Gesundheit: Von der Wiege bis zur Bahre

Nr. 11 –

Es ist die am längsten laufende Untersuchung über die menschliche Entwicklung: Die britische Kohortenstudie von 1946 liefert Erkenntnisse darüber, wie Biologie und Lebensumstände Hirngesundheit und Demenzrisiko beeinflussen.

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historisches Foto: eine Mutter füttert zwei Kinder auf einem einfachen Bett, in einer Truhe schläft ein Kleinkind
Britische Familie 1946: In der Nachkriegszeit gerät die Frage in den Fokus, welche Gründe die Menschen davon abhalten, Kinder zu bekommen. Foto: Getty

Wie kann man Demenz vorbeugen? Diese Frage treibt viele um. Die etwas lapidare Antwort, die unter Fachleuten kursiert, lautet: Wähle deine Eltern sorgfältig aus und stirb jung. Der Ratschlag drückt aus, dass es eigentlich nur auf zwei Dinge ankommt: unsere Gene und das, was uns im Leben widerfährt.

Gene lassen sich nicht verändern, die Lebensumstände schon. Doch welchen Einfluss haben diese auf die Hirnalterung? Lässt sich die Aussicht auf ein gesundes und unabhängiges Leben im Alter verändern? Antworten auf diese Fragen liefert ein bemerkenswertes Experiment, das in England kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann und unter der Bezeichnung «1946 British Birth Cohort» bis heute überraschende Erkenntnisse liefert.

Kohortenstudien untersuchen Gruppen von Menschen mit einem gemeinsamen Merkmal – zum Beispiel dem Geburtsjahr – über eine bestimmte Zeit hinweg. Sie sind für die Gesundheitsforschung wertvoll, weil sie helfen können, die Beziehung zwischen Umweltfaktoren und einer bestimmten Krankheit besser zu verstehen. Insbesondere können die Daten auch mit den sozioökonomischen Lebensbedingungen verknüpft werden und so Einblicke in den Einfluss sozialer Faktoren auf die Gesundheit geben.

Die Entdeckung von Klasse

Anstoss für die British Birth Cohort gaben die damals seit Jahrzehnten sinkende Geburtenrate sowie die regionalen Unterschiede in der Kindersterblichkeit. Der politische Druck, die Zahl der Arbeitskräfte in der Nachkriegszeit zu erhöhen, war gross, und die Suche nach den Gründen, die Menschen davon abhielten, Kinder zu bekommen, dringend. 1946 gab die Regierung eine Studie in Auftrag, um Informationen über jedes Baby zu sammeln, das in einer Woche Anfang März in England, Schottland und Wales geboren wurde.

Als die Kinder acht Wochen alt waren, fand die erste Hausvisite statt. Von insgesamt 13 687 Babys und ihren Familien konnten die Gesundheitsbeauftragten Daten erheben. Diese zeigten die hohen Kosten für die medizinische Versorgung von Mutter und Kind sowie für Kleider und Ausstattung von Babys, was insbesondere weniger wohlhabende Familien belastete, und verdeutlichten die grossen sozialen Ungleichheiten in Bezug auf Überleben, Wachstum und Gesundheit der Kinder. Die Unterschiede waren frappierend. So brachten Mütter aus ärmeren Verhältnissen eher Babys mit niedrigerem Geburtsgewicht zur Welt, und ihre Babys hatten eine geringere Überlebenschance.

Eigentlich wäre die Studie damit zu Ende gewesen. «Die Befunde waren aber so interessant, dass man beschloss, sie weiterzuführen», sagt Marcus Richards vom University College London, der seit 1996 am Projekt beteiligt ist. Um Kosten zu sparen und die Untersuchung auf eine überschaubare Grösse zu reduzieren, wählte man für die Folgestudien 5362 Kinder aus.

Dabei änderten sich die Fragestellungen im Laufe der Jahre immer wieder. Standen zunächst Wachstum und frühkindliche Entwicklung im Vordergrund, lag der Schwerpunkt während der Schulzeit auf den kognitiven Fähigkeiten und dem schulischen Umfeld. Eine der wichtigsten Erkenntnisse war, dass Kinder aus Arbeiter:innenfamilien seltener aufs Gymnasium gingen als Kinder aus der Mittelschicht, selbst wenn sie bei kognitiven Tests gute Resultate erzielten. Sie besuchten auch seltener eine weiterführende Schule. Diese «Talentverschwendung», wie sie genannt wurde, führte zu bildungspolitischen Massnahmen, um etwa die Qualität der Bildung zu verbessern oder das Schulabgangsalter anzuheben.

Bei der Datenerhebung im Alter von 26 Jahren war dann der Zusammenhang zwischen Kognition, Bildungsniveau und Beruf wichtig. Danach gab es eine längere Pause, und die Studie wurde erst wieder aufgenommen, als die Teilnehmer:innen 36 Jahre alt waren. «Zu diesem Zeitpunkt verlagerte sich der Fokus auf die Gesundheit», sagt Richards. «Das ist bis heute so geblieben.»

Bildung nützt allen

Inzwischen stehen die noch lebenden Teilnehmer:innen der 1946 British Birth Cohort im 80. Lebensjahr. An bis zu 27 Datenerhebungen haben sie bisher teilgenommen. «Sie sind wohl die bestuntersuchten Menschen auf der Welt», sagt Richards, «ein ganzes Leben lang sind sie beobachtet worden, von der Geburt bis zum heutigen Tag.» Die kontinuierliche Datenerhebung liefert wertvolle Informationen darüber, wie Biologie, soziale Umstände, Bildung und Lebensstil unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden bis ins hohe Alter beeinflussen. Und da das Alter der grösste Risikofaktor für Demenz ist, bietet diese Gruppe von Gleichaltrigen auch eine einzigartige Gelegenheit dazu, herauszufinden, wie sich diese Faktoren auf die Hirnalterung und das Demenzrisiko auswirken.

Genau das ist das Ziel der seit 2015 laufenden Unterstudie «Insight 46», für die 502 Personen nach dem Zufallsprinzip ausgesucht wurden. Dreimal – im Alter von 69, 73 und 77 Jahren – reisen sie für jeweils zwei Tage nach London und nehmen an umfassenden Untersuchungen teil, die neben den üblichen Gesundheitschecks auch neuropsychologische Tests, DNA-Proben und Hirnscans umfassen.

Auch wenn die letzte Phase des Projekts noch nicht abgeschlossen ist, so liegen doch schon Resultate vor. Zum Beispiel, dass gewisse Aspekte der Kognition ein Leben lang stabil bleiben. Wer im Alter von acht Jahren bessere kognitive Leistungen erzielte, tut dies auch noch sechzig Jahre später. Darüber hinaus steht Bildung in einem positiven Zusammenhang mit der späteren kognitiven Funktion, selbst wenn man das Niveau der Kognition im Kindesalter berücksichtigt. Je besser ausgebildet, umso kognitiv leistungsfähiger ist man im Alter. Mit anderen Worten: «Es ist nicht nur so, dass kluge Kinder in der Schule gut abschneiden; die Schulbildung verschafft ihnen darüber hinaus einen kognitiven Vorteil», sagt Richards. «Das ist eine wichtige Botschaft, denn manche Leute haben immer wieder zu argumentieren versucht, dass der Bildungsstand nichts anderes als ein Marker für den Intelligenzquotienten sei.»

Die Forscher:innen stellten zudem fest, dass die Erwachsenenbildung, ungeachtet der kognitiven Fähigkeiten im Alter von acht Jahren, einen additiven Effekt auf die Hirngesundheit im Alter hat. «Es scheint also, dass jene Personen, die ins Bildungssystem zurückkehren, gewisse Nachteile wettmachen können», sagt Richards. Das deckt sich mit anderen Studien: Wer sein Gehirn ein Leben lang fordert, sei es durch Weiterbildungen oder eine anspruchsvolle Arbeit, kann den kognitiven Abbau im Alter womöglich verlangsamen.

Erstmals in der Geschichte der British Birth Cohort unterzogen sich die Teilnehmer:innen bildgebenden Untersuchungen, um nach frühen Anzeichen von Demenz im Gehirn zu suchen. Die für Alzheimer typischen Hirnveränderungen machen sich nämlich bis zu zwanzig Jahre vor Auftreten von Symptomen bemerkbar. «69 Jahre sind für diese Art von Untersuchung fast das perfekte Alter», sagt Studienleiter Jonathan Schott, «weil praktisch noch niemand an Demenz erkrankt ist, einige aber bereits Alzheimerpathologien im Gehirn haben.»

Tatsächlich entdeckte man bei etwa jeder fünften Person im Alter von 70 Jahren die für Alzheimer typischen Proteinablagerungen. Obschon die Betroffenen subjektiv keine Beschwerden hatten, scheinen die Ablagerungen die Kognition doch subtil zu beeinträchtigen. Je mehr Ablagerungen nachgewiesen wurden, desto schlechter waren Gedächtnis und Reaktionsgeschwindigkeit.

Kohortenstudien sind deshalb so wertvoll, weil die Daten sich immer wieder neu befragen lassen, etwa im Hinblick auf die Rolle von Risikofaktoren wie Bluthochdruck. Dass dieser das Demenzrisiko erhöht, ist schon lange bekannt. Bisher ging man davon aus, dass der Blutdruck vor allem im mittleren und höheren Alter entscheidend ist. Doch die Daten zeigen: Schon in jungen Jahren droht Ungemach. Diejenigen, deren Blutdruck im Alter von 36 bis 43 Jahren schnell anstieg, hatten im Alter von 70 Jahren ein kleineres Hirnvolumen, was als Demenzrisiko gilt. «Das deutet darauf hin, dass wir den Blutdruck über den ganzen Lebensverlauf hinweg berücksichtigen sollten, auch schon im frühen Erwachsenenalter», sagt Marcus Richards.

Trotz der umfangreichen Daten hat die Kohortenstudie auch ihre Grenzen. Sie erfasste nur Kinder weisser verheirateter Mütter und schloss ausserehelich geborene Kinder von vornherein aus. Die Fragestellungen waren zudem ein Spiegelbild ihrer jeweiligen Zeit. So schwand in den Nachkriegsjahren das Interesse an den Zusammenhängen zwischen den frühen Jahren und der späteren Gesundheit und erlebte erst später eine Renaissance. Informationen, die aus heutiger Sicht von Interesse wären, gerade aus sozialpolitischer Perspektive, wurden seinerzeit nicht erhoben. Blutdruck oder mentale Gesundheit im Kindes- und Jugendalter etwa waren noch kein Thema. Auch das Interesse an der weiblichen Gesundheit erwachte erst in den achtziger Jahren.

Menopause und Kognition

Als Diana Kuh 1987 zur Studie stiess, begannen sich erste Teilnehmerinnen über Wechseljahresbeschwerden zu äussern. «Damals gab es erst wenige Langzeitstudien über die Menopause», sagt sie. Kuh, die die British Birth Cohort zwischen 2007 und 2017 leitete, zeigte, dass höhere kognitive Fähigkeiten im Kindesalter mit einem späteren Beginn der Wechseljahre verbunden waren, während ungünstige sozioökonomische Bedingungen in der Kindheit mit einem früheren Einsetzen korrelierten. Jahrzehnte später untersuchte sie, wie sich das Alter der Menopause auf die Hirnalterung auswirkt. «Je später die Menopause eintritt, umso besser ist die Kognition im Alter», sagt Kuh.

Inzwischen gibt es eine Reihe neuerer Kohortenstudien. Und die UK Biobank, die seit 2006 eine beispiellose Menge an biologischen und medizinischen Daten von einer halben Million Menschen im Alter zwischen 40 und 69 Jahren gesammelt hat, ermöglicht weit detailliertere Analysen. Doch keine Studie kann kontinuierliche Daten über einen so langen Zeitraum vorweisen wie die 1946 British Birth Cohort, buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre. Und keine zeigt so eindrücklich, dass die sozioökonomischen Bedingungen, unter denen Menschen aufwachsen, die Gesundheit im Erwachsenenalter bis ins hohe Alter entscheidend beeinflussen.

«Es ist so zentral, dass sich die Gesellschaft um die Kinder kümmert», fasst es Diana Kuh zusammen. «Man kann nicht oft genug betonen, wie wichtig es ist, jeder neuen Generation den besten Start ins Leben zu ermöglichen.»