Gehirn und Geschlecht: So einfach ist das nicht

Nr. 4 –

Sind die Unterschiede zwischen Frauen und Männern neurobiologisch festgelegt und unveränderbar? Die Biologin Kirsten Jordan widerspricht dieser These - mit neurowissenschaftlichen Argumenten.


Das Buch «Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken» hat sich millionenfach verkauft. Im Bestseller behaupten Allan und Barbara Pease - scheinbar wissenschaftlich begründet -, dass Unterschiede zwischen Frauen und Männern evolutionär determiniert und kaum veränderbar sind: Männer sind aufgrund ihrer Hirnstruktur wortkarg und nicht in der Lage, gut zu kommunizieren. Frauen schaffen es nicht, einen Stadtplan korrekt zu lesen, da sie keinen Hirnbereich für das räumliche Denken besitzen. In dieselbe Kerbe schlägt auch die Neuropsychiaterin Louann Brizendine in ihrem neusten Buch «Das weibliche Gehirn». Doch aus aktueller neurowissenschaftlicher Sicht stimmt das so nicht.

Unser Gehirn und unser Verhalten sind bezüglich Geschlechterdifferenzen nicht einfach biologisch festgelegt und nicht mehr veränderbar. Biologische und soziale Einflüsse greifen modulierend ein, wie die Forschung zeigt. Sehr interessant ist etwa die pränatale Phase der Gehirnentwicklung. So wird während der ersten Wochen der embryonalen Gehirnentwicklung im männlichen Organismus Testosteron produziert. Auslöser dieses Prozesses ist eine Genregion auf dem Y-Chromosom des Vaters, die sogenannte SRY-Region (Sex Determining Region of the Y-Chromosom).

Unterschiedliche Strukturen ...

Interessanterweise sind bis zu diesem Zeitpunkt die Gonaden - die späteren Geschlechtsdrüsen - so angelegt, dass sich aus ihnen sowohl männliche als auch weibliche Keimdrüsen bilden können. Wird nun die SRY-Genregion aktiviert, führt das letztlich dazu, dass sich die Gonaden zu männlichen Keimdrüsen - den Hoden - weiterentwickeln. Diese produzieren dann Testosteron. Wenn zu diesem Zeitpunkt allerdings kein Testosteron produziert wird, entwickeln sich immer die weiblichen Keimdrüsen, die Eierstöcke.

Testosteron wird grossenteils umgewandelt in Östradiol, ein weibliches Geschlechtshormon. Dieses leitet im männlichen Organismus strukturelle Veränderungen besonders in jenen Hirnregionen ein, die mit dem Sexualverhalten in Zusammenhang gebracht werden: Mittels Östradiol werden im Kern von Nervenzellen verschiedene Gene aktiviert und dadurch Proteine gebildet - zum Beispiel zum Aufbau neuer Synapsen, die die Nervenzelle mit andern Zellen verbinden. Dies führt im Hypothalamus, einem Steuerzentrum des vegetativen Nervensystems, zu Hirnstrukturen, die sexuell unterschiedlich geprägt sind.

So ist etwa jene Region des Hypothalamus, die an der Kontrolle des männlichen Sexualverhaltens beteiligt ist, bei männlichen Ratten nicht nur grösser, sondern enthält auch bis zu doppelt so viele Synapsen. Anderswo im Hypothalamus führen ganz ähnliche Mechanismen zu einer Abnahme von Synapsen im männlichen Gehirn. Deshalb finden sich in jener Region, die Prozesse wie die Brutpflege, Wachstum oder Stressreaktionen regulieren, bei weiblichen Ratten auch rund doppelt so viele Synapsen. Diese hirnanatomischen Unterschiede lassen sich grösstenteils auch beim Menschen feststellen.

Die Fachliteratur beschreibt auch für andere Hirnstrukturen geschlechtsspezifische Unterschiede: etwa für das Corpus Callosum, das die beiden Hirnhälften miteinander verbindet, sowie für die Amygdala und den Hippocampus. Die Amygdala ist in emotionale Prozesse eingebunden, der Hippocampus in Gedächtnisprozesse. Allerdings ist die Literatur dazu noch relativ widersprüchlich.

... unterschiedliche Leistungen?

Unterschiedliche Hirnstrukturen könnten theoretisch zu unterschiedlichen geistigen Leistungen führen. Bei solchen Schlussfolgerungen ist jedoch Vorsicht geboten: Auch wenn bekannt ist, dass Frauen und Männer sich in einigen kognitiven Leistungen unterscheiden - diese Unterschiede sind in der Regel deutlich geringer, als die eingangs erwähnten Klischees vermuten lassen.

Ein Beispiel für relativ eindeutige Geschlechtsunterschiede ist die Mentale Rotation, das gedankliche Drehen dreidimensionaler Figuren. Männer schneiden bei solchen Aufgaben meist besser ab. Das scheint auch damit zusammenzuhängen, dass Frauen und Männer dabei unterschiedliche Lösungsstrategien anwenden. Jene der Frauen ist offenbar die ungünstigere.

Wie bildgebende Untersuchungen nahelegen, nutzen beide Geschlechter bei der Mentalen Rotation ähnliche neuronale Netzwerke. Gleichzeitig sind aber bei unterschiedlichen Strategien unterschiedliche Hirnregionen beteiligt. Noch lässt sich nicht sagen, in welchen Hirnregionen sich die Geschlechter tatsächlich unterscheiden. Klar ist lediglich: Sowohl Frauen als auch Männer nutzen für räumlich-kognitive Aufgaben dieselben typischen Bereiche im Gehirn. Weniger ausgeprägt sind die Geschlechtsunterschiede bei Sprachleistungen. Zwar sind Frauen darin tendenziell besser, zum Beispiel in ihrem verbalen Gedächtnis. Bildgebende Untersuchungen sind allerdings ähnlich wie bei den räumlichen Leistungen noch widersprüchlich.

Kommt hinzu: Auch die Sexualhormone beeinflussen die geistigen Leistungen von Erwachsenen. Fest steht, dass die räumlichen Leistungen von Frauen im Verlauf des Menstruationszyklus schwanken. Sie sind besser zu Beginn des Zyklus, wenn die Östradiol- und Progesteronkonzentrationen niedrig sind, und fallen mit den hohen Konzentrationen beider Hormone in der Zyklusmitte ab. Genau umgekehrt verhält es sich im Fall sprachlicher Leistungen, wie verschiedene Studien zeigen. In eigenen Untersuchungen zu verbalen Gedächtnisleistungen schnitten Frauen am besten ab, wenn sie auf hormonale empfängnisverhütende Mittel verzichteten.

Erfahrung wichtiger als Hormone

Auch soziale Einflüsse verändern kognitive Leistungen - zum Beispiel das räumliche Denken: Erfahrung und Training verbessern hier die Testleistung, das zeigen experimentalpsychologische Untersuchungen. So ergab eine Studie mit über 3000 japanischen, kanadischen und deutschen Studentinnen und Studenten, dass im Test zur Mentalen Rotation Studierende der naturwissenschaftlich und technisch orientierten Wissenschaften deutlich besser abschnitten als Studierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. Denn wer ein naturwissenschaftliches oder technisches Fach studiert, beschäftigt sich intensiver mit räumlichen Konstruktionsaufgaben. Ausserdem ist ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen in diesen Studiengängen von Vorteil, für das Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften hingegen weniger bedeutsam.

Die Analyse eigener bildgebender Daten von über achtzig ProbandInnen verdeutlicht, welch grosse Rolle soziale Faktoren spielen können. Die ProbandInnen stammten ebenfalls aus verschiedenen Fachrichtungen und wurden vor und nach dem Training untersucht. Die Ergebnisse zeigen: Der Faktor «räumliche Erfahrung» beeinflusst die Aktivität sowohl in jenen Hirnregionen, die visuelle Reize verarbeiten, als auch in Bereichen, die an motorischen Vorstellungen und dem Steuern von Antworten beteiligt sind.

Erfahrene Personen verarbeiten die visuellen Informationen über die Figuren möglicherweise leichter und drehen diese in Gedanken wirklich. Und das ist offenbar eine optimale Strategie für das Lösen von Aufgaben zur Mentalen Rotation. Wir nehmen daher an, dass soziale Faktoren wie die Erfahrung mit einer kognitiven Fähigkeit neuronale Netzwerke umfassender verändern als biologische Faktoren wie Geschlecht und Sexualhormone.

Stereotype stören Hirnleistung

Zudem können auch Vorurteile und Stereotype individuelle kognitive Leistungen beeinflussen, wie aus der sozialpsychologischen Forschung schon lange bekannt ist. Besonders interessant ist daher die Frage, inwieweit sich geschlechtsspezifische Klischees auf die geistige Leistungsfähigkeit auswirken. Hier zeigen sowohl aktuelle als auch eigene Studien: Wird der Geschlechterrollen-Stereotyp aktiviert - etwa durch Anweisungen oder einen voreingenommenen Fragebogen -, kann das die Leistung bereits beeinflussen. So führt etwa der Hinweis darauf, dass Frauen im räumlichen Denken schlechter seien als Männer oder dass sie komplexe Mathematikaufgaben weniger gut lösen könnten, zu einer deutlichen Verschlechterung der weiblichen Leistungen.

Ein Resultat, das sich unterschiedlich erklären lässt. Auf jeden Fall scheinen emotionsrelevante Hirnareale dabei besonders beteiligt zu sein, wie erste bildgebende Studien zeigen: Diese Regionen bestimmen mit, wie wir emotionale Informationen wahrnehmen und deuten und wie wir negative soziale Informationen verarbeiten.

Eine mögliche Interpretation lautet daher: Wer den Stereotyp aktiviert, beschäftigt sich in der Folge auch mit seinen negativen sozialen und emotionalen Konsequenzen. Und dies führt dann dazu - so die eine Erklärung -, dass die Testangst steigt, was sich negativ auf die Leistung auswirkt. Eine andere Erklärung lautet, dass so kognitive Ressourcen gebunden werden, die dann nicht mehr für die Lösung der Aufgabe zur Verfügung stehen.

Insgesamt weisen aktuelle Arbeiten auf einen grösseren Einfluss von sozialen als von biologischen Faktoren hin. Heute wissen wir aber auch um die Plastizität des Gehirns: Nervenzellen und ganze Hirnareale sind fähig, sich je nach Aktivität und Gebrauch zu verändern. Wir können daher davon ausgehen, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren sich ständig gegenseitig beeinflussen und so unser Denken und Verhalten verändern. Dieser ungeheuren Plastizität des Gehirns haben wir auch die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen zu verdanken.


Kirsten Jordan

Die Neurowissenschaftlerin Kirsten Jordan arbeitet am Lehrstuhl für forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen. In ihrer Forschung geht sie unter anderem der Frage nach, wie biologische und soziale Faktoren das Denken geschlechtsspezifisch beeinflussen. Am 10. Dezember 2008 referierte sie am Zentrum Gender Studies der Universität Basel zum Thema «Gehirn zwischen Sex und Gender: Frauen und Männer aus neurowissenschaftlicher Perspektive». Für die WOZ hat sie ihren Vortrag schriftlich ausformuliert.