Hans Ulrich Jost: «Der Freisinn wird Kreide fressen»

Nr. 43 –

Der Historiker Hans Ulrich Jost vermutet, dass im seit letzten Sonntag gestärkten bürgerlichen Lager Widersprüche aufbrechen werden. Sorgen bereitet dem ehemaligen Professor, dass sich in ganz Europa eine Rückkehr des Rechtsnationalismus abzeichnet.

Hans Ulrich Jost

WOZ: Herr Jost, im Nationalrat kommen SVP und FDP zusammen mit rechten Kleinparten neu auf eine Mehrheit. Was könnten die Folgen sein?
Hans Ulrich Jost: Ich ärgere mich über Kommentare, die vorschnell eine solche Mehrheit ausrufen. Die SVP hat mit knapp dreissig Prozent noch keine Mehrheit. Sicher werden sich die rechtsbürgerlichen Parteien gegen die Sozialwerke und für den Finanzplatz verbünden, aber bereits in der Europapolitik warten die Widersprüche. Halten wir uns deshalb nicht mit Zahlenmystik auf, wir müssen die historischen Prozesse verstehen, die zum Resultat führten.

Womit beginnt der historische Prozess?
Mit der Wirtschaftskrise zu Beginn der siebziger Jahre. Damals erfolgte die Anbindung von Wirtschaft und Gesellschaft an die Finanzmärkte, die man gewöhnlich unter dem Schlagwort des Neoliberalismus versteht. In der Schweiz geschah dies strukturell mit der Einführung der Pensionskassen, die seither alle Beschäftigten bei der Altersvorsorge an die Börse bindet, und ideologisch mit dem Wahlslogan der FDP von 1979: «Mehr Freiheit, weniger Staat». Die SVP hat diese Kernaussage übernommen und um die Fremdenfeindlichkeit erweitert.

Damals war die SVP noch ein Randphänomen. Was führte zu ihrem Erfolg?
Die SVP hatte zwei Facetten: Zum einen pflegte sie eine mystisch-religiöse Heimatfolklore, mit Tell, Morgarten und diesem ganzen Klimbim. Zum anderen hatte die Zürcher Sektion mit sehr viel Geld einen professionellen Parteiapparat aufgebaut. Die SVP verband beides miteinander. Sie ist heute keine Partei mehr, sondern eine Wahlmaschine mit Zentralkomitee. Hochmodern in den Werbemitteln, zutiefst reaktionär im Inhalt. Sie strebt eine plebiszitäre Diktatur an, in der nur der sogenannte Volkswille zählt. Sie will keine Demokratie mehr, die Minderheiten schützt.

Die Parteimitglieder dürften bestreiten, bloss Teil einer Maschinerie zu sein.
Die Inhalte werden selten an Parteitagen ausgehandelt. Vielmehr identifiziert die Parteispitze unter Marktbeobachtung Wählersegmente, die sie mit Slogans bedient. Für die älteren Menschen heisst es beispielsweise, die SVP sorge für Sicherheit. Wobei die Partei einen sehr eingeschränkten Begriff von Sicherheit in die Köpfe hämmert. Die AHV als wichtigste Versicherung im Alter will sie bekanntlich abbauen. Das Ausmass der Propaganda zeigt sich daran, dass kein Tag vergeht, an dem wir nicht einer Werbung dieser Partei begegnen. Und die Medien spielen die Show noch immer mit.

Dieses Jahr haben allerdings zahlreiche Medien den inhaltsleeren Wahlkampf kritisiert.
Um dann doch wieder live vom SVP-Fest im Zürcher Hauptbahnhof zu berichten. Wahlkämpfe waren schon immer inhaltlich mager. Die Medien müssten viel stärker die Absichten hinter den Slogans analysieren. Auch wenn sie dabei die Formeln stets auch reproduzieren. Es braucht einfach eine sichtbare Distanz.

Wie entwickelte sich im Vergleich zur SVP der Freisinn in den letzten Jahren?
Wie sich im Grounding der Swissair zeigte, war der Freisinn im Innern korrumpiert. Seither hat er nicht zu einem neuen Selbstbewusstsein gefunden, der jetzige Präsident pflegt mit der SVP einen Schmusekurs. So erhält diese das Gefühl, ihre Forderungen durchsetzen zu können. Und Philipp Müller will ihr ja auch bereits einen zweiten Bundesrat zugestehen, Hauptsache, der vorgeschlagene Kandidat wird sich kollegial verhalten. Doch es gibt nicht nur eine einseitige Zukunft mit der SVP. Die jetzigen Machtverhältnisse könnten im Gegenteil die Widersprüche im bürgerlichen Lager offen aufbrechen lassen.

Liegen die Widersprüche nur in der Europapolitik?
Nein, ich denke auch an grundsätzliche Fragen wie die Initiative, die einen Austritt aus der Menschenrechtskonvention bewirken soll. Wenn der Freisinn den Rechtsstaat und die Demokratie verteidigen will, wird er noch Kreide fressen und sich mit der Linken verbünden müssen. Dazu ein historisches Beispiel aus der Zwischenkriegszeit: Damals herrschte im Parlament eine ähnliche Konstellation wie heute, die Freisinnigen, die Katholisch-Konservativen und die Liberalen bildeten eine Mehrheit. Die Konservativen wurden übermütig und meinten, zusammen mit den Frontisten ihre Vorstellung eines autoritären Staates in der Schweiz durchsetzen zu können. 1935 kam es zur Volksabstimmung über eine Totalrevision der Bundesverfassung, die einen autoritären Ständestaat bringen sollte. Um diesen zu verhindern, verbündeten sich die Freisinnigen mit den Linken, die stets offensiv gegen die faschistische Gefahr gekämpft hatten.

Droht in Europa heute wieder ein Rückfall in nationalistisches Denken?
Wenn ich auf den ganzen Kontinent blicke, so bin ich sehr besorgt. Und nicht nur ich, sondern viele meiner Historikerkollegen. Hätte sich in der Wirtschaftskrise in Griechenland nicht die Linke, sondern die extreme Rechte durchgesetzt, dann hätte diese wohl getan, was sie in der Geschichte immer tat: die inneren Widersprüche in einem militärischen Konflikt gegen die Türkei nach aussen tragen. Auch zwischen Ungarn und Deutschland kommt es derzeit zu Spannungen. Die Gefahr, dass die EU scheitert und eine neue Ordnung von autoritären Nationalstaaten entsteht, gilt es zumindest zu bedenken. So gesehen, ist die SVP auch keine Schweizer Eigenleistung, sondern paradoxerweise ein Produkt der Entwicklungen im Ausland.

Wie kann die Linke auf diese Gefahr reagieren?
Die Linke steht vor der ewigen Frage, ob sie ebenfalls auf die populistische Verführungsstrategie setzen soll oder ob sie in einer postdemokratischen Gesellschaft, die medial auf das Spektakel gemünzt ist, weiterhin an die Vernunft glaubt. Ich weiss keine Antwort darauf. Es kann sein, dass die Linke charismatische Figuren braucht wie in der Zwischenkriegszeit Robert Grimm oder wie derzeit in Griechenland Alexis Tsipras. Doch im Zweifel würde ich doch auf die nüchterne Analyse und eine klare Haltung setzen, auch wenn es etwas heroisch klingt: Am besten kommt man mit der Wahrheit über die Runden.

In Ihrem historischen Werk «Die reaktionäre Avantgarde» haben Sie die Geburt der Neuen Rechten in der Schweiz um 1900 beschrieben. Sie war antidemokratisch und rassistisch – und bediente sich gleichzeitig moderner Ausdrucksmittel. Können wir bei der SVP und ihren zahlreichen Publizisten ebenfalls von einer «reaktionären Avantgarde» sprechen?
Parteipolitisch war die Konstellation damals eine andere: Die «reaktionäre Avantgarde» stammte aus dem katholisch-konservativen Lager und formierte sich in einer Krise des Liberalismus. In der Bevorzugung moderner Ausdrucksmittel lassen sich aber durchaus Parallelen ziehen: Der Schriftsteller Gonzague de Reynold beispielsweise verachtete die Demokratie und liebte gleichzeitig die Gemälde von Ferdinand Hodler, die das Bürgertum damals noch ablehnte.

Die SVP bezeichnet sich neuerdings auch als Intellektuellenpartei, und ihre Vertreter werden nicht müde, sich gegenseitig als brillante Denker zu loben.
Ob sich die SVP tatsächlich für die Reflexion interessiert, möchte ich angesichts ihrer Angriffe auf die Geisteswissenschaften oder das Bundesamt für Statistik bezweifeln. Es gibt halt immer Köpfe, die sich kaufen lassen, weil sie persönliche Ambitionen hegen, wie Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt. Roger Köppel wiederum ist ein «flambeur» mit einem übergrossen Ego. Nachdem er durch die deutschen Talkshows getrampt ist, muss er jetzt offenbar auch noch die Show im Parlament haben.

Hans Ulrich Jost

Der emeritierter Geschichtsprofessor Hans Ulrich Jost (75) lebt in Lausanne. Er studierte in Zürich und Bern Geschichte und Soziologie, von 1981 bis 2005 lehrte er an der Universität Lausanne Neuere Allgemeine und Schweizer Geschichte. Sein Buch «Die reaktionäre Avantgarde» ist im Chronos-Verlag erhältlich.