Rassismus und Fremdenfeindlichkeit: «Anarchie überzieht uns»

Nr. 6 –

Die Schweiz hat sich als Nation erschaffen, indem sie Minderheiten ausgegrenzt hat. Das prägt unser nationales Selbstverständnis bis heute. Wie ist dieser Mechanismus zu brechen?


Ich weiss, es ist banal, auf die Barbaren zurückzugreifen, um das Problem Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Ausgrenzung anzugehen. Dennoch ist diese alte Geschichte aufschlussreich, weil sie zeigt, wie unsere westliche Kultur bei der Suche nach ihrem Selbstverständnis schon in ihren Anfängen der Logik der Ausgrenzung verfiel.

In der Tat wurde der Begriff Barbar im alten Griechenland anfänglich nur zur Bezeichnung all jener Menschen eingesetzt, die nicht Griechisch sprachen. Sehr rasch fand jedoch insofern eine wertende Aufladung statt, als Barbar auch in abwertendem Sinne das kulturelle Gefälle in Bezug auf die griechische Zivilisation bezeichnete. Seither haben sich alle Zivilisationen, die sich gegenüber den andern, den Fremden, zu situieren versuchten, dieser Ausgrenzungsstrategie bedient.

Dieses Denkmuster ist auch den SchweizerInnen nicht fremd. Der Basler Historiker Jacob Burckhardt, viel gepriesen für seine Verteidigung des Humanismus, spricht vom «Königsrecht der Kultur zur Eroberung und Knechtung der Barbarei, welche nun blutige innere Kämpfe und scheussliche Gebräuche aufgeben und sich den allgemeinen sittlichen Normen des Kulturstaates fügen» müsse. Und Gonzague de Reynold, ein Freiburger Aristokrat und enger Berater von drei katholisch-konservativen Bundesräten, schrieb 1909: «Aber wir werden zudem auch noch von Barbaren überfallen ... Diese Slaven, diese Griechen, diese Südamerikaner, diese Orientalen sind alles grosse, unzivilisierte Kinder, die mit geschmacklosem Tand und grossem Luxus, mit nebulösen Philosophien, mit subversiven Ideen und mit moralischen und physischen Krankheiten zu uns kommen. Wenn wir nur stark genug wären, ihnen unsere Kultur aufzuzwingen! Aber nein: Sie sind es, die bei uns Propaganda machen, und was für eine und mit welchen Mitteln! Und die Anarchie überzieht unsere Städte. Das ‹Asylrecht› hatte seine Berechtigung zu einer Epoche, als man für die wesentlichsten Freiheitsrechte kämpfte - es ist heute zu einer Gefahr geworden.» Man könnte diesen kleinen Text geradezu als Magna Charta jener seit einem Jahrhundert immer wieder aufkommenden fremdenfeindlichen, rassistischen und rechtsradikalen Bewegungen der Schweiz bezeichnen.

Juden, Zigeuner, Arbeiterinnen

Die wohl folgenreichste Instrumentalisierung von Ausgrenzung und Rassismus geschah - und geschieht heute leider wieder - im Namen der Nationalstaaten. Dabei ist wichtig, klarzustellen: Nation und Volk sind Fiktionen, mit denen sich in der Moderne Macht und Herrschaft organisierten. Nehmen wir uns zuerst das Problem «Volk» vor. Bei der konkreten Schaffung der Nationalstaaten ist es praktisch nie gelungen, das Volk einfach als die Gesamtheit der EinwohnerInnen eines Staatsgebietes zu organisieren und zu integrieren. Es fanden sich immer Minderheiten, die, aus welchen Gründen auch immer, formell oder informell ausgegrenzt und diskriminiert wurden. In der Schweiz waren dies 1848 die Juden und Jüdinnen. Die Bundesverfassung anerkannte bekanntlich nur Bürger christlicher Konfessionen. Später kamen die ZigeunerInnen faktisch in eine ähnliche Lage.

Ähnliche Auswirkungen ergaben sich beim Aufbau der Nation. Die Nation rechnet von Anfang an mit Feinden. Feinde sind dabei nicht nur die AusländerInnen und die Fremden, sondern eben auch jene Bevölkerungsteile, die sich angeblich nicht loyal zum Staat verhalten. So diskriminierte man die sozialistische Arbeiterschaft jahrzehntelang als vaterlandslose Gesellen. Und wie wenn dies nicht genügt hätte, wurden die Sozialisten kriminalisiert, indem man sie mit den anarchistischen Attentaten in Verbindung brachte. Terrorismus war schon damals ein beliebtes Schlagwort zur Mobilisierung der Masse mit dem Ziel, Zustimmung zur vorherrschenden Politik und Loyalität gegenüber dem Staat zu sichern.

«Ein gesondertes Volk Gottes»

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) hat in einem 1908 unter dem Titel «Der Streit» veröffentlichten Aufsatz einige interessante Überlegungen zur Frage von Ausgrenzung, Aggression und Konflikten vorgetragen. Folgende Gedanken sind dabei zentral: Erstens hat Simmel festgehalten, dass der Zusammenhalt einer Gruppe, das heisst der Aufbau gemeinsamer innerer Werte und Interessen, ein sehr schwieriger Prozess ist. Dasselbe Resultat wird leichter erreicht, wenn die Gruppe auf ein Feindbild hin gesteuert wird. Zweitens: Spannungen und Konflikte innerhalb einer Gruppe entladen sich oft nicht in Bezug auf die Ursache, sondern als Ersatzhandlung gegenüber einem sogenannten Sündenbock.

Solche Mechanismen findet man allenthalben in der Geschichte. Im Kampf der Freisinnigen für den Bundesstaat erwies sich beispielsweise die «Jesuitenhatz» als eine der erfolgreichsten Strategien zur Mobilisation der eigenen Anhängerschaft. «Hussa! Hussa! Die Hatz geht los!», hat selbst Gottfried Keller für ein massenhaft verteiltes antijesuitisches Flugblatt gedichtet. Und bei der Abstimmung zur neuen Bundesverfassung von 1874 hatte ein Aargauer Fabrikant eine lebensgrosse Jesuitenpuppe - an einem Galgen aufgehängt - von seinen Arbeitern durch die Stadt führen und verbrennen lassen.

In den Jahren der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kam es zur ersten Welle rechtsradikaler Bewegungen, bei denen Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisozialismus, Antisemitismus, Antifeminismus und Rassismus eine zentrale Rolle spielten. Der Erfolg solcher radikaler Bewegungen liegt nicht zuletzt in einer engen Wahlverwandtschaft zur vorherrschenden politischen Kultur. Um 1900 setzte sich auch in den gemässigten bürgerlichen Oberschichten ein nationales Selbstverständnis durch, das Ausgrenzungen oder Fremdenfeindlichkeit beförderte. So schrieb etwa der freisinnige Staatsrechtler und Publizist Carl Hilty 1897: «Die schweizerische Eidgenossenschaft ist nach unserer Auffassung ein von Gott gewolltes und mit einem ganz besonderen Berufe ausgestattetes staatliches Gebilde, ein gesondertes Volk Gottes.» Ein Jahrhundert später hat Christoph Blocher eine ähnliche Wahnvorstellung vorgetragen, als er sagte: «Es ist nicht wichtig, ob ich an den lieben Gott glaube. Wichtig ist nur, ob der liebe Gott an mich glaubt.»

Man kann die Strategie der Ausgrenzung in ihrer historischen Entwicklung bis zum heutigen Tage weiterverfolgen. Die Fichierung der politischen Opposition beispielsweise begann schon vor dem Ersten Weltkrieg. Der Arbeitgeberverband der schweizerischen Maschinen- und Metallindustriellen verfügte damals über eine Kartei mit 70 000 Eintragungen, die es möglich machte, gewerkschaftlich aktive Arbeiter zu isolieren und ihnen die Arbeitsmöglichkeit im ganzen Lande zu sperren. Die dann nach dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen eines hysterischen Antikommunismus angefertigten Fichen der Bundespolizei führten zu ähnlichen Resultaten.

Antisemitismus nicht legitimieren

Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit, das uns heute in starkem Masse beschäftigt, ist die Fremdenfeindlichkeit. Sie hatte 1970 zu einer heftig umstrittenen Abstimmung geführt, an der 46 Prozent der Stimmenden die fremdenfeindliche Initiative von James Schwarzenbach befürworteten. Von der SVP übernommen, bestimmt dieses Programm nun seit über dreissig Jahren die politische Agenda. Wie um 1900 verbindet sich diese Strategie mit einem Nationalismus, der sich kaum gewandelt hat. Ausserdem wird in gleichem Sinne wie vor hundert Jahren das Ausland als Barbarei verketzert. So hatte Christoph Blocher beispielsweise 1992 die Europäische Union mit einem Schwall von abwertenden Assoziationen zu stigmatisieren versucht. Unter anderem, indem er sagte: «Anpassung ist das Gebot der Stunde. Man muss sich der gesteigerten Kriminalität anpassen. Man muss sich der misslichen Asylpolitik anpassen. Dann muss sich die Schweiz vor allem Europa anpassen.»

Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Ausgrenzung sind tief im kulturellen Bewusstsein der heutigen Gesellschaft eingegraben. Das heisst nicht, dass es sich um quasi anthropologische Konstanten handelt. Kultur wird vom Menschen gemacht und ist veränderbar. Deshalb braucht es einen permanenten kritischen Einsatz in den öffentlichen Debatten, wobei es nicht nur darum geht, sich den Exzessen der Rechtsradikalen und NationalistInnen entgegenzustellen. Ebenso wichtig ist die Kritik des vorherrschenden kulturellen Verständnisses der gesellschaftlichen und politischen Eliten. Man darf einen latenten, sogenannt salonfähigen Antisemitismus oder andere Praktiken der Ausgrenzung nicht einfach damit entschuldigen, dass dies in einer bestimmten Epoche zum Gemeingut gehört habe. Dass General Henri Guisan offenbar auch antisemitische Vorurteile pflegte, versuchte man zu verniedlichen, indem man sie als allgemeine, damals weit verbreitete Zeiterscheinung banalisierte. Damit legitimierte man jedoch eine nicht akzeptierbare rassistische Haltung im Nachhinein. Und da es sich bei General Guisan um eine geradezu mythische nationale Leitfigur handelte, machte man aus dem Antisemitismus eine beinahe salonfähige Geisteshaltung.

Religion als Minenfeld

Nur mit einer wachen Kritik dieser sogenannt «gewöhnlichen» Haltungen in Bezug auf Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus können die kulturellen Perspektiven einer Gesellschaft überprüft und, falls notwenig, verändert werden. Denn gerade mit einer zwiespältigen Haltung der selbst ernannten Meinungsmacher wird jene Grauzone geschaffen, in der sich die fremdenfeindlichen und rassistischen Gruppen erst richtig entfalten können.

Der Kampf gegen die Praktiken von Ausgrenzung und Rassismus hat aber auch seine Tücken. Wie verhält man sich, wenn eine gesamtgesellschaftlich diskriminierte Gruppe selber solche Ausgrenzungen, und dies vielleicht in radikaler Weise, praktiziert? Vor diesem Problem stehen wir beispielsweise bei der Frage der Minarette. Kann man sich für diese Sache einsetzen, wenn die betreffende Gemeinschaft selbst schwer tolerierbare Diskriminierungen, beispielsweise den Frauen gegenüber, pflegt?

Wir befinden uns hier im Minenfeld der Religionen und der Glaubensfreiheit. Persönlich bin ich der Ansicht - und meine historischen Studien haben mich diesbezüglich bestätigt - dass man Religionen insgesamt eher mit Skepsis begegnen sollte. Betrachtet man die gesellschaftliche und politische Praxis der Religionen in der Geschichte, so stellt man fest, dass deren im Glauben verwurzelter Wahrheitsanspruch nicht selten zu aggressiven Ausgrenzungen der sogenannt Nichtgläubigen, zu blutigen Kriegen und Massakern geführt hat. Und Amerikas Gesellschaft, die heute mit einer Kirche auf rund 900 EinwohnerInnen die grösste Dichte an Religionsstätten hat, brilliert nicht gerade mit einer konflikt- und gewaltfreien Gesellschaft. Auch wenn Religionen zum innersten Gehalt von Kulturen zählen, kann man diese nicht ausnahmslos als humane Errungenschaft der Gesellschaft akzeptieren.

Allerdings sollte man in dieser heiklen Situation nicht mit Aggression und Ausgrenzung vorgehen, sondern versuchen, mit einem kritischen Dialog den nicht akzeptierbaren Haltungen entgegenzutreten. Unser Problem ist, dass wir selbst immer wieder, ohne dass wir es wirklich realisieren, der Barbarei verfallen. So wie die Griechen die Barbaren zu Sklaven machten, so unterwirft heute die kapitalistische Weltordnung die Erwerbstätigen dem Profitstreben. Dabei werden Arbeitslosigkeit und Verarmung - und damit auch gnadenlose gesellschaftliche Ausgrenzungen - bewusst in Kauf genommen.


Hans Ulrich Jost

Fremdenfeindlichkeit ist wieder einmal aktuell: Die erweiterte Personenfreizügigkeit wird mit rassistischen Argumenten bekämpft, und im März wird das Parlament über die Minarettverbotsinitiative debattieren. Der Text auf dieser Seite basiert auf einem Referat, das der Lausanner Historiker Hans Ulrich Jost im November 2008 an einer Tagung von Amnesty International und den Demokratischen JuristInnen gehalten hat.

Mehr historische Hintergrundinformationen zum Thema sind zu finden in:


Hans Ulrich Jost: «Die reaktionäre Avantgarde. Die Geburt der neuen Rechten in der Schweiz um 1900». Chronos Verlag. Zürich 1992. 176 Seiten. 36 Franken.