Deutschland: Eine Frau wie das Land

Nr. 3 –

Kriegseinsatz in Afghanistan, Rente mit 67, gesetzlicher Mindestlohn - in zentralen Fragen ist eine grosse Mehrheit der deutschen Bevölkerung anderer Ansicht als die Regierung. Und doch ist die Regierungschefin überaus beliebt. Warum?


Wie wird Bundeskanzlerin Angela Merkel durch die schwere Wirtschaftskrise kommen? Erst im September wird der Bundestag gewählt, und bis dahin gibt es für die bislang von Meinungsumfragen Verwöhnte noch viele gute Gelegenheiten, politisch abzustürzen.

Merkel befindet sich derzeit in einer für sie ungewohnten Lage: Noch im vergangenen Oktober spannte sie mit ihrem Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) den Rettungsschirm für die Banken auf und wurde rundherum als Krisenmanagerin gelobt. Seither aber hagelt es Kritik - aus den Medien, von der Opposition, zum Teil aus der eigenen Partei, der CDU, und von der CSU sowieso. Der Tenor: Die Regierung Merkel zögere, denke zu lange nach und gebe zu spät zu wenig Geld aus, um der Rezession entgegenzusteuern. Auch das Ausland murrt über die deutsche Exportnation (siehe WOZ Nr. 51/08), die ihre Wirtschaft offenbar von den Konjunkturprogrammen der Nachbarstaaten retten lassen will.

Nun ist es nicht so, dass die Regierung nichts unternimmt: Im vergangenen Jahr gab es Bürgschaften und bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen; und diese Woche wird ein grosses Paket aus öffentlichen Investitionen, Steuer- und Abgabensenkungen und einem Fonds mit günstigen Krediten für angeschlagene Firmen geschnürt. Doch der Vorwurf bleibt: zu spät, zu wenig.

Der richtige Zeitpunkt

Grundsätzlich bleibt Angela Merkel bei ihrer Linie. Man könne das Ausmass der Krise noch gar nicht überblicken, argumentiert sie. Der Staat brauche Zeit, um über die richtigen Schritte zu beraten, damit er nicht unsinnig Geld ausgebe. Und: Man müsse erst schauen, ob die bisherigen Massnahmen griffen. Es ist offensichtlich: Merkel fürchtet sich davor, dass die eigentlichen Hiobsbotschaften - es gibt viele Gerüchte über weitere faule Kredite, auf denen Banken sitzen - erst im Mai verkündet werden. Dann hätte der Staat aber bereits sein Pulver verschossen, und Merkel stünde, wenige Monate vor der Bundestagswahl, mit leeren Händen da. Die BürgerInnen aber sollen am Wahltag die Taten der Regierung noch in guter Erinnerung haben. Dies erlebt derzeit der britische Premier Gordon Brown: Schon vor Monaten hatte er schnell und massiv reagiert. Doch dann stiegen die Arbeitslosenzahlen, und nun kommt er erneut unter politischen Druck.

Doch die Frage bleibt: Sind Merkels Argumente, trotz ihrer taktischen Erwägungen, so schlecht? Wer die Meinung vertritt, dass der Staat nicht in der Lage ist, quasi auf Bestellung kapitalistische Krisen zu beheben, und dass das ökonomische Wissen über die Wirkung staatlicher Massnahmen sowie das Wissen über das Ausmass der Krise viel zu begrenzt sind, kann ihr kaum widersprechen. Interessant ist: Zu Beginn eines Superwahljahrs (vgl. Kasten auf Seite 8) hält die Kanzlerin an einer Linie fest, gegen die fast alle Sturm laufen. Doch wer trifft den Nerv der Bevölkerung? Die Hessen-Wahl am Sonntag wird eine erste Antwort geben.

Merkels kugelsichere Weste

Angela Merkel verfügt über eine ganz besondere Hausmacht: Die regelmässig erhobenen Umfragen zur Befindlichkeit der deutschen Bevölkerung ergeben ebenso regelmässig, dass die Kanzlerin fast unverschämt beliebt ist. Solche Werte kommen einer kugelsicheren Weste gleich - diese nützt sowohl gegenüber ParteifeindInnen als auch gegenüber politischen GegnerInnen. Da Merkel nicht selten ihre Meinung ändert und sie viele Themen symbolisch besetzt, diese aber kaum konsequent verfolgt, stellt sich die Frage: Woher kommt ihre Popularität? Warum wollen 55 Prozent der Deutschen sie wieder als Kanzlerin haben?

Der wichtigste Grund ist: Besser als sie repräsentiert zurzeit niemand diese Republik. Deutschland ist ein Staat der Unentschiedenheit mit einer Gesellschaft im Schwebezustand - auf jeden Fall eine Gesellschaft der Vielfalt. Deutschland selbst ist kein Vorbild, obwohl es aufgrund seiner ökonomischen Stärke und Möglichkeiten genau das sein könnte - indem es eine Politik aus einem Guss entwickeln würde.

In Deutschland gibt es einen (noch) kräftigen Sozialstaat und einen zunehmend ausufernden Niedriglohnsektor, niedrige Steuern und hohe Abgaben, ein bisschen Solarenergie da und ziemlich viel Kohle und Kernkraft dort, ein paar Auslandseinsätze, aber keine richtigen Kriege, eine ausgeprägte Machtteilung und keine richtige Beteiligung der BürgerInnen. Man schaut die Politik mal von den USA ab, mal von Britannien, Neuseeland oder den Niederlanden - vor allem aber von den skandinavischen Staaten. Über dem Ganzen liegt die Botschaft: Das Gute ist nicht richtig gut, das Schlechte aber auch nicht wirklich schlimm.

Eine Kanzlerin für alle Fälle

Angela Merkel ist stark, weil sie alle Seiten ernst nimmt. Das klingt banal, ist jedoch von grosser Bedeutung. Sie schliesst kein Thema und keine TeilnehmerInnen aus. Das war bei ihrem Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) anders. Der schloss, auf die Situation der Frauen angesprochen, mit dem schnell dahingeworfenen Wort von «Frauenpolitik und so Gedöns» (Geschwätz) die Hälfte der Bevölkerung und eines der zentralen Themen dieser Gesellschaft aus seiner Welt aus. Der liess sich als Kanzler der Bosse schmeicheln und drängte damit die soziale und die ökologische Frage an den Rand. Solche Dummheiten begeht Merkel nicht.

Die Kanzlerin macht das anders: Sie stimmt etwa zuerst einer Reform des Föderalismus zu, die den Bund in allen Bildungsfragen zugunsten der Bundesländer entmachtet, um anschliessend das Thema Bildung zur Chefsache zu erklären; das ist inhaltsleere Symbolpolitik in höchster Perfektion. Sie nimmt das Thema Klimawandel auf, begutachtet im roten Anorak schmelzende Antarktisgletscher, setzt ehrgeizige Ziele - und steht zugleich in Brüssel zugunsten der deutschen Automobilindustrie in Sachen Klimaschutz auf die Bremse.

Sie verweigert sich auch nicht dem Thema Mindestlohn, blockiert jedoch die konkrete Umsetzung, wo sie nur kann. Sie scheut sich nicht, bei Betriebsversammlungen von VW in Wolfsburg aufzutreten - und lässt eine begeisterte Belegschaft zurück. Sie geht auf alle Gewerkschaftskongresse und erntet dort mindestens Respekt. Den Kündigungsschutz schwächen, die Tarifautonomie unterlaufen, die Mitbestimmung einschränken, das alles ist für sie kein Thema mehr; und die Gewerkschaften haben das registriert. Die Debatte über die exorbitant hohen Managergehälter wehrt die CDU nicht mehr als Neiddebatte der kleinen Leute ab - nein, Merkel greift auch dieses Thema auf, spricht über die Gier der Manager, fordert die Wirtschaftsverbände zum Handeln auf. Andererseits lehnt sie es als Regierungschefin ab, konkret etwas gegen zu hohe Gehälter zu tun.

Ähnlich handelt die Kanzlerin bei den Themen Menschenrechte, Integration von AusländerInnen, Gleichberechtigung der Geschlechter, Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch da tariert sie Interessen aus: Ja zu Kinderkrippen, Ja zum Elterngeld, aber auch ein Ja zum Betreuungsgeld für Familien, die ihre Kinder zu Hause aufziehen wollen. Schliesslich gebe es verschiedene Lebensstile, so Merkel, «politische Bevormundung» sei fehl am Platz.

So agiert die Christdemokratin auch in der jetzigen Krise. Das Mantra vom zwingend notwendigen Abbau der Staatsschulden gibt sie nicht auf - und leitet zugleich eine keynesianistische Krisenpolitik ein. Die Zeit, die sie sich für Beratungen ausbedungen hat, nutzte sie allerdings nicht, um die besten volkswirtschaftlichen Köpfe ins Kanzleramt zu bitten. Nein, sie lädt die erste, zweite und dritte Garde aller LobbyistInnen des Landes ein. Entsprechend undurchdacht ist das nun aufgelegte Konjunkturprogramm, zusammengestrickt aus zahlreichen Einzelinteressen: Es spiegelt vor allem die momentane Stärke der jeweiligen Wirtschaftslobby wieder. Das ist Merkels Art, eine Gesellschaft der Vielfalt zu regieren. Alle sollen wenigstens mit der begründeten Hoffnung leben: Bei der komme ich nicht zu kurz.

Fliehende Sozialdemokratie

Umsichtig, klug, konsequent und weitsichtig ist das alles nicht. Derselbe Sachverhalt wird nur anders verpackt. Merkel wirkt auch stark, weil sie es mit einem leichten Hauptgegner zu tun hat, mit der «Vereinigung weglaufender Sozialdemokraten»: Oskar Lafontaine, heute Vorsitzender der Linkspartei, war der Erste, der ausscherte. Ihm folgte Schröder, der mit der Agenda 2010 in eine grundsätzlich andere Politik floh und sich später in die Arme des russischen staatlich-mafiösen Energiekonzerns Gasprom warf. Schröders langjähriger Superminister Wolfgang Clement fand beim Temporärarbeitskonzern Adecco Unterschlupf, ficht für die Atominteressen von Energiekonzernen wie RWE und hat die SPD mittlerweile verlassen. Der zeitweilige SPD-Chef Franz Müntefering trat ebenfalls zurück und ist nur deshalb wieder da, weil Kurt Beck den Bettel hingeschmissen hat. Angesichts solcher SPD-Karrieren hat Merkel ein leichtes Spiel.

Sie hat sich mit ihrem Amtsantritt 2005 das deutsche Schritttempo zu eigen gemacht. Von ihr kommt keine verbale Kraftmeierei wie von der rot-grünen Regierung Schröder, die ihre Politik gern als alternativlos bezeichnete und ihre grossmundigen Versprechungen nur selten halten konnte. Merkel pflegt einen anderen Stil: ruhig, zurückhaltend und einer föderalen Demokratie angemessen, in der viele Machtzentren bestehen.

Ihr Ziehvater Helmut Kohl (CDU) war ein Meister der innerparteilichen und der persönlichen Kommunikation, aber er (verab)scheute Massenmedien. Der sogenannte Medienkanzler Gerhard Schröder liebte die Massenmedien, mied aber das Gespräch mit seiner Partei. Verglichen mit Angela Merkel waren beide kommunikative Höhlenmenschen. Denn sie widmet sich nicht dem einen oder dem anderen, sie widmet sich allem. Mitte Juni 2008 hielt der «Spiegel»-Reporter Christoph Schwennicke eine kleine vielsagende Szene fest. «Det is keen Bild hier», habe die Kanzlerin einen Sicherheitsbeamten angefaucht, der ihr aus Versehen so nahe gekommen war, dass ein Kameramann die Kanzlerin aus einer für sie etwas ungünstigeren Position filmen musste. Mit klaren An- und Handweisungen rückte Merkel ihr Bild zurecht.

Merkel, die erste wirkliche Kommunikationskanzlerin, ist stark, weil sie noch nicht entzaubert ist, weil sie sich keiner Debatte in der Gesellschaft verweigert und weil sie ihre Entscheide nicht in der martialischen Form des definitiv Endgültigen und der in Stein gemeisselten Erkenntnis präsentiert. Das mag dem einen oder der anderen opportunistisch erscheinen. In Zeiten, in denen das Sichere die Ausnahme ist, wirkt diese Haltung jedoch als die einzig glaubwürdige.


Das Superwahljahr 2009

Im Jahr 2009 stehen in Deutschland viele politische Entscheide an. Den Auftakt macht an diesem Sonntag die Landtagswahl in Hessen. Den Meinungsumfragen zufolge kommt es erneut zu einer bürgerlichen Landesregierung von CDU und FDP mit Roland Koch an der Spitze. Koch hatte vor gut einem Jahr gegen die damalige SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti seine absolute Mehrheit im hessischen Landtag verloren, konnte aber mit der FDP keine Regierung bilden. Auf der anderen Seite verfehlte jedoch Ypsilanti, die mit einem ehrgeizigen linken Programm vor allem in der Energie- und der Bildungspolitik angetreten war, eine rechnerisch mögliche linke Mehrheit von Linkspartei, Grünen und SPD: Sie scheiterte zweimal an ihrer eigenen Partei, die in einen linken und in einen rechten Flügel gespalten ist. Aufgrund dieser Vorgeschichte - Ypsilanti scheiterte am ungeklärten Verhältnis der SPD zur Linkspartei - hat die Wahl in Hessen bundespolitische Bedeutung.

Die nächsten Akte: Im Mai wird der Bundespräsident neu gewählt. Im Juni stehen die Europawahl und in insgesamt acht Bundesländern Gemeindewahlen auf dem Programm. Ende August folgen Wahlen in Sachsen, Thüringen und im Saarland. Thüringen und das Saarland sind zwar klein und deshalb im Konzert der Bundesländer ohne grosses Gewicht. Aber in beiden hat die Linkspartei Chancen, jeweils stärkste politische Kraft zu werden und damit den Ministerpräsidenten zu stellen; im Saarland tritt Oskar Lafontaine als Spitzenkandidat der Linkspartei an. Die Resultate dort werden deshalb einen grossen Einfluss auf den letzten Urnengang in diesem Jahr haben: die Bundestagswahl von Ende September.