Sie fällt auf mit ihrem Kleid, den schicken Schuhen, ihrer eleganten Körperhaltung und ihren beiden Händen, die gefaltet auf dem Handtäschchen ruhen. Sie könnte auch in einem Café vor ihrer Schale Gold sitzen. Für einige BewohnerInnen muss ein Pfleger nun das Essen im Teller in mundgerechte Häppchen zerlegen. Andere essen selbstständig, wenn auch mitunter sehr langsam. Eine Frau am Tisch beginnt damit, die Erbsen unter den Kartoffelgratin zu verstecken. Bissen für Bissen arbeitet sie sich durch den Gratin, um auf die versteckten Erbsen zu stossen, die sie schliesslich einzeln aufgespiesst zum Mund führt. Nach einer Stunde ist der Teller immer noch nicht leer. Frau B. dagegen speist mit grossem Vergnügen und lobt die Küche über alles. Der Teller ist rasch leer gegessen, und ihr bleibt der Seufzer, dass dies nun auch schon wieder vorbei sei. Kurz darauf fragt sie aufrichtig nach, ob sie schon gegessen habe. Eine Pflegefachperson erklärt später die Situation: Frau B. esse nicht nur gern, sie besitze auch kein Sättigungsgefühl, weshalb das Personal aufpassen müsse, dass sie sich nicht mehrfach bediene, möglicherweise auch aus den Tellern ihrer Nachbarinnen.

Anfänglich unglücklich

Das gängige Bild der willenlosen Wesen trifft auf die Demenzkranken im Doldertal nicht zu. Im Gegenteil: Jede Bewohnerin, jeder Bewohner ist eine ausgeprägte Persönlichkeit. Es ist Nachmittag, einige legen sich hin, decken sich zu und machen ein Nickerchen; jemand setzt sich ans Klavier und spielt. Nicole Haas-Clerici gesellt sich zum achtzigjährigen Herrn K. auf dem Sofa im Speisesaal, sie tauschen Zärtlichkeiten aus, verbal und durch Berührungen. Zusammen mit ihr schaut Herr K. sich das Kinderbuch vom kleinen und vom grossen Hasen an, lässt sich einige Stellen vorlesen. Immer wieder kommentiert er die Geschichte, zeigt sich erstaunt über deren Fortgang oder freut sich über die plötzliche Wendung. Seine Stimme klingt kräftig, er spricht ein klares, fast bühnenhaftes Hochdeutsch.

Herr K. war Schauspieler. Eines Tages vergass er seine Texte, so machte sich die Krankheit bemerkbar. Weil er kurz zuvor eine schwere Herzoperation hatte, vermutete man darin die Ursache. Doch 2002 erbrachte eine Abklärung im Unispital Zürich die Diagnose Alzheimerkrankheit gemischt mit einer gefässbedingten Demenz. Immer öfter blieb Herr K. bei seiner getrennt wohnenden Lebenspartnerin, die schliesslich die Wohnung komplett umstellte, damit er bei ihr einziehen konnte. Nach sechs Jahren meldete sie ihn im Doldertal an. Dann ging alles ganz schnell, nach drei Monaten bereits war ein Platz frei. Das Tempo sei für beide schwierig gewesen, erzählt die Lebenspartnerin. Grosse Schuldgefühle hätten sie geplagt, während er im Heim anfänglich sehr unglücklich gewesen sei. Sie besucht ihn täglich, manchmal geht er übers Wochenende zu ihr nach Hause. Die ausgezeichnete Betreuung habe sie schliesslich davon überzeugt, dass er am richtigen Platz sei. Unterdessen sei auch er im Doldertal angekommen, ihm gefalle es jetzt.

Man sieht Herrn K. das Alter nicht an, er ist ein ausgesprochen galanter, liebenswürdiger Mensch, bedankt sich für alles und benutzt noch immer die Fertigkeiten, mit denen er sein Leben bestritten hat: die gepflegte Sprache, den gewählten Ausdruck, die präzise Mimik. Haas-Clerici fordert ihn auf, Wilhelm Buschs Liebesgedicht vom Bächlein vorzutragen. Er tut es mit unglaublicher Verve, gekonnt und fehlerfrei. Nach vielen heiteren Erlebnissen im Doldertal gehört dieser Moment zu den nachdenklichen: Man hat einen erwachsenen Menschen vor sich, dem man die Krankheit nicht ansieht, von dem man erahnen kann, was er in seinem Leben alles zustande gebracht hat. Jetzt aber ist das Hirn geschrumpft, vieles ist unwiderruflich verloren.


Demenz

Bei der Alzheimerkrankheit oder einer anderen Demenzerkrankung werden die Nervenzellen im Gehirn fortlaufend zerstört. Dadurch nimmt die geistige Leistungsfähigkeit ab: Beeinträchtigt sind das Gedächtnis, aber auch die Sprache, die Lernfähigkeit oder das Planen und Organisieren von alltäglichen Dingen.

In der Schweiz sind gegenwärtig rund 100 000 Menschen an einer Demenz erkrankt. Mit 65 Jahren leidet ein Prozent der Bevölkerung an einer Demenz, danach verdoppelt sich der Krankenanteil alle fünf Jahre. Über 40 000 Demenzkranke leben im Heim.



Weitere Informationen:

Schweizerische Alzheimervereinigung: www.alz.ch

Altersheim Doldertal: www.doldertal.ch