Neat: An guten Tagen drei Meter

Nr. 50 –

Zu Besuch im Baulos 360, Abschnitt Sedrun, bei den Männern, die im Gotthardmassiv den längsten Eisenbahntunnel der Welt bauen.


Christophe ist müde. Er kriegt zu wenig Schlaf. Seit Tagen telefoniert der Zimmernachbar nebenan drei Stunden jede Nacht. Und die Wände sind dünn im Baustellendorf, wo sich Container an Container reiht, Zimmer an Zimmer, Zellen eher. Vielleicht geht er doch mal rüber, denkt er, weil er heute Morgen wieder um fünf aufstehen musste, Frühschicht. Andererseits: Wer im Tunnel arbeitet, muss tolerant sein. Da unten ist jeder auf jeden angewiesen und schlechte Stimmung deswegen nicht gut, sagt Christophe. Er stammt aus dem Wallis, ein ruhiger Mensch, 48, klein, gedrungen, mit breitem Kreuz und einem gutmütigen Gesicht.

Er ist Teil eines Heeres von Tunnelarbeitern, 2600 Menschen insgesamt, die meisten sind Mineure, dazu Ingenieure, Statiker, Geologen, die nun schon seit neun Jahren am Gotthardbasistunnel arbeiten. Basistunnel, weil man den Berg an seiner Basis packt, nicht mehr auf halber Höhe wie 1882 beim ersten Eisenbahntunnel oder 1970 beim Bau des Strassentunnels. Die Neat, die Neue Eisenbahn-Alpentransversale, wird ein 300 Millionen Jahre altes Gebirge vom Hindernis in einen Statisten verwandeln und den Gotthardpass, den berühmtesten Keil zwischen Nord und Süd, endgültig überwinden.

Dereinst sollen die Züge hinter Erstfeld im Kanton Uri in einem Schlund mit zwei separaten, einspurigen Röhren verschwinden, der sie 57,2 Kilometer weiter wieder ausspuckt, in Bodio. Geplante Eröffnung: Ende 2017. Achtzehn Jahre Bauzeit, ein halbes Arbeitsleben. Ein epochales Werk. 24 Millionen Tonnen Gestein, genug, um fünfmal die Cheopspyramide zu füllen, werden am Ende aus dem Berg gebrochen sein. Und 24 Milliarden Franken in ihn hineingeschoben. Eine Stunde weniger mit der Bahn wird die Fahrt künftig von Zürich nach Mailand dauern, weil man mit 230 Stundenkilometern durch den Gotthard rasen wird und die Kinder der Arbeiter in zwanzig Minuten durchfahren können, weswegen ihre Väter sie achtzehn Jahre lang kaum gesehen haben werden.

Bei Sedrun brauchts Geduld

Noch aber ist 2008, November. Halbzeit. Auch hier, im Baulos 360, Abschnitt Sedrun, beim kleinen Bündner Wintersportort. Um die Bauzeit zu halbieren, beschloss die AlpTransit Gotthard AG, Bauherrin des Basistunnels, dem Berg an fünf Stellen gleichzeitig in die Eingeweide zu greifen. Am Nord- und Südportal, dazu bei Kilometer 8, 20 und 40, Amsteg, Sedrun und Faido - Zwischenangriffe genannt.

Der in Sedrun ist der schwierigste. Nirgendwo sonst ist so viel Gotthard über dem Tunnel. Bis zu 1600 Meter Fels drücken hier auf die Röhren. Nirgendwo sonst auch geht es so langsam voran wie hier. Weil Sedrun Teil des Tavetscher Zwischenmassivs ist, einer Mischung aus brüchigem Schiefer und weichem Phyllit. Die grossen Tunnelbohrmaschinen, mit denen man vorwärtsdrängt, würden darin stecken bleiben wie in Hefeteig. Deswegen kann man in Sedrun nur sprengen. Meter um Meter dem Berg entreissen. Einen an schlechten Tagen, zwei an mässigen, drei an guten. Ein zähes Ringen.

Um 6 Uhr, um 14 Uhr und um 22 Uhr ist Schichtwechsel. Jeweils 150 Mann pro Schicht. Auch samstags, sonntags, feiertags. Nur am 4. Dezember nicht. Alljährlich hält man an jenem Tag eine Messe ab zu Ehren der heiligen Barbara, Schutzpatronin aller Bergleute und Mineure, die in Sedrun als rosenbekränzte Statue vor dem Baustelleneingang steht. Sechs Tote bei Unfällen während der bisherigen Arbeiten konnte auch sie nicht verhindern. Die beiden letzten vor drei Jahren. Sie wurden in Bodio von einem Versorgungszug im Tunnel überrollt.

Schichtwechsel in der Staziun Alpina. Hier beginnt die Reise in die Erde. Nächste Fahrt: 5.30 Uhr. Noch fünf Minuten. Das Rauchen ist erlaubt - alle rauchen. In einem Glaskasten hängt ein Plakat: 0,5 bis 0,99 Promille - Wegweisung vom Arbeitsplatz, Verwarnung. Ab 1,00 Promille - Wegweisung von der Baustelle, Antrag auf Entlassung. Eine kleine Schmalspurbahn rattert in die Haltestelle. TGV Tujetsch steht vorne drauf. Erschöpfte Männer steigen aus, müde Männer steigen ein, in robusten orangefarbenen Arbeitskleidern mit reflektierenden Streifen. Handschuhe, Schutzbrille, Ohrstöpsel, Helm, schwere Stiefel. An den Gürteln hängen eine Lampe und ein kleines Funkgerät, das Sprengungen durch einen lauten Pfeifton ankündigt. Eineinhalb Kilometer Fahrt sind es bis zum Einstiegsschacht.

Zehn Tage Berg, vier Tage Heimat

Christophe hat die Augen geschlossen, er holt ein paar Minuten Schlaf nach. Morgen fährt er nach Hause. Raus aus dem Berg, ins Auto, drei Stunden, wenn er gut durchkommt, bis Chamoson im Wallis, zu Frau, Tochter und den drei Hunden. Er will den Umbau seines Stalls voranbringen. Und nach seinen Bienen schauen. Viel draussen sein vor allem. Zehn Tage fahren sie hier in den Berg, dann vier Tage in die Heimat. Die aus Ostdeutschland oder Slowenien verbringen zwei davon im Auto. Zehn Tage Arbeit, vier Tage frei - ihr Rhythmus seit Baubeginn in Sedrun, Februar 1999.

Ankunft am Einstiegsschacht: Immer ein Dutzend benutzt den Aufzug, einen eisernen Käfig an Stahlseilen, nur Gitterrost unter den Füssen und 800 Meter schwarzes Nichts bis hinunter zur Sohle, dort, wo der Tunnel verläuft. Drei Grad minus herrschen hier oben.

Die Fahrt beginnt, zwölf Meter freier Fall je Sekunde. Kalter Wind. Luft verstopft die Ohren. Der Wind wird wärmer. In ihrem Inneren erhitzt sich die Erde alle hundert Meter um vier Grad. Es wird heller und lauter, beginnt zu dröhnen. Der Aufzug öffnet sich. Die nächsten acht Stunden redet man nur noch Nötiges, und das sehr laut.

Ein Gewürm aus Rohren, Schläuchen, Bändern, das sich den Berg entlangschiebt. Wassergekühlte Frischluft von oben wird hinuntergepumpt, die den Staub zerteilt und die Temperatur auf 28 Grad herunterkühlt. Ohne sie wären es mehr als vierzig. Über ein Förderband fährt unablässig ausgebrochenes Gestein vorbei, das von hier über einen zweiten Schacht nach oben verfrachtet wird.

Auf der Baustelle hat jeder seit Jahren seinen festen Platz. Christophe hat seinen ganz vorne. 4520 Meter entfernt vom Schacht, am südlichen Ende, wo gesprengt wird und also der Vortrieb geschieht. Hier unten nennt man das die Tunnelbrust. Morgen wird sie mindestens 4521 Meter entfernt sein und in einer Woche vielleicht 4535.

«Ja doch», brüllt Christophe, Mineur seit elf Jahren, früher Forstarbeiter, «Stolz empfindet man schon.» Das hier sei ja kein anonymes Stück Autobahn, wo man mal den Asphalt ausbessern müsse. Hier schreibe man schon so etwas wie Geschichte. Auch wenn man daran eigentlich nur in den ersten zwei Wochen dachte. Und vielleicht erst wieder zwei Wochen vor dem Durchschlag daran denken wird. In den zwölf Jahren dazwischen sei es Routine. Der Tag gehöre dem Berg. Der Abend dem Fernseher, dem Bier, der Langeweile. Oft natürlich auch der Sehnsucht nach Hause, die manche auch mal im Puff stillten, der vor einiger Zeit auf dem Baustellengelände aufgemacht hat. «Aber immerhin», schreit er, «kommt man jeden Tag dorthin, wo noch nie jemand war.» Es ist kurz nach sechs, er steigt auf einen Sprenglader Modell Dieci, ein kompaktes Fahrzeug mit vier schlanken Armen, die vorn aufmontiert sind, um Löcher für Sprengsätze in den Fels zu bohren. Er dreht den Kopf zurück beim Einsteigen: «Das hat fast was von einem Astronauten.» Dann rammt er in den Berg.

Sissi 1 und Sissi 2

Laserpeilgeräte geben die Richtung vor, Koordinaten werden von satellitenunterstützten Computern korrigiert, sodass man beim Durchbruch mit höchstens zwanzig Zentimetern Abweichung aufeinandertreffen wird. Alle hundert Meter werden Sondierungsbohrungen vorgenommen. Wenige kennen sich damit so gut aus wie Yves Bonanomi, ein Mann von Ende vierzig, der viel lacht. Man müsse die Proben analysieren, erklärt der Geologe, weil niemand den Berg röntgen könne. Zwar sei der Gotthard senkrecht geschichtet, sodass man von der Oberfläche recht gut auf die Beschaffenheit im Inneren schliessen könne. Ausserdem verlaufe der Tunnel in einer geschwungenen S-Linie, mit der man schon bei der Planung versuchte, den grössten Unwägbarkeiten auszuweichen. «Aber die Natur ist nie ganz berechenbar.» Im Abschnitt Faido ist es deswegen schon passiert, dass eine Tunnelbohrmaschine feststeckte. Das Gestein vor ihr war nicht hart, wie vorausgesagt, sondern durch tektonische Spannungen innerhalb des Berges zermahlen worden. Wochen vergingen, ehe die Maschine befreit war.

Aber nun laufen die beiden Maschinen in Faido auf Hochtouren: neun Kilometer Fels, drei Jahre Bau- und später drei Minuten Fahrtzeit südlich der Tunnelbrust in Sedrun. Sissi 1 und Sissi  2 haben sie die Maschinen getauft. 440 Meter lang jede, angetrieben von 5000 PS, eine rollende Fabrik, auf hydraulischen Füssen, die sich weiterbewegen, sobald der Bohrer mit seinen knapp neun Metern Durchmesser wieder ein Stück aus dem Gotthard gekratzt hat.

Sein letzter Tunnel

Stefan Flury ist zufrieden, hat man doch erst vor kurzem einen neuen Rekord aufgestellt: 33 Meter Vortrieb an nur einem Tag. Flury ist Bauleiter des gesamten südlichen Abschnitts. Flury, ein grosser Mann mit grauen Haaren, ist Dienstältester der ganzen Baustelle. Er stiess bereits 1990 als 36-jähriger Bauingenieur zum Projekt. Der Schwerverkehr, der sich jedes Jahr mit 1,4 Millionen Lkws allein durch den Gotthardstrassentunnel zwängt, soll auf die Schiene. «Wir wollten ja den Tunnel nicht einfach bauen, weil er schön und gross ist, sondern Teil der neuen Schweizer Verkehrspolitik sein soll», bekennt Flury. Keine beschwerliche Steigung mehr bis auf 1150 Meter Höhe mit zwei Loks wie beim alten Eisenbahntunnel. In Zukunft geht es doppelt so schnell und mit doppelt so viel Ladung. Über Flury rauscht die Autobahn, ein Laster nach dem anderen auf der grossen Achse Hamburg-Florenz. Man wird sehen, was 57 Kilometer Tunnel ausrichten. Für Flury ist es auf jeden Fall der letzte Tunnel. 2017 ist er 62. «Am Ende werd ich glücklich sein, wenn ich das kleine Rädchen gut gedreht habe, das ich drehen sollte.»

Nacht legt sich auf Sedrun, Schnee, sechs Uhr am Abend. «Im Berg fühlt man sich den Tag über aufgehoben», sagt Christophe und steigt die Treppe hinauf zum Container H. «Aber danach . . .» Er schliesst auf, Zimmer 223. «Na ja, ich komm ganz gut mit mir allein klar.»

Blick durchs Fenster. Nur die Baustelle ist hell erleuchtet. Egal. Die meisten haben sowieso den Rollladen unten. Abwechslung gebe es auch, fünf Minuten sind es bis zum «Solliva», einer gemütlichen Kneipe. Die einzige im Ort. Abends aufgeteilt in Mineure und Dorfbewohner. Oder das Hallenbad. Wer schwimmt nach einer Schicht im Berg? Oder die Berge und die Skipisten. Wer fährt Ski nach einer Schicht im Berg?

«240 Tage im Jahr wohnt man hier», sagt Christophe, «wenn man es so sieht, ist es das Zuhause.» Noch neun Jahre. So lange müsse man sich keine Sorgen machen, was danach komme. Geld muss ja verdient werden. Und man verdient nicht schlecht hier. Nachtzulage, Wochenendzulage. Zwischen 5000 und 7000 Franken im Monat. Und für das Zimmer, zehn Quadratmeter, fünfzehn die Nacht inklusive Putzfrau.

Ein Fernseher, ein kleiner Schreibtisch, ein Regal. Darauf ein Bild der heiligen Barbara, ein Glas Honig seiner Bienen, Ariel, Duschgel, die Bibel. In der Ecke eine Gitarre, «Rock und Blues ab und zu». Meist aber durch das Fernsehprogramm zappen. Ins «Solliva» geht er nicht mehr oft. Hat man gesehen nach den Jahren. In den Puff sollen andere.

Ein Jahrhundertwerk. Der Tunnel.

Morgen um 15 Uhr sind wieder zehn Tage vorbei. Duschen, ins Auto, nach Hause. Endlich.