«Human Brain Project»: «Vertrauen Sie der Simulation!»

Nr. 4 –

Das menschliche Gehirn ist unglaublich komplex. Millionen wissenschaftlicher Untersuchungen erlauben nur gerade winzige Einblicke. Henry Markram von der ETH Lausanne hingegen glaubt, den Königsweg zur Entschlüsselung des Gehirns gefunden zu haben.

Manche Forschungsträume gehen in Erfüllung: 1969 betrat erstmals ein Mensch den Mond. Andere Ergebnisse lassen auf sich warten, etwa die künstliche Nachbildung des menschlichen Gehirns. Doch nun kommt Henry Markram, Neurowissenschaftler an der ETH Lausanne, und behauptet, er werde genau dies schaffen – innerhalb von zehn Jahren. Mit einem Supercomputer, der imstande ist, das menschliche Gehirn zu simulieren. Und der es erlauben werde, die Ursachen neurologischer Erkrankungen wie Autismus oder Alzheimer zu finden und eine Therapie dagegen zu entwickeln.

«Es gibt 560 klinisch diagnostizierte Hirnleistungsstörungen, keine einzige davon verstehen wir», so Markram letzten Freitag in Bern. «Die Neurowissenschaften stecken in einer Sackgasse. Ohne Computersimulationen werden wir das Gehirn nie begreifen.» Markige Worte von einem, der mit dem «Human Brain Project», das in der Schlussrunde um eine Milliarde Euro Forschungsgelder steht (vgl. «Flagship-Initiative»), einen Grossteil der internationalen Forschungsgemeinde gegen sich aufgebracht hat. Und der sich in Bern einigen der renommiertesten Neurowissenschaftler gegenübersieht – alle angereist, um auf Einladung der Akademien der Wissenschaften Schweiz mit Markram die Klingen zu kreuzen.

Unbestritten scheint zumindest das eine: Es existiert eine riesige Menge wissenschaftlicher Publikationen – sie wächst jährlich um rund 60 000 neurowissenschaftliche Papers an. Hinzu kommen über fünf Millionen Publikationen aus der Biologie und anderen Fachbereichen, die dazu beitragen, dem Funktionieren des Gehirns auf die Spur zu kommen. Davon, es jemals in seiner enormen Komplexität erfassen und daraus auch noch Rückschlüsse auf das Verhalten ziehen zu können, spricht ausser Markram allerdings niemand. «Wir produzieren lediglich Schnappschüsse», so Rainer Friedrich vom Friedrich-Miescher-Institut in Basel. Momentaufnahmen aus dem Gehirn.

Die Suche im Heuhaufen

Das menschliche Gehirn besteht aus über hundert Milliarden Nervenzellen respektive Neuronen. Ihre grundsätzliche Funktionsweise ist bekannt, hingegen weiss man wenig darüber, wie ein neuronales Netzwerk oder gar ein Verbund solcher Netzwerke funktioniert. «Jedes Neuron sieht anders aus, und sie können auf viele Arten interagieren», so Friedrich. «Deshalb muss das im konkreten Experiment studiert werden.» Was passiert zum Beispiel im Gehirn, wenn wir zwischen zwei verschiedenen Gerüchen unterscheiden?

Friedrich hat das an Zebrafischen untersucht, deren olfaktorisches System rund 20 000 Neuronen umfasst. Mithilfe bildgebender Verfahren hat er die Aktivitätsmuster einzelner Neuronen und neuronaler Netzwerke erfasst und festgestellt, dass es eine kleine Anzahl von «Umschaltneuronen» geben muss, eine Art Kippschalter, der umgelegt wird, sobald ein Geruch den andern zu überlagern beginnt. «Sie zu finden, glich der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen.» Gelungen ist ihm dies schliesslich, indem er aufgrund der Daten ein Modell entwickelt und im Computer simuliert hat.

Doch was genau sagt es aus, dass die Resultate unter den Zebrafischen so ähnlich sind? Kann man daraus schliessen, dass es so etwas wie einen fixen Schaltkreis gibt? Friedrich zweifelt – nicht nur, weil es sich lediglich um eine Momentaufnahme des Gehirns gehandelt hat, sondern auch, weil die Fische alle derselben monotonen Umgebung ausgesetzt waren. Versucht man Ähnliches bei Menschen, stellt man rasch fest, dass bereits bei ein und demselben Geruch die Hirnbilder und die beobachtbaren Interaktionen zwischen den Neuronen nicht nur viel komplexer sind, sondern sich auch stark unterscheiden.

Prinzipiell ist man sich einig: Eine Computersimulation hat nur dann eine Chance, dem Funktionieren des Gehirns auf die Schliche zu kommen, wenn sie eine experimentelle Basis hat, wenn ihr Beobachtungen aus der Natur zugrunde liegen. «Man kriegt nicht mehr aus einer Simulation raus, als man reingegeben hat», so das Credo der Wissenschaftsgemeinde.

Eine Logik, der sich einzig Henry Markram widersetzt. Er ist überzeugt, dass der umgekehrte Weg richtig ist, und will Computersimulationen benutzen, um die Funktionsprinzipien des menschlichen Gehirns Schritt für Schritt zu entschlüsseln. Als Basis dienen ihm sämtliche je publizierten experimentellen und klinischen Daten. Diese will er mit informationstechnologischen Methoden systematisch nach gemeinsamen Mustern und Organisationsprinzipien durchsuchen. Seine bisherigen Untersuchungen würden zeigen, dass so eine 94-prozentige Übereinstimmung zwischen Simulation und experimenteller Beobachtung erreicht werden könne.

«Wir brauchen einen Masterplan in den Neurowissenschaften», sagt Markram: ein vereinheitlichendes Computermodell, das es möglich mache, aus einer Vielzahl möglicher neurowissenschaftlicher Projekte jene auszuwählen, die auch tatsächlich weiterführten auf dem Pfad der Erkenntnis vom Neuron und von seinen Interaktionsprinzipien in Netzwerken und deren Funktionsmustern untereinander bis hin zum Gehirn als Gesamtheit. Die computergestützte Simulation als Werkzeug, das hilft, die «richtigen» Experimente zu machen … jene, welche die Simulation bestätigen: «Sobald Sie Vertrauen in die Simulation gewonnen haben, können Sie sich auch darauf verlassen», sagt Markram.

Die Katze im Koma

«Woher kommt dieser Glaube?» Die Frage aus dem Publikum bleibt unbeantwortet. Mitunter wird auch mit verbalen faulen Eiern geworfen: «Your model is crap!» – Was für ein Unsinn, ruft Larry Abbott, der an der Columbia-Universität in New York selbst mit computergestützten Simulationen arbeitet. Andere Forscherkollegen erinnern an die vermeintliche Pionierleistung von Dharmendra Modha aus Kalifornien, dem es 2009 gelungen war, ein Katzengehirn zu simulieren: Das Resultat sei extrem trivial gewesen – eine EEG-ähnliche Kurve, nicht viel mehr als die Hirnströme einer Katze im Koma.

Angekreidet wird Markram vor allem ein mechanistisches Verständnis des Gehirns, das zu wenig Raum für seine Plastizität lässt – die Fähigkeit einzelner Nervenzellen und ganzer Hirnareale, ihre Eigenschaften zu verändern, je nachdem, wofür sie verwendet werden. Abbott findet in der abschliessenden Diskussionsrunde ein schlagendes Beispiel: Er haut mit der Faust auf den Tisch und erklärt, dieser werde nach kurzem Vibrieren wieder in den Ursprungszustand zurückkehren. «Schlag ich Ihnen jedoch ins Gesicht» – er gestikuliert in Richtung eines Diskussionskollegen, «werden Sie nie mehr derselbe sein und sich zeitlebens an diesen Idioten erinnern, der sie damals attackiert hat, und an den Schmerz, der damit verbunden war.»

Henry Markram scheint trotz aller Anwürfe seltsam entrückt. Er spricht beharrlich und mit sanfter Stimme von der computerbasierten Simulation als «Supertrend», dem sich niemand werde entziehen können. Von einem Pfad – seinem Pfad –, den es in den Neurowissenschaften zu beschreiten gelte und auf den er jeden einlade, ihn zu begleiten. Über 500 ForscherInnen aus 22 Ländern hat er im «Blue Brain Project» bereits um sich geschart.

Zu den vielen unbeantworteten Fragen rund um das Projekt kommt so noch eine hinzu: Wer ist Henry Markram? Ein Guru? Ein Scharlatan? Ein verkanntes Genie?

Flagship-Initiative

2009 hat die Europäische Kommission die sogenannte Flagship-Initiative lanciert: Eine Milliarde Euro winkt jenen visionären Forschungsprojekten, die versprechen, Europa innerhalb von zehn Jahren an die Weltspitze der Informations- und Kommunikationstechnologie zu bringen. Die Schweiz ist an fünf der sechs Pilotprojekte beteiligt, zwei davon koordiniert sie gar (siehe WOZ Nr. 21/11 und 44/11 ).

Was sind das für Projekte? Wie verändern sie die Forschungslandschaft? Wer wird 2012 den Zuschlag erhalten? Die WOZ setzt sich in loser Folge mit der Flagship-Initiative auseinander.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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